Vom Konzertleben in Dresden

  • Die Capell-Virtuosin der Dresdner Staatskapelle Julia Fischer beeindruckte mit ihrem Bach-Rezital in der ausverkauften Semperoper


    Die frühen Impulse des Auslotens eines mehrstimmigen Spiels auf der Violine sind von den in Dresden tätigen Geigern Johann Jakob Walter (1650-1717) und Johann Paul Westhoff (1656-1705) ausgegangen. Walter, der über sieben Ecken mit Johann Sebastian Bach (1685-1750) verwandt war, diente von 1674 bis 1680 als „primo violonista da camera“ am Dresdner Hof, während Westhoff von 1674 bis 1697 als Sprachlehrer der sächsischen Prinzen auch in der Dresdner Hofkapelle wirkte.

    Beide komponierten und gehörten zu den führende Violinisten ihrer Zeit. Eine 1696 von Westhoff herausgegebene Zusammenstellung von sechs Partititen nahm der von 1712 bis 1755 als erster Geiger sowie als Hofkapellmeister in Dresden tätige Johann Georg Pisedel (1687-1755) auf und komponierte eine „Sonata a violino solo senza basso“.

    Johann Sebastian Bach, der seinen Köthener Fürsten Leopold von Sachsen-Anhalt zu den jährlichen Kurreisen nach Karlsbad begleitete, lernte bei den Reiseunterbrechungen in Dresden die Aktivitäten der hiesigen Violinisten kennen. Bach hatte gewiss in Karlsbad die Bekanntschaft mit den Rosenkranz-Sonaten des Salzburgers Heinrich Ignaz Franz Biber (1644-1704) gemacht, deren Schluss von einer unbegleiteten Passacaglia gebildet war. In Köthen, wo sich Bach als Hofkapellmeister sowie Direktor der Kammermusik richtig wohlfühlte und offenbar seine kreativste Zeit verbrachte, konnte seinem Umgang mit der Violine entwickeln. Mit bis zu siebzehn qualifizierten Musikern, die zum Teil aus der aufgelösten Kapelle des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. stammten, schuf er neben den sechs „Brandenburgischen Konzerten“, den „englischen Suiten“ BWV 806-811, dem „wohltemperierten Klavier“ BWV 846-893 , Violinkonzerten 1041 bis 1043 die besagten „ Sei Solo a Violino senza Basso accompagnato“, die Sonaten für Violine-Solo BWV 1001 bis 1006.

    1720 starb nach dreizehn Ehejahren Bachs Ehefrau Maria Barbara. Die Köthener Heimat- und Bachforschung bezweifelt inzwischen, dass Bach erst nach der Rückkunft aus Karlsbad von ihrem Begräbnis erfahren habe. Denn Frau Maria Barbara ist nachweislich mit „großer Musik zu Grabe getragen worden“. Und wer sollte das in Köthen organisiert haben, wenn nicht Johann Sebastian. Auch sei Fürst Leopold 1720 früher als üblich aus Karlsbad zurückgekommen, weil ihm die Reisekasse ausgegangen war. Das Zitat im Nekrolog Carl Philipp Emmanuels Bachs (1714-1788), das die Bachliteratur beherrscht, ist offenbar einem effekthaschendem Bach-Sohn geschuldet:

    "Nachdem er <Bach> mit dieser seiner ersten Ehegattin 13. Jahre eine vergnügte Ehe geführet hatte, wiederfuhr ihm in Cöthen, im Jahre 1720 der empfindliche Schmerz, dieselbe, bey seiner Rückkunft von einer Reise, mit seinem Fürsten nach dem Carlsbade, todt und begraben zu finden; ohngeachtet er sie bey der Abreise gesund und frisch verlassen hatte. Die erste Nachricht, daß sie krank gewesen und gestorben wäre, erhielt er beym Eintritte in sein Hauß".


    Aus dieser Zeit stammt Bachs Reinschrift der Partitur der als BWV 1001 bis 1006 bekannten Kompositionen für Violine-Solo, die er als einen Grabstein für die Verlorene betrachtete. Die etwas neidischen Weimaraner, wo Bach von 1708 bis 1717 am Hofe des Herzogs Ernst August I. (1688-1748) wirkte, glauben mit Stilvergleichen und Handschriftanalysen belegen zu können, dass er zumindest Frühfassungen der Stücke für Solovioline in seiner dortigen Zeit geschrieben hat.

