"What does music mean?" - Die Frage nach "programmatisch"/"absolut"

  • "What does music mean?" - Die Frage nach "programmatisch"/"absolut"

    Dann möchte ich meinen Einstand im Capriccio-Forum mal mit einem einfachen Thema begehen: Was bedeutet Musik? Ich bin mir nicht sicher, wie weitgehend diese generelle Frage hier bereits diskutiert wurde. Ich hoffe, dass der Thread noch einen gewissen Neuheitswert besitzt.

    "What does music mean?" - Diese Frage stellte Leonard Bernstein 1958 (?) in der Carnegie Hall Kindern und Jugendlichen in einem seiner "Young People's Concerts". (nachzugucken auf youtube, URL: "

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    "). Wie er selbst sagt, "a hard question". Umso verdienstvoller, dass er dieses bemerkenswerte Thema jungen Leuten näherbringt.
    Um es etwas abzukürzen: Lenny kommt zu dem Schluss, dass Musik immer nur eine musikalische Bedeutung hat. Alles andere - Titel, Programme... - sind ihr hinzugefügt.
    Ich würde diese These gerne ausweiten, und Musik von allem emanzipieren: Von den Umständen, unter denen das Stück entsanden ist, von der Biographie des Komponisten, vom Komponisten selbst, vom Interpreten usw. Das ist meiner Meinung nach alles belibig und austauschbar und ändert nichts an der Musik selbst.
    Zunächst würde ich jedoch die Diskussion auf die Frage nach dem Sinn von der Unterteilung in Programm- und absolute Musik beschränken, welche ich aus Bernsteins Erkenntnis ableite. Ich möchte nicht missverstanden werden; ich kritisiere keinesfalls eine solche Unterteilung prinzipiell, nur möchte ich hinterfragen, welche Schlüsse man daraus zieht. Worin liegt z.B. der Unterschied zwischen einer absoluten Sinfonie, einer Programmsinfonie und einer sinfonischen Dichtung, außer eventuell in der formalen Satzstruktur? Dass die Grenze verwäscht, ist ein weiterer Hinweis auf das Problem. Besitzt programmatische Musik einen anderen Wert als absolute? Sicherlich nicht! Jedes gute Werk muss musikalisch so eigenständig sein, dass es sich selbst rechtfertigt - auf musikalischer Ebene und weder durch irgendwelche Geschichtchen noch einen intellektuellen Überbau!

    Ich bin gespannt, ob eine Diskussion entsteht und in welche Richtung sie treibt :)

  • ein schönes Thema - hatten wir so ähnlich auch schon mehrfach...bin nur grad zu faul zum Suchen...

    Für mich jedenfalls eines meiner Lieblingsthemen...

    Jedes gute Werk muss musikalisch so eigenständig sein, dass es sich selbst rechtfertigt - auf musikalischer Ebene und weder durch irgendwelche Geschichtchen noch einen intellektuellen Überbau!

    ich behaupte mal, daß Du diesen selbstverständlichen Eigenwert des musikalischen nicht formulieren könntest ohne die Ästhetik der Klassik.
    Für mich ist das jedenfalls eine Errungenschaft, die so ungefähr parallel mit Aufklärung und dergleichen entstanden ist: die Emanzipation der Instrumentalmusik von Tanz, Charakterstück und Virtuosenpiece, die Entwicklung der Sonatenform und anderer Formen, in denen Musik in gewisser Weise selbstbezüglich (aber nicht ausdruckslos, und da wird es dialektisch) einen eigenen Wert bekommt - oder soll man sagen. eine eigene Sprache wird, die zum Verständnis nicht der Übersetzung in eine Andere bedarf?
    Der "intellektuelle Überbau" ist allerdings mißverständlich - meinst Du damit auch, daß man sich an den motivischen Verknüpfungen erfreut, also praktisch "musikimmanente" intellektuelle Anteile, oder Außermusikalisches?

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Jedes gute Werk muss musikalisch so eigenständig sein, dass es sich selbst rechtfertigt

    MMn bedarf kein Werk einer Rechtfertigung seiner selbst. Seine einzige Aufgabe ist es, zu sein.

