Strawinsky, Igor: Symphony of Psalms bzw. Psalmensinfonie

  • Strawinsky, Igor: Symphony of Psalms bzw. Psalmensinfonie

    Vokalwerk oder Sinfonie?

    Psalmensinfonie heißt das Werk, weil darin Texte aus den Psalmen 38, 39 und 150 vertont sind (Zählung nach der Vulgata). Dem Rest des Namens nach ist es eine Sinfonie. Doch der Komponist selbst wies auf den Zwitterstatus zwischen Chorwerk und Sinfonie hin: „It is not a symphony in which I have included Psalms to be sung. On the contrary, it is the singing of the Psalms that I am symphonizing.”

    Komponiert ist es für Chor und Orchester. Strawinsky zum Verhältnis der beiden Klangkörper: "the two elements are on an equal footing, neither outweighing the other".

    Was ist “sinfonisch” an dem Werk? Abermals der Komponist zu seinen Absichten: ” … to create an organic whole without conforming to the various models adopted by [symphonic] custom, but still retaining the periodic order by which the symphony is distinguished from the suite." (“Periodic” ist hier wohl am besten mit “zyklisch” zu übersetzen.)

    In diesem Zusammenhang mag es interessant sein, dass Strawinsky einem seiner früheren Werke den Title „Symphony of Wind Instruments“ gab – nicht etwa „Symphony for Wind Instruments“. Darauf angesprochen, entgegnete er, er habe das Wort „Symphony“ in seiner ursprünglichen Bedeutung verwendet, also „Zusammenklang“, und nicht etwa als Formbezeichnung eines meist viersätzigen Werkes mit bestimmten vordefinierten Satztypen. – Ich meine, dass dieses Verständnis des Wortes auch hier wesentlich besser passt als das konventionelle. Gewichtiger Kopfsatz, Sonatensatzhauptsatzform, Menuett oder Scherzo, alles das gibt es bei der Psalmensinfonie. Auch das ” … it is the singing of the Psalms that I am symphonizing.” wird so m. E. einleuchtend.

    Anlass der Komposition und persönlicher Hintergrund des Komponisten

    Sergei Kussewizky (Koussevitzky) erteilte Igor Strawinsky den Auftrag zu einem symphonischen Werk für die Jubiläumssaison 1930/31 des Boston Symphony Orchestra, welches seinen 50. Geburtstag feierte. Der Komponist ließ später wissen, dass Kussewizky eigentlich mit einem eher populären Orchesterwerk ohne Chor gerechnet hatte. Jedoch hatte er schon länger den Plan zur Vertonung von Psalmen für Chor und Orchester. Möglicherweise gab Strawinsky dem Werk nur deswegen den Namen „Symphony of Psalms“, um dem Auftrag zu entsprechen. Denn mit einer klassisch-romantischen Sinfonie hat es nicht viel zu tun außer der vom Komponisten genannten zyklischen Form.

    Strawinsky war im Grunde ein tiefreligiöser Mensch. Er wurde kurz nach seiner Geburt getauft und wuchs in der russisch-orthodoxen Kirche auf. Im Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren kehrte er dieser den Rücken. Als der Komponist jenseits der vierzig war, geriet er in eine spirituelle Krise. Nach seinem Umzug nach Nizza im Jahr 1924 befreundete er sich mit Vater Nicholas, einem russisch-orthodoxen Priester, erneuerte seinen Glauben und trat 1926 wieder der Kirche seiner Kindheit bei. Robert Craft ließ wissen, dass der Komponist täglich betete, auch zu Beginn und nach Ende des Komponierens, und auch, wenn er mittendrin in Schwierigkeiten geriet.

    Die Widmung der Partitur lautete:

    This Symphony composed
    to the glory of GOD
    is dedicated to the
    “Boston Symphony Orchestra”
    on the occasion
    of its fiftieth anniversary


    Daten und Zahlen

    Die Psalmensinfonie hat drei Sätze, die attacca gespielt werden. Sie sind nur mit römischen Ziffern und einer Metronomangabe überschrieben: I Viertel = 92, II Achtel = 60, III Viertel = 48.

    Das Werk dauert ca. 21 bis 24 Minuten. Die Länge der Sätze nimmt quasi exponentiell zu: Der zweite Satz ist ungefähr doppelt so lange wie der erste, der dritte rund doppelt so lange wie der zweite.