    In ihrem Rezital spielte Julia Fischer aus dem Zyklus der „Sonaten und Partiten für Violine Solo“ die in italienischer Form gestalteten „Sonatas da chiesa“ in g-Moll, a-Moll und C-Dur.

    Sie demonstrierte mit einer berückenden Leichtigkeit ihre Fertigkeiten des polyphonen Spiels und weckte große Emotionen. Modische Übertreibungen oder oft gehörte hochdramatische Extravaganzen waren nicht ihre Sache. Dafür verfügt die Violinistin über Lösungen, von Bach aufgerichtete kompositorische Hürden in den mehrstimmigen Partien interpretorisch zu überwinden.

    Ihre Interpretation entwickelte sich von der majestätischen Eröffnung der g-Moll-Sonate zu Bachs Suche nach Trost in der a-Moll-Sonate, bis sich mit der C-Dur-Sonate seine Verzweiflung auflichtete.

    Immer blieb das musikalische Geschehen in perfekter Balance. Die Tempi waren leicht und locker, dabei jede Phrase klar strukturiert gestaltet. Die Unaufgeregtheit Julia Fischers, die spieltechnischen Herausforderungen natürlich und ungezwungen anzugehen, machte es ihr möglich, uns in den musikalischen Hergang sowie in Bachs Gedankenwelt mitzunehmen.

    Unterstützt wurde die Wirksamkeit des Spiels der Julia Fischer vom phantastischen Klang ihres Instruments, einer 1742 in der Werkstatt Giovanni Battistas Guadagnini (1711-1786) gebauten Violine.

    Mit der Zugabe, der Sarabande aus der zweiten Partia d-Moll BWV 1004 verabschiedete Julia Fischer ein bewegtes Auditorium, das die Semperoper bis zum zweiten Rang komplett gefüllt hatte.

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  • Dafür verfügt die Violinistin über Lösungen, Bachs kompositorische Hürden in den mehrstimmigen Partien zu überwinden.

    ich vermute mal, es sind "interpretorische Hürden" gemeint. Die "kompositorischen" wähne ich seit ca 300 Jahren "überwunden".


    (kann mich in letzterem natürlich auch täuschen. Hat Julia Fischer in den Notentext eingegriffen?)

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Bachs h-Moll-Messe zum Gedenktag am 13. Februar 2023

    Philippe Herreweghe gestalte Johann Sebastian Bachs Monumentalwerk


    Aus heutiger Sicht ist es fast unglaubbar, dass Johann Sebastian Bachs (1685-1750) gewaltige h-Moll-Messe BWV 232 als Collage entstanden war. In seinen letzten Lebensjahren katalogisierte der Thomaskantor zwischen August 1748 und Oktober 1749 sein vokal-instrumentales Schaffen und fügte Rückgriffe bis aus den Jahren seiner Weimarer Zeit 1714 mit wenigen Neukompositionen zusammen.

    Bachs Genie ist es zu verdanken, dass wir seine Zusammenstellung von Tondichtungen aus 25 Lebens- und Schaffensjahren als „einen Meilenstein“ der Musikgeschichte betrachten können. Es bleibt unbekannt, ob der protestantische Kantor und Leipziger Musikdirektor einen Auftrag oder eine äußere Anregung für eine katholische Messe erhalten hat.

    Gesichert bleibt, dass der in Leipzig mäßig bezahlte Bach sich 1733 mit einer h-Moll-Messe (Missa BWV 232 I) beim katholischen Kurfürsten Friedrich August II. um eine Stellung als Musiker am Dresdner Hof bewarb und nach drei Jahren als „Compositeur“ für den evangelisch verbliebenen Teil des Hofes ernannt worden ist. Dabei verhielt sich der Bürgerkantor eher ironisch dem Dresdner Hofmusikleben gegenüber: „Da wollen wir mal die Dresdner Liedchen hören“ soll er seinem Sohn zugeraunt haben, als beide am 13. September 1731 die Premiere von Johann Adolph Hasses „Cleofide“ im „Großen Opernhaus am Zwinger“ besuchten.