    Aber davor sind noch so ein paar Begriffe, die m. E. der Definition bzw. des Maßstabs bedürfen, um darüber diskutieren zu können: Wann ist ein Werk "gut"? Wann ist ein Werk "musikalisch eigenständig"? Sind das binäre Eigenschaften (es gibt nur "trifft zu" oder "trifft nicht zu") oder kontinuierliche Eigenschaften ("auf einer Skala von 0 bis 10 ist der gut-Aspekt bei 8,1563")? ;)

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Um es etwas abzukürzen: Lenny kommt zu dem Schluss, dass Musik immer nur eine musikalische Bedeutung hat. Alles andere - Titel, Programme... - sind ihr hinzugefügt.

    Was ist denn eine "nur musikalische Bedeutung"? Musik bedeutet andere Musik? Wohl kaum. Nicht in dem Sinne wie das Wort "Ross" (ungefähr) dasselbe wie "Pferd" bedeutet. Aber auch in keinem anderen Sinn. Wenn Musikstück/phrase A Musikstück B "bedeutete", warum hat der Komponist dann nicht stattdessen lieber B komponiert? ;)

    Gemeint ist vielleicht eher: Musik bedeutet normalerweise gar nichts. Ist man damit fein raus? Vielleicht. Was ist dann die Aufgabe von Musik? Vielleicht das Auslösen bestimmter Emotionen oder auch nur angenehmer Empfindungen. In direkterer Weise als durch die Entschlüsselung von Bedeutungen (also nicht wie das Lesen eines Krimis bestimmte Emotionen auslösen mag). Sondern eher wie ein Schlag in die Magengrube bestimmte Emotionen und Empfindungen auslöst, ohne Bedeutung haben zu müssen.
    Das scheint aber auch ein bißchen grob. Zwar scheinen viele Hörer Musik hauptsächlich zur Evokation bestimmter Stimmungen/Emotionen zu verwenden, aber es ist zum einen subjektiv sehr unterschiedlich, was für Emotionen ausgelöst werden, zum anderen gibt es recht unterschiedliche Musikstücke, die ähnliche Emotionen auslösen mögen, sich aber sonst in vielen Hinsichten unterscheiden. Und über diese anderen Hinsichten kann man normalerweise auch noch etwas sagen.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Der "intellektuelle Überbau" ist allerdings mißverständlich - meinst Du damit auch, daß man sich an den motivischen Verknüpfungen erfreut, also praktisch "musikimmanente" intellektuelle Anteile, oder Außermusikalisches?

    Sowohl als auch. Wobei z:B. motivische Verknüpfungen eben gerade einen musikalischen Wert besitzen. Die Kritik geht vielmehr in die Richtung, dass ein Komponist beim Komponieren oder ein Musikwissenschaftler beim Analysieren irgendwelche Dinge konstruiert, die sich weit von der Musik entfernen. Wobei das sicherlich ungenau von mir formuliert ist und auch sehr vorurteilsbehaftet...

    MMn bedarf kein Werk einer Rechtfertigung seiner selbst. Seine einzige Aufgabe ist es, zu sein.

    Aber davor sind noch so ein paar Begriffe, die m. E. der Definition bzw. des Maßstabs bedürfen, um darüber diskutieren zu können: Wann ist ein Werk "gut"? Wann ist ein Werk "musikalisch eigenständig"? Sind das binäre Eigenschaften (es gibt nur "trifft zu" oder "trifft nicht zu") oder kontinuierliche Eigenschaften ("auf einer Skala von 0 bis 10 ist der gut-Aspekt bei 8,1563")? ;)

    Ja, damit schwingen wir uns natürlich in musik-philosophische Höhen, die ich gar nich zu ermessen vermag. Bei der Rechtfertigung durch sich selbst liegt die Betonung auf "nur durch sich selbst". Damit meine ich, dass Musik funktionieren muss, auch ohne ein außermusikalisches Programm. Mit "gut" ist durchaus eine subjektive Bewertung gemeint, die jeder für sich selbst treffen kann. Und "musikalisch eigenständig" bedeutet, dass es wie gesagt unabhängig und quasi entkoppelbar von z.B. einem außermusikalischen Programm ist. Z.B. das die Moldau ein tolles Stück ist, auch ohne das Wissen um die Beschreibung eines Flusslaufes.
    Ob binär oder kontinuierlich möchte ich zu dieser Uhrzeit gar nicht mehr entscheiden. Ich tendiere aber zu kontinuierlich...

    Was ist denn eine "nur musikalische Bedeutung"?

    Die Bedeutung von Musik liegt immer nur in der Musik selbst. Ich finde, dass hat Bernstein ganz wunderbar erklärt.