    Besetzung

    5 Flöten (5. auch Piccolo), 4 Oboen, Englischhorn, 3 Fagotte, Kontrafagott,
    4 Hörner in F, Piccolo-Trompete, 4 Trompeten in C, 3 Posaunen, Tuba,
    Pauken, große Trommel,
    2 Klaviere, Harfe,
    Celli, Kontrabässe,
    vierstimmiger gemischter Chor.

    Auffällig ist der Verzicht auf Klarinetten, vor allem aber auf Violinen und Bratschen. Der Klang ist entsprechend bläserlastig, stellenweise durch die Klaviere gefärbt, oft spröde.

    In der Partitur schreibt Strawinsky: „The choir should contain children’s voices, which may be replaced by female voices (soprano an alto) if a children’s choir is not available.“ – Er schreibt auch vor: “The words of the Psalms are those of the Vulgata and should be sung in Latin.”

    Das Werk wurde satzweise von hinten nach vorne komponiert. Der dritte Satz war am 27. April 1930 fertig, der zweite am 17. Juli 1930 und der erste am 15. August 1930, Maria Himmelfahrt.

    Uraufführung: 13. Dezember 1930
    Société Philharmonique des Bruxelles
    Ernest Ansermet

    Amerikanische Erstaufführung: 19. Dezember 1930
    Chor der Cecilia Society (Einstudierung: Arthur Fiedler)
    Boston Symphony Orchestra
    Sergei Kussewizki

    Erstaufnahme: 17./18. Februar 1931
    Alexis Vlassay Choir
    Orchestre des Concerts Straram
    Igor Strawinsky

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Text

    I
    Exaudi orationem meam, Domine, et deprecationem meam. Auribus percipe lacrimas meas. Ne sileas.
    Quoniam advena ego sum apud te et peregrinus, sicut omnes patres mei.
    Remitte mihi, ut refrigerer prius quam abeam et amplius non ero.

    (Erhöre mein Gebet, Herr, und mein Bitten. Nimm meine Tränen [Klagen] mit den Ohren wahr. Schweige nicht.
    Denn ich bin ein Fremdling bei dir und Pilger, wie alle meine Väter.
    Lass ab von mir [Verschone mich], so dass ich zur Ruhe komme, bevor ich dahinfahre und forthin nicht mehr bin.) (Psalm 38 [39], 12–13)

    II
    Expectans expectavi Dominum, et intendit mihi.
    Et exaudivit preces meas; et eduxit me de lacu miseriae, et de luto fæcis.
    Et statuit super petram pedes meos: et direxit gressus meos.
    Et immisit in os meum canticum novum, carmen Deo nostro.
    Videbunt multi, videbunt et timebunt: et sperabunt in Domino.

    (Ich erwartete beharrlich den Herrn, und er neigte sich zu mir.
    Und er erhörte meine Bitten und führte mich heraus aus dem See des Elends und aus dem Schlamm der Tiefe.
    Und er stellte meine Füße auf einen Fels und lenkte meine Schritte.
    Und er gab ein neues Lied in meinen Mund, ein Lied für unseren Gott.
    Das werden viele sehen, sehen und fürchten, und sie werden auf den Herrn hoffen.) (Psalm 39 [40], 1–3)

    III
    Alleluia.
    Laudate Dominum in sanctis Ejus.
    Laudate Eum in firmamento virtutis Ejus.
    Laudate Eum in virtutibus Ejus.
    Laudate Eum secundum multitudinem magnitudinis Ejus.
    Laudate Eum in sono tubae.
    Alleluia.
    Laudate Dominum. Laudate Eum.
    Laudate Eum in timpano et choro,
    Laudate Eum in cordis et organo.
    Laudate Eum in cymbalis bene sonantibus,
    Laudate Eum in cymbalis jubilationibus.
    Laudate Dominum. laudate Eum.
    Omnis spiritus laudet Dominum.
    Alleluia.

    (Halleluja.
    Lobet den Herrn in seinem Heiligtum.
    Lobet ihn in der Feste seiner Macht.
    Lobet ihn in seinen Taten.
    Lobet ihn in seiner großen Herrlichkeit.
    Lobet ihn im Schall der Posaunen.
    Halleluja.
    Lobet den Herrn, lobet ihn.
    Lobet ihn mit Pauken und Reigen.
    Lobet ihn mit Saiten und Orgel.
    Lobet ihn mit wohlklingenden Zimbeln.
    Lobet ihn mit jubelnden Zimbeln.
    Lobet den Herrn, lobet ihn.
    Alles, was Odem hat, lobe den Herrn.
    Halleluja.) (Psalm 150)