    Bach bedankte sich 1736 beim Kurfürsten mit einer Abschrift seiner „Missa Brevis“, die ihrerseits möglicherweise eine Auftragsarbeit für die Wiener „Musikalische Congregation“, einer Bruderschaft von Musikern und adeligen Kunstmäzenen, war.

    Andere Musikwissenschaftler verorten Bachs Verbindungen nach Wien auf später und bringen sie mit seinem musikalischen Resümee, der Missa h-Moll BWV 232, in Verbindung. Der Bach-Forschung bleiben noch viele offene Fragen.


    Die Noten für fünfstimmigen Chor „Kyrie und Gloria h-Moll“ aus dem Jahre 1733 dürfte Bach als Kernstück seiner Anthologie „Missa h-Moll“ genutzt haben. Rückgriffe auf ein bereits 1724 entstandenes lateinisches Sanctus und deutsche Kantatensätze deren Komposition bis 1714 zurückreichen, wurden modernisiert und mit eigenständigen Kompositionen ergänzt. Aus der Weimarer Chor-Passacaglia „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ wird das „Crucifixus“ im Zentrum des Credos, dem Bach die Überschrift „Symbolum Nicenum- Glaubensbekenntnis von Nicäa“ gab. Die 1743 für den Dresdner Hof geschriebene Weihnachtsmusik „Gloria in excelsis Deo“ BWV 191 wurde als Gloria übernommen und Parodien auf Sätze älterer Huldigungsmusiken bildeten die Grundlage für die Vertonung des „Osanna, Benedictus“ im Sanctus und für das „Agnus Dei“. Für das abschließende Chorfinale „Dona nobis pacem“ kopierte er die Musik des „Gratias“ aus im bereits bei Gloria Verwendeten. Neu komponiert wurden offenbar nur die Sätze 13 (Credo in unum Deum), 16 (Et incarnatus) und 20 (Confiteor).

    Aus der Verschiedenheit der musikalischen Formen, der Besetzung und Instrumentation ist ein Werk mit beeindruckender innerer Einheit des Bachschen Kosmos entstanden.

    In konfessioneller Hinsicht war die katholische Messe für den Protestanten ein heikles Wagnis, so dass gelegentlich von einem Akt früher Ökumene vermutet wird. Weil Bach in der h-Moll-Messe so verschieden Stücke aus unterschiedlichen Lebensphasen vereinte, funktioniert sie als Zusammenfassung seines Schaffens in einer Kirche, wie auch im Konzertsaal gleichermaßen bei Katholiken und Protestanten, wirkt bei Agnostikern und Atheisten. Es ist Geistliches und Weltliches vertreten, alles was Bach für Sänger und Musiker geschrieben hat. Aber es findet sich in der gigantischen Schöpfung kein sogenannten „Ohrwurm“.

    Der 1947 im Flandrischen Gent geborene Philippe Herreweghe hatte uns mit dem Collegium Voccale Gent am 13. Februar 2018 mit Johann Sebastian Bachs „Johannes-Passion“ bereits tief beeindruckt. Nachdem das „Konzert zum Gedenken der Zerstörung Dresdens“ am 13. Februar 2021 von Herreweghe mit Bachkantaten nur als Rundfunkkonzert gestaltet werden konnte, waren wir erfreut, den Barockspezialisten mit seinem lebendigen und authentischen Interpretationsansatz im diesjährigen Konzert wieder erleben zu dürfen.

    Das auf seine Initiative im Jahre 1970 gegründete „Collegium Voccale Gent“ begleitete ihn mit seiner schlanken Chorbesetzung auf seinem Weg zum überragenden Bach-Interpreten mit immenser Vielfalt der musikalischen Formen und Stile. Mit seinem textorientierten, rhetorischen Ansatz setzte Herreweghe Bachs Bündelung des Reichtums seiner kompositorischen Möglichkeiten mit dramatischer Spannung um.

    Der Dirigent setzte, unterstützt von der mit mittlerer Orchesterbesetzung aufwartenden Sächsischen Staatskapelle auf fein differenzierte leise ausdrucksvolle Töne.