  • Ich würde diese These gerne ausweiten, und Musik von allem emanzipieren: Von den Umständen, unter denen das Stück entsanden ist, von der Biographie des Komponisten, vom Komponisten selbst, vom Interpreten usw. Das ist meiner Meinung nach alles belibig und austauschbar und ändert nichts an der Musik selbst.

    Davon abgesehen, daß das unmöglich ist, welchem Zweck sollte das dienen? Wenn ich Musik höre, möchte ich doch zumindest wissen, von wem sie stammt. Das ist meist der erste Gedanke. Man könnte daraus vielleicht ein Spiel machen, wenn man jemandem etwas ihm Unbekanntes vorspielen würde, dann hätte man den "emanzipierten" Effekt, daß die Musik für sich alleine steht. Nehmen wir als Beispiel die Schubert Sonate D959, die würde dann aber trotzdem eine Sonate von Schubert bleiben, und auch die, für ihn zweifellos extremen, dem Sensenmann in die Fratze blickenden, Umstände, unter denen dieses Werk entstanden ist, hätten sich damit nicht geändert, und mit absoluter Sicherheit, könnte man die Sonate auch nicht so mir nichts, dir nichts, einem anderen Komponisten zuweisen.

    Worin liegt z.B. der Unterschied zwischen einer absoluten Sinfonie, einer Programmsinfonie und einer sinfonischen Dichtung, außer eventuell in der formalen Satzstruktur?

    "https://de.wikipedia.org/wiki/Absolute_Musik"

    "https://de.wikipedia.org/wiki/Programmmusik"

    "https://de.wikipedia.org/wiki/Sinfonische_Dichtung"

    Das wird bei Wiki aus meiner Sicht logisch nachvollziehbar erklärt.

    Besitzt programmatische Musik einen anderen Wert als absolute?

    Das entscheidet letztlich der Hörer. Aber ich hätte mich zu diesem Thema auch nicht soviel mit Bernstein beschäftigt, ich finde Richard Wagner bringt das sehr gut auf den Punkt, aus dem Link bzgl. absolute Musik:


    "Musik dürfe nicht selbst „Zweck“ sein, sondern müsse ein „Mittel“ bleiben"

    Dementsprechend war Gustav Mahler für viele ein großes Vorbild:

    "Music, in Mahler’s view, did not exist for pleasure. It had the potential for a “world-shaking effect” in politics and public ethics."


    [Blockierte Grafik: https://images-na.ssl-images-amazon.com/images/I/51A4rCW6kbL._SX322_BO1,204,203,200_.jpg]

    Norman Lebrecht, "Why Mahler?", Seite 8

    « J'ai osé beaucoup, mais la prochaine fois, vous verrez, j'oserai plus encore. »

  • "Musik dürfe nicht selbst „Zweck“ sein, sondern müsse ein „Mittel“ bleiben"

    das ist eben der Grund, warum Wagner bei allem Getöse um die "Zukunftsmusik" eine Zurücknahme einer wesentlichen Errungenschaft bedeutet.

    Davon abgesehen, daß das unmöglich ist, welchem Zweck sollte das dienen?

    genau das ist doch der Punkt: es soll gar nicht irgendeinem Zweck dienen, genausowenig wie die Musik selbst.
    außer dem, sich auf die Sprache der Musik wirklich einzulassen.
    Wobei mich dabei das Wissen um allerlei Begleitumstände nicht wirklich stört.

    Ich würde auch nicht ausschließen, daß auch genuin funktionale Musik (Tanzmusik, Kirchenmusik) die quasi autonome Qualität praktisch neben ihrer Eignung zu dem jeweiligen Zweck auch haben kann.

    Um nochmal auf das oben angesprochene "Dialektische" zu kommen: ich bin überzeugt, daß die Musik, wo sie ihren eigenen Gesetzen folgt, viel mehr sagt, als jedes Programm beschreibt.

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    daß Alles für Freuden erwacht

  • Zitat

    Die Bedeutung von Musik liegt immer nur in der Musik selbst. Ich finde, dass hat Bernstein ganz wunderbar erklärt.