    In meiner Vulgata steht der Text teilweise abweichend („audi orationem meam Domine et clamorem meum exaudi ad lacrimam meam ne obsurdescas quia advena ego sum apud te …“). Der Grund ist wohl, dass es „die“ Vulgata nicht gibt; der lateinische Bibeltext ist in vielen Handschriften überliefert mit ihrer je eigenen Geschichte und Redaktion. – Dass der zur Kirche zurückgekehrte Komponist Worte vom „Fremdling“ und „Pilger“ bei Gott wählte und Verse heranzog, die erzählen, dass Gott „ein neues Lied“ in jemandes Mund legte, lässt aufhorchen. Dies umso mehr, als dass diese Stelle mit dem „neuen Lied“ im zweiten Satz satztechnisch und klanglich besonders herausgehoben ist.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Oktatonik

    Strawinsky verwendete in der Psalmensinfonie stellenweise eine oktatonische Skala, die sogenannte „verminderte Skala“ oder, wie die Jazzer sagen, die „Halbton-Ganzton-Leiter“, die mit Messiaens zweitem Modus identisch ist. Im Klartext: Beispielsweise erklingen in Chor und Orchester zum Text „Exaudi orationem meam, Domine, et deprecationem meam“ nur Töne aus dem Vorrat E-F-G-Gis-Ais-H-Cis-D bzw. deren enharmonisch Verwechselte.

    Die verminderte Skala hat Strawinsky schon im „Sacre du Printemps“ und im „Petruschka“ genutzt. Aber nicht ausschließlich; auch nicht in der Psalmensinfonie.

    Die drei Sätze

    Erster und zweiter Satz stehen zueinander im Verhältnis von Präludium und (Doppel-)Fuge. Der letzte Satz entzieht sich für meine Begriffe einer formalen Zuordnung.

    Erster Satz – „Exaudi orationem meam“

    Den ersten Satz kann man als Präludium zum zweiten auffassen.

    Los geht’s mit einem achtstimmigen Akkord: e-moll in Grundstellung in der großen Oktave (E-G-H), dito in der zweigestrichenen Oktave (e“-g“-h“), dazwischen g und g‘. – Diese spezielle Konfiguration der Töne hat einen eigenen Namen erhalten: Der Psalmenakkord (psalm chord). Er kommt mehrmals wieder und wird als zäsurschaffender Klang in dem ansonsten wohl eher als Spielfigurenpräludium ablaufenden Satz eingesetzt (à la WK I c-Moll, Cis-Dur, D-Dur, d-Moll, …).

    Es folgt die erste Spielfigur: B7 aufwärts, G7 abwärts (b‘-d“-f“-as“ – g“-f“-d“-h‘), alles in Sechzehnteln, zusammen mit dem Psalmenakkord sind so sieben Töne der oktaphonischen Skala verwendet. – Die Spielfigur verändert sich nach und nach, immer wieder erklingt der Psalmenakkord dazwischen. Schließlich erklingt sie im Klavier über einem Orgelpunkt (E), ein Solocello spielt eine Vorimitation des Choreinsatzes mit der charakteristischen kleinen Sekund aufwärts („phrygische Sekund“).

    Der Alt intoniert das „Exaudi orationem meam, Domine“, ebenfalls mit der phrygischen Sekund. Die Wirkung ist demzufolge modal. Die Spielfigur erklingt nun in Achteln (Fagott) statt in Sechzehnteln, dazu tritt ein Ostinatomotiv in einer Mittelstimme (h-d‘-ais-cis‘). „Et deprecationem meam“ – vierstimmig-homophoner Satz mit archaischer Wirkung (Quinten), die phrygische Sekund ist im Alt versteckt.

    Ein von einer Oboe angeführtes Zwischenspiel führt zum nächsten Einsatz. Dasselbe Spiel: „Auribus percipe lacrimas meas“ im Alt auf dasselbe Motiv wie „Exaudi …“, jedoch nun mit Viertelpuls in den Bässen. – Psalmenakkord. – „Ne sileas“ (Schweige nicht) jedoch in hoher Intensität in den beiden hohen Stimmen Sopran und Tenor. – Psalmenakkord.

    Neue Taktart (archaisches 3/2), neue Motivik in motorischen Achteln, die ebenfalls durch in Vierteln pulsierende Bässe ihren vorwärtsdrängenden Puls erhalten. Beginn piano bis mezzoforte „Quoniam advena …“. Große Steigerung mit weit schwingenden Linien im Chor, großer Gegensatz zur Motorik des Orchesters („Symphony“ = „Zusammenklang“), bis hin zu „Patres mei“, wo die Spielfigur wieder erklingt, nun simultan in Achteln und Sechzehnteln.