    Bereits beim einleitenden Kyrie bestach der Chor in seiner verhaltenen Bitte um Erbarmen, die von der Sopranistin Dorothee Mields und der Mezzosopranistin Sophie Harmsen aufgenommen, weiter geführt wurde. Flehentlich begann auch das Gloria. Ein kraftvoll strahlendes „in excelsis Deo“, das dem Wechsel von Chorpassagen folgte, wurde von den Solisten in einem imposanten Spannungsbogen zu dem unter die Haut gehendem Schluss des „Gloria“ gebracht.

    Auch im „Credo“ fand der Chor mit „Et incarnatus est“ angesichts der geheimnisvollen Menschwerdung Gottes und dem Glaubensbekenntnis den angemessen ehrfürchtigen Ton. Wo es hingehörte, erschallten aber die Stimmen kraftvoll und prächtig, jubelten imposant Pauke sowie Trompeten, wenn sie am Ende des Credo mit „Et expecto resurrectionem“ die dramatische Auferstehung Christi mit Triumph bejubeln, dabei Erwartungen auf die kommende Welt wecken. Im Chor imponierten seine feine dynamische Koordinierung der Stimmen und die präzise rhythmische Gestaltung im Spannungsfeld zwischen Ernst und Freude.

    Geradezu erhaben, entrückt und überirdisch entwickelte Philippe Herreweghe die Schlussphase seiner Interpretation mit einer faszinierenden gerade in unserer gegenwärtigen Situation so wichtigen Bitte um Frieden.

    Ein Glanzpunkt des Konzertes war die Besetzung der Solisten:

    Mit der Sopranistin Dorothee Mields und der Mezzosopranistin Sophie Harmsen waren starke Sängerinnen mit wundervollen Stimmen beteiligt. Sie sangen ausdrucksstark ihre Arien und gestalteten besonders eindrucksvoll ihr lyrisches Duett im „Christi eleison“.

    Der britische Altus Alex Potter, der in der Zwiesprache mit der anrührenden Oboen-Melodie im Gloria seinen Text „Qui sedes“ dramatisch und brillant ausdeutete, konnte auch im „Agnus Die“ der menschlichen Schuld eindrucksvoll Ausdruck verleihen. Imposant auch das Duett mit der Sopranistin Dorothee Mields im „Credo“.

    Einen erfreulich jungen wandlungsfähigen Tenor offerierte uns der Belgier Reinoud van Mechelen, der mit seinen Arien nicht verleugnen konnte, dass er sich auch als Countertenor versucht. Besonders das Duett mit Dorothee Mields im Gloria wird in Erinnerung bleiben.

    Der kroatische Bass-Bariton Krešimir Stražanac sang seine Arien energisch und hervorragend artikulierend.

    Die Musiker der Sächsischen Staatskapelle unterstützten den Chor und die Solisten mit festlichem Streicherklang, zupackendem Bläsereinsatz sowie Continuo-Parts, sicherten dank ihrer geschmeidigen Eleganz und filigranen Transparenz des Klanges den Gesamteindruck des Konzertes.


    Traditionell gab es statt des Schluss-Beifalls eine Gedenkminute, so dass wir emotionsbelastet das Haus verlassen mussten.

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  • Untote auf Lebenszeit


    Aribert Reimanns „Gespenstersonate“ am 17. Februar 2023 auf der Studiobühne „Semper Zwei“ in Dresden


    Von den über sechzig Dramen des bedeuteten schwedischen Autors August Strindberg (1849-1912) ist die 1906 entstandene scharfsinnige und kluge Gesellschaftsanalyse „Spöksonaten“ sein schrillstes Werk. Als Bewunderer Ludwig van Beethovens ließ sich Strindberg von dessen Sonate d-Moll op. 31 Nr. 2 inspirieren und gab dem Drama eine kammermusikalische Sonatenform.