    Ich habe die Bernstein-Sendung zwar vor vielen Jahren schon einmal gesehen, aber jetzt keine Zeit, sie komplett anzuschauen. Erklär mal diese Bedeutung von Bedeutung. Die normale Bedeutung von Bedeutung (von Zeichen) enthält immer einen Verweis über den Bedeutungsträger hinaus. "Ross" bedeutet ein bestimmtes Huftier, eine Art Strichmännchen bedeutet "Herrentoilette", ein bestimmtes Trompetensignal bedeutet "Alles zurück in die Kaserne", tititi-tiii-tiii-tititi bedeutet die Buchstabebfolge SMS (und dass gerade eine solche Nachricht eingetroffen ist) etc.)
    Wenn das bei Musik anders ist, sollte man vielleicht ein anderes Wort wählen oder jedenfalls erklären, was es mit einer so ganz anders gearteten Bedeutung auf sich hat und vielleicht auch, warum sie der normalen Bedeutung von Bedeutung ähnlich genug ist um sie so zu nennen, anstatt gar nicht von Bedeutung zu sprechen.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Musikalische Motive und Phrasen können außermusikalische Bedeutung haben. Z.B. haben durch die jahrhundertelange Verwendung bei Jagd, Post, Militär bestimmte Signalmotive eine entsprechende Assoziation erhalten (selbst wenn in der musikalischen Verwendung keine exakte Bedeutung wie "Rückzug", "Angriff", "Sau ist tot" etc. mehr haben). Entsprechend können solche oder davon abgeleitete Motive auch allgemeiner z.B für "Abschied" stehen, wie am Beginn von Beethovens Sonate Les Adieux.

    Natürlich sind diese Assoziationen für jemanden, der in einer anderen musikalischen Kultur aufgewachsen ist, evtl. unverständlich. Aber das ist ja genauso wie für einen Sprecher des Chinesischen Deutsch unverständlich ist oder jemand vielleicht nicht wissen kann, wer die Frau im blauen Mantel mit dem Baby ist. Symbole und Konventionen sind erst einmal beliebig, aber nicht mehr, wenn sie Konventionen und Symbole geworden sind)

    Und es kommt natürlich auf den Zusammenhang an. Ob etwas, was so klingt wie ein Kuckucksruf, auf diesen Vogel, Wald, Natur etc. verweist, hängt wohl auch davon ab, ob das Stück, in dem die Passage vorkommt, "Capriccio del Cucu", "Szene am Bach" oder "Presto alla tedesca" heißt. Das ist aber auch nichts ungewöhnliches, das gibt es auch bei unproblematischen alltäglichen Zeichen.

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    (B. Pascal)

  • Musikalische Motive und Phrasen können außermusikalische Bedeutung haben. Z.B. haben durch die jahrhundertelange Verwendung bei Jagd, Post, Militär bestimmte Signalmotive eine entsprechende Assoziation erhalten (selbst wenn in der musikalischen Verwendung keine exakte Bedeutung wie "Rückzug", "Angriff", "Sau ist tot" etc. mehr haben). Entsprechend können solche oder davon abgeleitete Motive auch allgemeiner z.B für "Abschied" stehen, wie am Beginn von Beethovens Sonate Les Adieux.

    Solche außermusikalische Bedeutung hat allemal symolischen Wert. Durch bestimmte Motive werden meinetwegen Asssoziationen hervorgerufen. In diese Richtung bewegt sich ja auch die Tonmalerei. Das ist aber dann ein anderer Anspruch an die Musik, der sich auch dementsprechend auf einer anderen Ebene abspielt, als auf der rein musikalischen. Bei absoluter Musik - nehmen wir eine Sinfonie von Mozart - bezieht sich die Musik allerdings nur auf sich selbst. Wie Philmus so schön gesagt hat, wird sie zu einer eigenen Sprache, die nicht der Übersetzung in eine andere bedarf.
    Jede gute Musik muss meiner Meinung nach auf dieser rein musikalischen Ebene funktionieren und ich kann es nicht einsehen, dass Programmmusik davon ausgeschlossen sein soll. Ich muss nicht Nietzsche lesen, um Strauss' Zarathustra zu mögen. Ich muss überhaupt nicht wissen, worum es dabei (programmatisch) geht, was die (außermusikalischen) Hintergründe sind um es (musikalisch) zu verstehen.

    Wenn das bei Musik anders ist, sollte man vielleicht ein anderes Wort wählen oder jedenfalls erklären, was es mit einer so ganz anders gearteten Bedeutung auf sich hat und vielleicht auch, warum sie der normalen Bedeutung von Bedeutung ähnlich genug ist um sie so zu nennen, anstatt gar nicht von Bedeutung zu sprechen.