    Letzter Abschnitt, „Remitte mihi …“. Nun steht das Ostinato-Motiv wieder im Orchester auf, der Chor hat wieder die phrygische Sekund. Abermals Steigerung mit breitem akkordischem Schluss.

    Der Schlussakkord hat die Einzeltöne außen (G) und den eng gesetzten G-Dur-Akkord innen, sozusagen eine Punktspiegelung des Psalmakkordes mit zwei Zentren. Ebenso, wie der finale G-Dur-Akkord auch durch eine Punktspiegelung aus dem initialen e-Moll-Akkord hervorgeht (Zentralton a).

    Zweiter Satz

    Der erste Abschnitt ist eine Fuge für vier Holzbläser, die in dieser Reihenfolge einsetzen: Oboe (quasi 2. Sopran) – Flöte (quasi 1. Sopran) – Flöte (quasi 2. Alt) – Oboe (quasi 1. Alt). Dabei sind die beiden Flöten die Außenstimmen und die Oboen die Mittelstimmen. Dieser Exposition folgt ein Zwischenspiel.

    Im zweiten Abschnitt singt der Chor eine ebenfalls vierstimmige Fuge über ein zweites Thema, Einsatzfolge S-A-T-B. Beim ersten Einsatz ist das erste Thema in den Orchesterbässen zu hören. Sein Kopf (vier Töne) erscheint wieder im Horn nach dem Einsatz der Chorbässe sowie beim „Et exaudivit“ der Tenöre. Überhaupt scheint jeder der beiden Klangkörper sein eigenes thematisches Material zu haben. Noch eine spannende Lesart von „Symphony“ = „Zusammenklang“.

    Bei „Et statuit“ beginnt ein a-cappella-Abschnitt, in welchem der Chor gleich in vierfacher Engführung eine Variante seines Themas intoniert. – Zwischenspiel des Orchesters unter Verwendung des Kopfes des Instrumentalthemas.

    Schluss. Neue Satztechnik – nun wird’s homophon! „Et immisit in os meum canticum meum“ (“und er legte ein neues Lied in meinen Mund”) – kräftige punktierte Rhythmen im Orchester, große klangliche Entfaltung, doch das abschließende “et sperabunt in Dominum” verklingt im Piano. – Interessant, dass der zur Kirche zurückgekehrte Komponist gerade diesen Text satztechnisch wie klanglich hervorhob.

    Dritter Satz

    Strawinsky schrieb: ”The allegro in Psalm 150 was inspired by a vision of Elijah's chariot climbing the Heavens; never before had I written anything quite so literal as the triplets for horns and piano to suggest the horses and chariot.”

    Dieser Satz lässt trotz der Elia-Vision allen äußeren Pomp vermissen, den man mit dem 150. Psalm verbinden mag (Schütz, Bruckner, …). Wenn überhaupt, so hat Strawinsky das „Tremendum“ vertont, nicht das „Fascinosum“.

    Im ersten Abschnitt werden sogleich die beiden wichtigsten Motive des Satzes exponiert: (1) Das vierstimmig-homophone „Alleluia“, das im Alt wieder die phrygische Sekund versteckt und (2) das Laudate-Motiv, einstimmig bzw. in Oktaven geführt. (Letzteres ist übrigens die Keimzelle der später komponierten „Symphony in C“.) Auch das „Laudate Eum in firmamento virtutis Ejus“ wird von diesem Motiv getragen. – Das Orchester beschränkt sich fast auf Grundton, Quinte und Oktav (C/G), die wenigen Mehrklänge heben sich umso deutlicher hervor.

    Der Einsatz der Hörner mit in Achteln repetierten Akkorden (nach ca. zwei Minuten) markiert den Beginn des zweiten Abschnitts. Das Orchesterzwischenspiel malt „Elijah's chariot climbing the Heavens”. – Der Chor beginnt zunächst ruhig, übernimmt dann die repetierten Hornakkorde. Ansonsten stehen die langen Töne im Chor häufig quer zu den schnellen Rhythmen im Orchester.

    Die Bewegung reißt ab, übrig bleibt ein tiefes F – dritter Abschnitt. „Alleluia“. Dann sofort wieder „Elijah’s chariot“-Motivik.