    In den 1980-er Jahren gewann die Berliner Festspiele GmbH den 1936 geborenen Komponisten und Musikwissenschaftler Aribert Reimann, für das Festival eine Kammeroper zu komponieren. Über die Umstände der Auftragsvergabe gibt es nur wenige Informationen. Ob die Wahl auf Strindbergs „Spöksonaten“ vom Komponisten oder vom Auftraggeber ausging, war nicht zu eruieren. Das etwas merkwürdige Verfahren der Auftragsvergabe bleibt rätselhaft, weil Reimanns zwölftönige Methode mit ihrem zersplitterten Klang am Anfang der 1980-er Jahre eigentlich keine wirkliche Avantgarde mehr war. Mit seinem schwer erkrankten Freund Uwe Schendel (1953-1994), dem er nach dessen Tode die Vertonung von sieben Texten für Sopran und Orchester widmete, schuf der Komponist das Libretto in deutscher Sprache.

    Mit welcher Situation sind wir konfrontiert: ein adliger Oberst, dessen Frau seit Jahren wie eine Mumie in einem Wandschrank haust, deren schöne, kränkliche Tochter aber ehebrecherisch mit dem Direktor Hummel gezeugt worden war, und die verflossene Verlobte des Direktors treffen im großbürgerlichem Haus des Oberst aufeinander, um gemeinsam zu soupieren. Ein Student, der mit Verstorbenen kommunizieren kann, erfährt nach einem traumatischen Rettungseinsatz vom Mord an einem Milchmädchen und trifft den Direktor Hummel, den „Alten“. Dieser führt ihn mit dubiosen Absichten in diese Gesellschaft. Der Student Arkenholz beginnt seine Ermittlungen, verliebt sich in die Tochter, scheitert aber.

    Im Verlaufe des Essens kommen sukzessive die verborgenen Geheimnisse der Beteiligten ans Licht, öffnen sich deren tiefen Abgründe, so dass das Treffen zu einer schonungslosen Abrechnung für Alle wird. Keiner der Beteiligten kann seine Ziele verwirklichen. Der Mörder wird in den Suizid getrieben.

    Mit ihrer Inszenierung zielte Corinna Tetzel auf die durchaus aktuellen Aspekte der literarischen Vorlage und setzte den merkwürdigen Zwitter von Mystizismus und Okkultismus des August Strindberg als psychologisch aufgeladenes Sozialdrama um, arbeitet dabei psychologische Spitzfindigkeiten heraus.

    Die Figuren, die sich innerlich fremd sind, erlauben der Regie, zwanglos Distanz unter ihnen einzuhalten und das Bühnengeschehen zwischen grotesk und traumhaft zu gestalten. Daraus entwickelte sich eine hochkreative Personenführung mit in Teilen intensiven Bewegungen oder marionettenhaften Gebaren.

    Die Bühne von Judith Adam und Jürgen Fahlbusch wurde von drei übereinander angeordneten kreisrunden Podesten gebildet. Um diese Podeste waren scheinbar anarchisch Abtrennungen, Durchbrüche, Spiegel etc. angeordnet, die zur Schaffung wechselvoller Spielräume gezielt herumgeschoben werden konnten.

    Auf und vor dieser Podest- Anordnung bewegten sich die Sängerinnen, die Sänger und die zum Teil schwer zuzuordnende Komparserie.

    Die bei „Semper Zwei“ fehlende Distanz zu den Agierenden bezog die im Halbkreis um diese Podest Anordnung gruppierten Sehenden und Hörenden in das Bühnengeschehen unmittelbar ein, erlaubte ihnen eine individuelle Bewertung der Affären. Die Kostüme verorteten den Hergang in der Gegenwart.

    Bei aller Skurrilität zwang uns diese Situation zur Reflexion, ob wir uns als Personen näher am Studenten, am Oberst oder gar an den Bediensteten vermuten.

    Die Instrumentalisten des Projektorchesters waren hinter dem linken Publikumsbereich angeordnet. Die aus Korea stammende Yura Yang führte die Musiker und die neun Solisten sicher durch Reimanns Partitur-Irrgarten. Bei der Umsetzung der kruden Psychologie der Geschichte setzte sie auf die Klangwirkung der Instrumente in extremen Lagen. Wie improvisierend hingeworfene Details wechselten mit einer jeder Figur begleitenden Melodielinien.