    Ich habe den Begriff übernommen, finde ihn aber keineswegs unpassend. Wenn ich auf dem Klavier ein g' spiele, hat das z.B. erstmal überhaupt keine Bedeutung. Wenn es hingegen in einen musikalischen Kontext eingebunden wird, kann es sowohl welche erlangen. Nehmen wir an, es ist der Spitzenton einer langen Melodie, die mehrere Anläufe nimmt, bis sie endlich dieses g' erreicht. Durch diese Vorbereitung erhält es eine sehr große Bedeutung, aber eben (nur) eine rein musikalische. Man kann es nicht übersetzen in eine andere Sprache. Es bedeutet weder "Pferd" noch "Paarhufer" noch sonstwas, sondern einfach nur "g'", bzw. in diesem Fall "Höhepunkt einer melodischen Linie".

  • Natürlich bedarf sie keiner Übersetzung. Sonst bräuchte man ja keine Musik und könnte stattdessen etwas in gewöhnlicher Sprache erzählen.
    Aber "bedeutet sich selbst" halte ich für ungereimt. Ich verstehe nicht, was das heißen soll. Es scheint mir dem Problem eher auszuweichen.

    "Nehmen wir an, es ist der Spitzenton einer langen Melodie, die mehrere Anläufe nimmt, bis sie endlich dieses g' erreicht. Durch diese Vorbereitung erhält es eine sehr große Bedeutung, aber eben (nur) eine rein musikalische."

    Hier benutzt Du einfach eine andere Bedeutung von Bedeutung. Nicht im Sinn von "Sinn, Referenz" sondern im Sinne von Relevanz, nämlich, dass der Ton im Kontext eines musikalischen Verlaufs eine herausgehobene Stellung hat. Also so ähnlich wie "Beethoven ist ein bedeutender Komponist". Es ist unstrittig, dass in einem musikalischem Verlauf Töne unterschiedliches Gewicht haben, "Ziele" von musikalischen Phrasen sein können usw.
    Das ist aber schlicht etwas anderes als eine Bedeutung in üblichen Sinne wie: Signal täterätätä... bedeutet "zurück in die Kaserne". Und es ist auch nicht klar, wie das damit zusammenhängen soll, inwiefern Strauss' Don Quixote eine Geschichte erzählen kann oder nicht (weil Bernstein ad hoc eine alternative Geschichte zur Musik sich ausdenken konnte). Es ist m.E. kein alternatives Modell des Musikverstehens zur programmatisch dargestellten Geschichte, weil es einfach auf einer ganz anderen Ebene operiert. Das sieht man daran, dass man natürlich zu Don Quixote analytische Kommentare über musikalische Verläufe, wiederkehrende Motive, herausgehobene Töne usw verfassen könnte, ohne überhaupt die Frage zu berühren, ob und wie eindeutig außermusikalische Inhalte dargestellt werden. Bezüglich dieser letztgenannten Frage, die Bernstein verneint, ist schlicht und einfach nichts gesagt mit der "rein musikalischen Betrachtung".

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Bei absoluter Musik - nehmen wir eine Sinfonie von Mozart - bezieht sich die Musik allerdings nur auf sich selbst.

    Demzufolge hätte Mozart mit seiner Musik in einem geschlossenen Vakuum leben müssen. Musik lebt aber nicht. Sie wird durch Menschen erschaffen, komponiert und vertont. Und nur die Menschen ( von Singvögeln abgesehen ) sind auch in der Lage, Musik dann ertönen zu lassen. Sie kann sich daher gar nicht auf sich "selbst" beziehen, weil dieses "selbst" ohne Menschen nicht existieren würde. Dazu kommt, daß Menschen bzw. Lebewesen immer auf Wahrnehmung angewiesen sind.

    "Da Information immer zu Wahrnehmung führt und Wahrnehmung die Grundlage jedes Handelns ist, begründet Information letztendlich auch die soziale Realität. Ebenso den Wandel dieser."

    Noam Chomsky

    Und bei "What does music mean? Part 1" fängt die Verfälschung der Wahrnehmung schon damit an, daß Bernstein das berühmte Finale der Ouverture von Guillaume Tell anspielen lässt, und die Kinder nicht über die Herkunft und den Kontext der Musik aufklärt, sondern das Werk auf die Noten reduzieren will. Ganz so, als hätte sich Rossini nicht darum bemüht, diese Musik möglichst genau auf die Handlung seiner Oper zu projizieren.