    Der vierte Abschnitt. Zum Text „Laudate Eum in timpano et choro“ erscheint ein neues, weich schwingendes Motiv, beinahe Rutter statt Strawinsky. Er schließt mit einer crescendo gesungen oktatonischen Skala im Sopran: cis‘-d‘-e‘-f‘-g‘-as‘-b‘-c“, die dann mit der transponierten Form fortgesetzt wird: d“-es“-f“-ges“.

    Vorletzter Abschnitt, „Laudate Eum in cymbalis …“. „Molto meno mosso, risorosamente“. „Subito piano e ben cantabile.“ Ruhige Dreierbewegung. Die Orchesterbässe spielen ein Ostinato es-B-F-B-es-B-F-B-es- … . Der Chor singt homophon-vierstimmig in Halben. Man bedenke: Wir sind am Ende des 150. Psalms, wo Komponisten gerne mal alle Register gezogen haben.

    Schluss. „Alleluia“ und „Laudate“-Motiv. Verklingen auf C-Dur.


    Quellen.
    Deutsche und Englische Wikipedia am 22. Oktober 2016
    Klavierauszug (Boosey & Hawkes) der rev. Version von 1948
    Beihefte der Einspielungen
    - von Sir Georg Solti mit dem Chicago Symphony Orchestra and Chorus, 14.-29. März 1997
    - von Sir Simon Rattle mit dem Rundfunkchor Berlin und den Berliner Philharmonikern, 20.-22. November 2007
    Ferner dieser ausgezeichnete Beitrag im Netz: http://www.cco.caltech.edu/~tan/Stravinsky/sop.html

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Danke an MB - schöner Thread, professionelle Einführung.

    Sehr interessant fand ich etwa den Hinweis auf den Messiaen-Modus sowie die Rolle der Präposition of.

    Über meine drei, vier Einspielungen kann ich aktuell noch nichts Detailliertes beitragen; dazu bräuchte ich eine aktualisierte Hörerfahrung.

    Nur so viel: Abgesehen davon, dass mich das Werk seit über vier Jahrzehnten per se fasziniert, erscheint der Schluss für mich als ein Musterbeispiel effektvoller Reizharmonik mit den denkbar einfachsten Mitteln (der Schluss als solcher und eben primär im größeren Kontext). Mauerblümchen hat die finale Passage oben beschrieben. Einfach genial - quasi in jeder Hinsicht und unter Umgehung einer wissenschaftlichen Definition des Adjektivs ... :versteck1: :D
    :cincinbier: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • Pierre Boulez (1999)

    (P) 1999 Deutsche Grammophon 457 616-2 [19:59]
    rec. Februar 1996 (Philharmonie Berlin)
    (Revised Version 1948)

    Rundfunkchor Berlin
    Berliner Philharmoniker
    D: Pierre Boulez

    Eine wohldosierte, klar strukturierte Interpretation mit zurückhaltendem Gestus, die dadurch aber an Intensität gewinnt. Eine dynamische Aufnahmetechnik bringt das Werk vorzüglich zur Geltung. Toll... :thumbup:


    jd :wink:

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • Oh weh, oh weh

    Ich habe das immer als Palmensinfonie gelesen, wo er doch mal in Los Angeles war.
    Gruß aus Kiel

    Kleiner Scherz am abend.

    "Mann, Mann, Mann, hier ist was los!"

    (Schäffer)

  • Ich habe das immer als Palmensinfonie gelesen, wo er doch mal in Los Angeles war.


    Scherzkeks ... ;) ... ich hab auch immer Klempner gelesen. :D Und gehört ... :megalol:

    Ansonsten: Danke für Eure Rückmeldung!

    Abgesehen davon, dass mich das Werk seit über vier Jahrzehnten per se fasziniert,


    Ich fand das Werk stets seltsam. Keine der Erwartungen, die ich bewusst oder unbewusst an eine geistliche Komposition mitbringe, wird hier erfüllt. Das gilt vor allem für Strawinskys eigene Aufnahme, die am 30. März 1963 in Toronto mit den Festival Singers of Toronto und dem CBC Symphony Orchestra entstanden ist. Das klingt ziemlich objektiv und sachlich, bisweilen gar spröde. Da haben andere wie Bernstein oder Rattle doch mehr Emotion in das Stück hineingetragen oder herausspielen und –singen lassen, je nachdem.

     

    Strawinsky lässt den Chor im ersten Satz vergleichsweise hart singen. Die Bläser spielen mit scharfer Artikulation. Das ist alles andere als ein Ohrenschmeichler, hat aber seinen eigenen lakonischen Reiz. Mr. Spock komponiert (das gilt eigentlich für das ganze Werk).