    Mit immer wieder verblüffenden Kombinationen legte sie psychologische Ebenen frei, setzte den Dissonanz-Reichtum der Partitur fesselnd, leidenschaftlich und akribisch um. Dabei gelang es Yura Yang, die Sänger bei den unglaublich schwierigen Passagen so weit als möglich zu unterstützen.

    Ein präsentes Sängerensemble gewährleistete den Erfolg des Premierenabends.

    Mit einer prachtvollen Stimme und düsterer Durchschlagskraft gestaltete der Amerikaner Andrew Nolen den Intriganten, Verführer und Mörder Direktor Hummel, den „Alten“, wenn er sich zum selbsternannten Richter aufspielte. Mit massiv betonten Argumentationen deckte er scheinbar schonungslos die Geheimnisse der Beteiligten auf, bis er sich verhedderte, selbst auf der Anklagebank landete und sein eigenes Ende heraufbeschwört.

    Schneidig und stimmlich präsent versuchte Jürgen Müller die Abgründe des Obersts zu verschleiern. Mit einer wohlanständigen Fassade, er trug seine Orden sogar auf der Unterwäsche, versuchte er den Verführer seiner Frau zu vernichten, kommt dabei selbst in Schwierigkeiten.

    Die Ehefrau des Obersts, die papageienhaft agierende Mumie, war von Sarah Alexandra Hudarew zu einer beklemmenden Studie gestaltet worden: zwischen dem psychischen Elend der verlebten Frau, dem grotesken Irrsinn der Greisin und der brutalen Erkenntnis eines frustrierten Lebensrückblicks zeichnete sie eine der typischen Frauenfiguren Strindbergs. Trotzdem ermöglichte ihr die Inszenierung die Kraft, ihren ehemaligen Geliebten und Vater der ehebrecherisch entstandenen Tochter zu vernichten.

    Einen ernsthaften Aspekt brachte die aus Pulsnitz stammende Jennifer Riedel mit der Gestaltung der bedeutsamsten Frauengestalt des Abends in die Oper. Die Tochter der Mumie und des Direktors Hummel, das Fräulein, bleibt unfähig, sich aus dem unheilvollen Trug ihrer Existenz zu lösen. Sie bleibt ihre Bindung an die Hyazinthen treu und vermag sich nicht zu ihrer Liebe zum Studenten zu bekennen. Mit bezwingend halsbrecherischen Koloraturen, verkörperte sie eindrucksvoll das zerbrechliche Zwischenwesen.

    Im Figurenarsenal leisten die Dienerfiguren mit ihren geschwätzig komödiantischen Aufgaben einen Anteil an der Gesellschaftskritik der Aufführung, wenn über sie der Zuhörer jenes erfuhr, was ihre Herrschaften zu verschweigen versuchten.

    Aalglatt, schmierig gespielt und gesungen kam der Bedienstete des Oberst Bengtsson von Matthias Henneberg daher. Dem gegenüber blieb das Faktotum des Direktors Hummel Johansson, vom Tenor Philipp Nicklaus undurchschaubarer, unterwürfiger angelegt, wenn er vergeblich den Studenten Arkenholz vor den Machenschaften seines Dienstherren zu warnen versuchte.

    Den Studenten, der in die von Neid, Missgunst, Lug und Trug zusammengekittete Gesellschaft einbrach, hatte Aribert Reimann mit einigen Gesangspassagen ausgestattet, die etliche Grenzen eines Tenors übersteigen. Der aus Hechingen/Hohenzollern stammende Michael Plumm provozierte mit der extremen Höhenlage der Partie des Studenten Arkenholz die Geisterschau. Die Destruktionen der Geistergesellschaft hielt er mit Würde durch und schuf die Voraussetzung für eine, allerdings nur relative Umkehr der Verhältnisse.

    Weitere Hinweise auf Strindbergs Frauenbild boten die Mezzosopranistinnen Milena Juhl als die, vor Jahren vom Oberst verführt, verflossene Verlobte des Direktors und Eva Maria Summerer in der Rolle der Köchin: die unverheiratete Frau bleibe im Dunklen, während die andere als aufreizende Vampirin, als blutsaugende Mitwisserin der Geheimnisse der Macht als Gegenprinzip des Lebens agierte.

    Ungeachtet dessen, erlaubte die Regie der dunklen Dame, dass sich Milena Juhl lasziv auf den Studenten stürzte.