    Aber "bedeutet sich selbst" halte ich für ungereimt.

    So kann man es auch sagen. Wäre das der Fall, und man betrachtet instrumentale Musik als Sprache, die für sich "selbst" steht, dann müsste sich ja wiederum das gesprochene Wort erst recht auf "sich selbst" beziehen können. Möge mir bitte jemand erläutern, wie das möglich sein soll.

    « J'ai osé beaucoup, mais la prochaine fois, vous verrez, j'oserai plus encore. »

  • Und bei "What does music mean? Part 1" fängt die Verfälschung der Wahrnehmung schon damit an, daß Bernstein das Finale von Guillaume Tell anspielen lässt, und die Kinder nicht über die Herkunft und den Kontext der Musik aufklärt, sondern das Werk auf die Noten reduzieren will. Ganz so, als hätte sich Rossini nicht darum bemüht, diese Musik möglichst genau auf die Handlung seiner Oper zu projizieren.


    Ob das immanente Ideal der absoluten Musik sich ganz rein erhalten lässt, weiß ich auch nicht. Aber bei dem Rossini-Beispiel kann man ja 1. sagen, dass die Musik nicht die Handlung oder einzelne Aspekte in einem evoziert, wenn man nur sie kennt. Und 2. kann man zu der Tell-Handlung auch ganz schlechte, langweilige Musik schreiben. Die würde nicht automatisch besser dadurch, dass sie in einem Vorstellungen von Äpfeln oder Armbrüsten auslöst.
    Bernstein wollte wahrscheinlich zeigen, dass Rossinis Musik eben auch schon "funktioniert", wenn man nicht weiß worum es geht. Ob sie funktioniert hängt eben von musikalischen Kriterien ab und nicht von ihrer Beziehung auf Außermusikalisches.

    Nur weil etwas viel Arbeit war und Schweiß gekostet hat, ist es nicht besser oder wichtiger als etwas, das Spaß gemacht hat. (Helge Schneider)

  • Bernstein wollte wahrscheinlich zeigen, dass Rossinis Musik eben auch schon "funktioniert", wenn man nicht weiß worum es geht.

    Schon klar. Deshalb bringen sehr viele Menschen Werke von Rossini oder Offenbach eher mit dem amerikanischen Wilden Westen in Verbindung, als mit den Opern, denen sie entstammen. Und deshalb konnte man aus La donna e mobile einen Werbespot für Choco Crossies machen. Ähnliches findet man in sehr vielen Hollywood Filmen, wo immer wieder klassische Musik "entliehen" wird, um den Bildern mehr Ausdruckskraft zu verleihen.

    Als Beispiel wäre der Waltzer No. 2 von Dmitri Shostakovich zu nennen, der in unzähligen Produktionen verwurstet wurde. So aber wird doch die Musik erst recht beliebig, sie steht dann für alles Mögliche, aber nicht für "sich selbst", oder täuscht mich meine Wahrnehmung?

    « J'ai osé beaucoup, mais la prochaine fois, vous verrez, j'oserai plus encore. »

  • Wäre das der Fall, und man betrachtet instrumentale Musik als Sprache, die für sich "selbst" steht, dann müsste sich ja wiederum das gesprochene Wort erst recht auf "sich selbst" beziehen können. Möge mir bitte jemand erläutern, wie das möglich sein soll.

    "Für sich selbst stehen" ist aber schon etwas anderes als "sich auf sich selbst beziehen".

    Wo Sprache Kunstcharakter annimmt, wie z.B. im Gedicht, bekommt sie einen Eigenwert über die Bedeutung hinaus. ("steht für sich selbst") Daß sie sich deshalb "auf sich selbst bezieht", ist möglich (und ein Spezialfall), aber nicht der Punkt.
    Bei Sprache, die im Alltagsgebrauch praktisch durchgehend "etwas anderes" außer ihr selbst bedeutet, ist es natürlich anders als bei Musik, wo die eindeutigen Symbole eher der Sonderfall sind.

    Deswegen trägt meine Formulierung, Musik sei eine "eigene Spache", in dieser direkten Parallelsetzung nicht, sondern will nur andeuten, daß es keiner Übersetzung in (Wort-)Sprache bedarf, um Musik zu "verstehen".