    Der zweite Satz klingt m. E. äußerst objektiv und sachlich. Religiöse Aura nehme ich nicht wahr. Die Fuge ist eine kühle Angelegenheit.

    Erst im letzten Satz klingt für mich so etwas wie Ergebung an – im „Alleluia“-Motiv, weniger im „Laudate“-Motiv. Aber auch hier überwiegt das quasi emotionslose Skandieren des Textes. Erst bei dem weich schwingenden „Laudate Eum in timpano et choro“ wird der Tonfall etwas verbindlicher, noch mehr dann im vorletzten Abschnitt „Laudate Eum in cymbalis“

    Das Werk wird gerne als neoklassizistisch bezeichnet. Mag sein. Vor allem passt es wohl in eine neoklassizistische Phase Strawinskys. Da müssten die Experten zum Komponisten etwas sagen. Ja, jeder Romantizismus ist dieser Musik gründlich ausgetrieben. Besonders in Strawinskys eigener Aufnahme, die mir vor dem Hintergrund der Aufnahmen von Bernstein und Rattle wie ein notwendiges Korrektiv erscheint.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Manchmal ist man wie blöd ... Jetzt habe ich festgestellt, dass ich die Bernstein-Aufnahme von 1972 nicht nur in der Sony-Box „Leonard Bernstein. The Symphony Edition“ habe, sondern auch auf einer Einzel-CD, die in einer alten fliederfarbenen 5-CD-Box mit dem Namen „Leonard Bernstein – seine frühen Jahre in Amerika“ steckt, die es in den späten 1980er Jahren mal bei Bertelsmann gab. Im Beiheft dieser Einzel-CD ist ein Kommentar zum Werk von Strawinsky selbst zu finden:

    According to my plan, my Symphony was to be a work with substantial contrapunctual development and for that I felt the need to enlarge the means at my disposal. I finally arrived at a choral and instrumental ensemble in which these two elements would be granted equal rank without any predominance of one over the other. In this respect, my point of view on the mutual relations of the vocal and instrumental parts coincided with that of the old masters of contrapunctal music who also treated them as equals and who neither reduced the role of the chorus to a homophonic chant nor the function of the instrumental ensemble to that of an accompaniment.

    As to the words, I sought them among texts specifically created to be sung. And quite naturally, the first idea that came to mind was to have recourse to the Psalter …

    The juxtaposition of the three psalms is not fortuitous. The prayer of the sinner for divine pity (prelude), the recognition of grace received (double fugue), and the hymn of praise and glory are the basis of an evolutionary plan. The music which embodies these texts follows its development according to its own symphonic law. The order of the three movements presupposes a periodic scheme an in this sense realizes a ‘symphony’. For a periodic scheme is what distinguished a ‘symphony’ from a collection of pieces with no scheme but one pf succession, as in a suite.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Ich mag die Psalmensinfonie sehr, obwohl ich keinerlei religiösen Bezug habe. Einfach als Musik. Besonders mag ich den Mittelsatz. Lange Zeit war Solti mit dem CSO

    meine einzige Aufnahme, mit der ich immer sehr zufrieden war und bin. Irgendwann kaufte ich mir die damalige Neuerscheinung

    und war enttäuscht. Es "bleibt" also bei Solti. Übrigens sind auch die anderen beiden Sinfonien auf der CD toll.

    maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Die höchst versierte Einführung von MB hat für mich für dieses Werk hier mehr Aufwand, als es für meinen Geschmack nötig wäre. Im Gegensatz zu Wolfgang (Andrejo) bin ich von der Psalmensinfonie lange nicht so fastziniert, wie er ... ;) der Gesang dort ist halt nicht meine Klangwelt.
    Ganz früher hatte ich die Psalmensinfonie mal in einer Strawinsky-CBS-LP-Box mit der Strawinsky-eigenen Aufnahme, die MB auch nannte; aber ich glaube nie in Gänze gehört ... :versteck1:

    Ich habe auf CD die von MB angesprochene Bernstein-Aufnahme von 1972 auf abgebildeter CD, die ich aber hauptsächlich wegen der Pulcinella-Suite goutiere:


    SONY, 1972, ADD


    Interessant sind die in diesem Thread angesprochenen Aufnahmen von Boulez (DG) und besonders Solti (Decca), die ich schon seit Jahren im Auge habe, aber bisher immer im unerschwinglichen Hochpreis waren. ;) Zumindest, was ich bereit wäre dafür auszugeben. :alte1: Wegen der Sinfonie in drei Sätzen (die ich bereits in den herausragenden Aufnahmen mit Strawinsky (CBS) und Dutoit (Decca)) habe, sowie der gekoppelten Sinfonie in C, habe ich mir die von maticus abgebildete Decca-CD mit Solti bestellt (die derzeit für knapp über 3€ bestellbar ist).
    :cincinsekt: Bin gespannt wie Freund Solti sich bei den Interpretation beider Sinfonien schlägt, die ja auch bei der Psalmensinfonie (laut maticus) ordentlich sein soll ...