    Wenn ich sage, Musik "stehe für sich selbst", meine ich etwas wie: ihre Bedeutung (im Sinne von "ihr Wert") besteht nicht in den Bezügen auf ihr Äußerliches. Wobei ich da schon unterscheiden würde: bei Opernarien, wie Du eine als Beispiel gebracht hast, besteht ein nicht unwesentlicher Teil des Spieles ja gerade in der Textausdeutung. Aber auch da würde ich sagen, erschöpft sich die Musik ja nicht darin, einfach eine musikalische Übersetzung des Textes zu sein, sondern kann ihn verstärken, kommentieren, hintergehen, Zwischentöne anklingen lassen etc. Es entsteht dann aus Text und Vertonung eine Aussage, die über das, was der Text alleine sagt, hinausgeht.

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  • Als Beispiel wäre der Waltzer No. 2 von Dmitri Shostakovich zu nennen, der in unzähligen Produktionen verwurstet wurde. So aber wird doch die Musik erst recht beliebig, sie steht dann für alles Mögliche, aber nicht für "sich selbst", oder täuscht mich meine Wahrnehmung?

    Na ja, alles Mögliche bedeutet nix Bestimmtes. Das wäre wohl wirklich die Emanzipation von allem außermusikalischen Sinn :)
    Schostakowitschs Walzer passt aber wohl nicht so gut z.B. zu Schlachtszenen (jedenfalls ernstgemeinte, nicht Bud Spencer oder Tom & Jerry oder so). Ein Musikstück enthält in der Regel ein gewisses Spektrum von Stimmungen & Assoziationen, die es mehr oder weniger passend für die Verwendung in Film oder Werbung machen. Das ist aber nur eine relative Freiheit, ein gewisser Spielraum.

    Was ich aber meinte, ist der eher handwerkliche Aspekt. Also sowas wie "gut gemacht" & die musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten erweiternd. Man kann sich eine Tell-Oper mit schauerlich schlechter Musik vorstellen, der man den deutlichen Bezug zur Handlung nicht absprechen kann. Umgekehrt kann man sich eine fesselnde Musik vorstellen, deren (ursprünglicher) Bezug zu einer Handlung einem gleichgültig ist.

    Aber die Verwendung klassischer Musik für Werbung oder Film, für die sie ursprünglich nicht gedacht war, ist als Beispiel ja ein bisschen unfair. Denn davor ist nun kein Werk gefeit. Bei Webern ist sie wohl ein bisschen weniger wahrscheinlich.
    Andererseits kann man feststellen, dass die verwendete Musik in der Regel wie ein Steinbruch behandelt wird: Sie wird nicht ganz ausgespielt; vielmehr werden einzelne schöne Stellen, Melodien, Klangeffekte herausgegriffen. Also aus dem immanenten Zusammenhang herausgerissen.
    Eine spannende Frage für diesen Thread wäre nun, ob & inwiefern dieser immanente Zusammenhang selbst von Bedeutung ist. Ob er eine eigene Aussage zu transportieren vermag.

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  • "Für sich selbst stehen" ist aber schon etwas anderes als "sich auf sich selbst beziehen".

    Das stimmt natürlich. Und ich stelle nicht in Abrede, daß die Musik für sich eine Sprache sein kann. Sie hat aber kein Eigenleben, und wenn ich es richtig verstanden habe, wollte B. Thoven ja darauf hinaus, wenn er sie gänzlich "emanzipieren" will.

    « J'ai osé beaucoup, mais la prochaine fois, vous verrez, j'oserai plus encore. »

  • Ein Musikstück enthält in der Regel ein gewisses Spektrum von Stimmungen & Assoziationen, die es mehr oder weniger passend für die Verwendung in Film oder Werbung machen. Das ist aber nur eine relative Freiheit, ein gewisser Spielraum.

    Und nicht nur dort. Wie in dem ursprünglichen Beispiel von Leonard Bernstein, wird man mit Musik, selbst wenn sie einem unbekannt ist, immer etwas verbinden, was einem selbst schon bekannt ist.

    Die absolute Musik mag dann vielleicht eine universelle Sprache sein, aber was man unter ihr versteht, entscheidet auch dann nicht die Musik, die fähig wäre, sich auf sich selbst zu beziehen, sondern immer nur der Mensch, der sie hört.

    B. Thoven nannte selbst Mozart-Sinfonien als Beispiel. Nehmen wir an, man spielte sie Menschen blind vor, die seine Werke nicht kennen. Da würde die Musik trotzdem bei jedem anders verstanden werden und die Musik hätte darauf auch nicht den geringsten Einfluss, wie sie denn verstanden wird.

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  • Die absolute Musik mag dann vielleicht eine universelle Sprache sein, aber was man unter ihr versteht, entscheidet auch dann nicht die Musik, die fähig wäre, sich auf sich selbst zu beziehen, sondern immer nur der Mensch, der sie hört.

    B. Thoven nannte selbst Mozart-Sinfonien als Beispiel. Nehmen wir an, man spielte sie Menschen blind vor, die seine Werke nicht kennen. Da würde die Musik trotzdem bei jedem anders verstanden werden und die Musik hätte darauf auch nicht den geringsten Einfluss, wie sie denn verstanden wird.

    Gut, völlig voraussetzungslos, also im ganz strengen Sinne absolut, vermag in der Welt nichts zu wirken.
    Musik ist natürlich wie alle Kunst immer irgendwie auf Rezipienten bezogen. Die Voraussetzungen, die sie mitbringen sind aber nun wiederum auch nicht völlig individuell verschieden. Es schwingen z.B. immer bestimmte Erfahrungen mit. Und die sind in einer Generation etwa natürlich nicht total uniform, sondern es gibt schon eine gewisse Schnittmenge.

    Dabei kann man vielleicht nochmal unterscheiden, ob außermusikalische Zusammenhänge angetextet werden (Vogelgesang = Natur, Frühling usw., Trompetensignale = Post, Gefahr, Militär etc.) oder ob innerhalb der Kunstgattung Musik Anspielungen gemacht werden ("gelehrter" Kontrapunkt in nachbarocken Werken, Sujet-Signale wie z.B. eine liegende Dudelsack-Quinte im Bass, Walzer-¾-Takt).

    Aber neben solchem Herbeizitieren gibt es ja auch noch sowas wie eine Stimmigkeit in sich. Den Eindruck, dass es so und nicht anders sein muss. Zwar erzielt man da keine 100%ige Übereinstimmung unter den Hörer*innen. Aber es kommt mir doch weniger beliebig vor als das individuelle Gefallen.
    Wenn man z.B. Beethovens Streichquartette chronologisch kennenlernt, so wird man wahrscheinlich beim ersten Satz von op. 95 deutlicher als ohne diese Erfahrung den Eindruck haben, dass diese Musik sehr knapp und auf den Punkt gebracht ist. Wenn man dann diese und vielleicht noch andere Erfahrungen mit klassischer Musik hat, wird man wahrscheinlich auf das Urteil kommen, dass auch der erste Satz von Schönbergs Streichquartett Nr. 2 op. 10 eigentlich ziemlich auf den Punkt gebracht ist. Kein langes Geschwafel. Und dafür muss man diese Musik noch nicht einmal mögen.

    Klar, man kann für die Analyse immer von einem möglichst voraussetzungslosen "Urzustand" ausgehen ("Nehmen wir an, man spielte sie Menschen blind vor, die seine Werke nicht kennen.")., in dem die Leute das erste mal mit (einer bestimmten) Musik in Kontakt kommen. Da wird die Wirkung kaum abzusehen sein. Aber mit Erfahrungen in der Musik selbst wird das schon anders aussehen.

    Nur weil etwas viel Arbeit war und Schweiß gekostet hat, ist es nicht besser oder wichtiger als etwas, das Spaß gemacht hat. (Helge Schneider)

  • Klar, man kann für die Analyse immer von einem möglichst voraussetzungslosen "Urzustand" ausgehen ("Nehmen wir an, man spielte sie Menschen blind vor, die seine Werke nicht kennen.")., in dem die Leute das erste mal mit (einer bestimmten) Musik in Kontakt kommen. Da wird die Wirkung kaum abzusehen sein. Aber mit Erfahrungen in der Musik selbst wird das schon anders aussehen.

    Muss man den nicht zwingend von einem Urzustand ausgehen, damit die, wie folgt lautende, erweiterte These überhaupt zum Tragen kommen kann?

    Ich würde diese These gerne ausweiten, und Musik von allem emanzipieren: Von den Umständen, unter denen das Stück entsanden ist, von der Biographie des Komponisten, vom Komponisten selbst, vom Interpreten usw. Das ist meiner Meinung nach alles belibig und austauschbar und ändert nichts an der Musik selbst.

    « J'ai osé beaucoup, mais la prochaine fois, vous verrez, j'oserai plus encore. »

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