    ______________

    Gruß aus Bonn

    Wolfgang

  • Ich fand das Werk stets seltsam. Keine der Erwartungen, die ich bewusst oder unbewusst an eine geistliche Komposition mitbringe, wird hier erfüllt. Das gilt vor allem für Strawinskys eigene Aufnahme, die am 30. März 1963 in Toronto mit den Festival Singers of Toronto und dem CBC Symphony Orchestra entstanden ist. Das klingt ziemlich objektiv und sachlich, bisweilen gar spröde.

    Lieber mb,
    nun fand ich das Werk immer dann seltsam, wenn eine Interpretation zur Verbindlichkeit neigte.
    Dieses spröde, unverbindliche, das Ancerl auch so liest, war mir immer der nähere Zugang zu diesem Werk.

    Ich weiß noch, als ich vor Jahrzehnten den "Oedipus Rex" mit Ancerl kaufte, auflegte und in Tränen ausbrach. Eben nicht, weil das nun eine Saite in mir angerissen hätte von Verbindlichkeit und einer Art Sentiment, sondern weil es mir einen Eindruck gab von griechischer Tragödie. Eben spröde, sachlich, objektiv. Kühl geradezu, logisch, vernünftig, auch mathematisch, formbezogen.
    So empfand ich das: in erster Linie als "Kopfmusik", erst in der Konsequenz emotional nachvollziehbar.
    Solchen "Bauchdirigenten" wie Bernstein und Solti folgend, konnte ich dem Werk nie etwas abgewinnen.

    Bin diesem Eindruck gerade wiederbegegnet, hörte einen Mitschnitt der "Pulcinella" mit Szell.
    Auch das: fast kaltblütig eisig, logisch, abgezirkelt. Das Vergnügen entsteht erst im zweiten Schritt des Hörens, in der Reflexion.
    Die meine sein sollte als Hörer, nicht die des Dirigenten.

    Boulez hinterlässt bei mir mit Strawinsky einen zwiespältigen Eindruck: den, es irgendwie allen rechtmachen zu wollen.
    Was ungewöhnlich ist, manchmal hilflos wirkt und unfähig zu einer Entscheidung.
    Ancerl ist weitaus eindeutiger in seiner Lesart und bedarf nicht des Beifall des Hörers wie eben Lenny oder Solti.

    Hab ich jetzt irgendwas Sinnvolles geschrieben?
    Na, ich weiß nicht....
    Herzliche Grüße,
    Mike

    "Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst." Voltaire

  • Bitte mehr über die wenigen gelungenden Werke.

    Es scheint da mehr zu geben.

    Hauptsach wir wissen, dass es da eine ganze Reihe mehr bei Strawinsky gibt, lieber Michael,
    auch wenn es auch bei mir persönlich nicht so ganz die Psalmensinfonie dazu gehört.
    Für mich ist die Sinfonie in drei Sätzen der Hammer. Deshalb habe ich die mit Solti noch dazu bestellt, der mich im Gegensatz zu Mike (siehe Vorbeitrag) bei sinfonischer Musik noch nie enttäuscht hat.
    Solti und Bernstein bedürfen keines Beifalls ... sie haben ihn !

    Lieber Mike,
    du bist wirklich der Erste, der schreibt, dass "Boulez bei Strawinsky einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt". Ich habe die wichtigsten Ballette neben anderen Vergleichsaufnahmen alle mit Boulez. Ich finde er gehört von dieser Auswahl von Dirigenten (Strawinsky, Chailly, Solti, Swetlanow, Fedossejew, C.Davis, Dutoit, Marriner) mit zu den Besten. Warum: Mehr intensive Detailarbeit gepaart mit Ausgewogenheit und die nötige Emotion an den richtigen Stellen findet man lange nicht überall.

    Abgebildete Doppel-CD empfinde ich als ein Positivbeispiel für Boulez als erstklassigen Strawinsky-Dirigenten:

    SONY, 1967 - 1975, ADD

    ... nun aber wieder zur Psalmensinfonie ---->...

    ______________

    Gruß aus Bonn

    Wolfgang

  • Sehr informativer Review, danke! Ist auch mein Lieblings-Stravinsky.

    ... Alle Menschen werden Brüder.
    ... We need 2 come 2gether, come 2gether as one.
    ... Imagine there is no heaven ... above us only sky

  • Ancerl Revisited

    Tja Mike, da sind wir uns in Sachen Ancerl mal einig.
    Aber wir sind nicht allein, denn Classicstodays beginnt die Rezension mit

    Zitat von Classicstoday

    No need to mince words here: this is the finest Symphony of Psalms available, certainly the best featuring a full chorus of men and women

    Leider waren/sind Ancerls Aufnahmen im Westen nicht prominent vertreten. So haben die damals führenden Plattenfirmen (CBS, DECCA, EMI, DGG) sich durchgesetzt.
    Gruß aus Kiel

    "Mann, Mann, Mann, hier ist was los!"

    (Schäffer)

  • Ich kenne das Werk durch diese Aufnahme mit Herreweghe

    Auch sie kommt bei Classics Today nicht schlecht weg.
    http://www.classicstoday.com/review/review-15419/


    Zitat von David Hurwitz

    In the Symphony of Psalms the swift tempos, smallish chorus, and ideal balances between voices and instruments are hard to beat. In the second movement, at figure 12 after the first large choral exordium, there is a still moment for the lower strings and solo trombone (with the fugue theme) that is heart-stoppingly beautiful. You may miss the richness and power of Ancerl’s choir, but of its type this version is terrific.

    Hudebux

  • Interessant, dass der zur Kirche zurückgekehrte Komponist gerade diesen Text satztechnisch wie klanglich hervorhob.

    Eigentlich nicht überraschend - nur, daß diese Partie tatsächlich eine der ist, wo die Dissonanzen mit am stärksten hörbar werden - das "neue Lied" ist tatsächlich ein Neues, dem man die Freude am Schrägen wirklich anhört.

    Ganz gleich ob man dem Werk nun einen Status als "Symphonie" zugesteht oder es wie Du unter die Vokalwerke einsortiert - wobei der Gedanke, das "Symphonie" als Titel zu begreifen wie "die Forelle", schon recht, nun ja, postmodern anmutet - es war für mich eine echte Neuentdeckung, es unter Zuhilfenahme Deiner Beschreibung nochmal bewußt zu hören.
    Danke dafür!

    Die Mischung aus "typisch Strawinsky"-Sprödigkeit und den gerade in ihrer zurückgenommenen Opulenz besonders berührenden Partien - hier denke ich vor Allem an Anfang und Ende des dritten Satzes - ist sehr apart - als erlaubten gerade die "sachlichen", dissonanten Elemente auf der anderen Seite so entspannte Partien wie kurz vor Schluß die Klänge über dem Bass-Ostinato - für mein Ohr klingt da viel major7 - (auf "videbunt" im 2.Satz waren die mir auch schon mal aufgefallen) ..

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • hat eigentl. jmd. die ''Interpretationen''-Sendung über die Ps.sinfonie (am 19.10.21 / mit Cambreling als zugeschalteten Gesprächspartner) mitgeschnitten oder seinerzeit gehört und sich irgend was von gemerkt ?? die Sendung scheint in keiner Mediathek mehr vorhanden und auch von meiner digitalen Festplatte irgend wann gelöscht worden zu sein... >kann mich selbst nur noch erinnern, dass Cambreling von der oben erwähnten Bernstein-Aufnahme 'not amused' (sehr höflich ausgedrückt!) gewesen ist!<

    aber weswegen ich hier eigentl. poste: das Schostakowitsch-Arrangement ist am verg. SA vom BR-Chor (unter seinem altem und neuen Leiter Peter Dijkstra) und dem Klavier-Duo Lucas & Arthur Jussen aufgeführt worden und kann derzeit noch 'nachgesehen' werden (ab 14:50) BR-Chor: Liberté – Willkommen, Peter Dijkstra! | BR-KLASSIK CONCERT | BR-KLASSIK | Bayerischer Rundfunk

    :wink:

    Das TV gibt mehr 'Unterhaltung' aus, als es hat - in der bürgerl. Gesetzgebung nennt man das 'betrügerischen Bankrott' Werner Schneyder Es ging aus heiterem Himmel um Irgendwas. Ich passte da nicht rein. Die anderen aber auch nicht. FiDi über die Teilnahme an seiner ersten (und letzten) Talkshow

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