    Die unglaublich dichte Aufführung war gleichsam verwirrend wie berührend. Es war nie langweilig. Etwas passierte immer.

    Ein langer Beifall dankte dem Ensemble für eine starke Leistung.

  • Die Akademisten der Sächsischen Staatskapelle stellten sich am 19. Februar 2023 in der Villa Stockhausen vor


    Am Vormittag des 19. Februar 2023 hatte die Sinopoli-Akademie der Sächsischen Staatskapelle gemeinsam mit der Gesellschaft der Freunde der Sächsischen Staatskapelle in das mittlere der drei Elbschlösser, die Villa Stockhausen (umgangssprachlich: das Lingnerschloss) nach Dresden-Loschwitz zu einem Kammerkonzert eingeladen.

    Das Gebäude war 1850 bis 1853 als Wohnsitz des Kammerherrn des Prinzen Albrecht von Preußen (1809-1872), dem Baron Albert von Stockhausen )erbaut worden. Als Albrecht im Jahre 1853 sein seit 1845 bestehendes Verhältnis mit der Kammerfrau seiner ersten Gattin Rosalie von Rauch (1820-1879) mit einer „morganatischen Eheschließung“ legalisierte, musste das Paar Preußen verlassen und wohnte zunächst, während nebenan das „Schloss Albrechtsberg“ erbaut wurde, bis 1854, quasi als Untermieter bei der Familie Stockhausen. Nachdem die Villa ab dem Jahre 1891 dem Dresdner Nähmaschinenfabrikanten Bruno Naumann gehört hatte, erwarb 1906 der Unternehmer, Erfinder und Mäzen Karl August Lingner (1861-1916) das Anwesen. Der Junggeselle Lingner war vor allem mit der Vermarktung der Rezeptur eines Antiseptikums seines Freundes, des Chemikers Richard Seifert (1861-1919), dem Mundwasser „ODOL“, wohlhabend geworden, weil er Idee des Markenartikels des gekröpften Fläschchens mit dem Bedürfnis breiter Teile der Bevölkerung auf Schutz vor Infektionen in Übereinstimmung brachte. Mit Lingner verbindet sich auch die von über fünf Millionen Menschen besuchte „Erste internationale Hygiene-Ausstellung Dresden“ von 1911, die Stiftung des „Deutschen Hygiene-Museums“ im Jahre 1912 und die Gründung eines „politisch-wissenschaftlichen Archivs“ in Berlin.

    Testamentarisch übertrug Lingner sein Anwesen der Stadt Dresden und verfügte die Gestaltung als eine öffentlich zugängige, gemeinnützige Begegnungsstätte. Leider gab die Zeitgeschichte diesem Stiftungsgedanken nur wenige Möglichkeiten, so dass nur der Begriff des „Lingner-Schlosses“ das Anliegen des Stifters überlebte.

    Wohnungen für Offiziersfamilien, Kinderheim, Hilfskrankenhaus für Kriegsverletzte, Büros für die sowjetische Militäradministration, Studentenwohnheim der Hochschule für Musik und Begegnungsstätte renommierter Dresdner Wissenschaftler, Ingenieure und Kulturschaffender waren die Nutzungen der Villa bis zum Anfang der 1990-er Jahre. Nach über zehn Jahren Leerstand übernahm der neugegründete gemeinnützige „Förderverein Lingnerschloss e.V.“ die Verantwortung, sorgt mit Spenden und Sponsoring für die Sanierung, Erhaltung der Gebäudesubstanz sowie die Gestaltung von Veranstaltungsräumen einschließlich einer funktionierenden Gastronomie.


    Im größtem, noch vor der Vollendung stehendem Veranstaltungsraum des „Lingner Schlosses“, hatten sich Betreuer der Akademisten, Mitglieder der Gesellschaft der Freunde der Staatskapelle und zahlreiche Musikinteressierte zu einer Kammermusik-Matinee unter dem Motto „AUF EIN NEUES“, zu einer Art Leistungsschau der Akademisten getroffen.

    Mit der 1923 von Fritz Busch gegründeten „Orchesterschule der Sächsischen Staatskapelle“, die 2011 in „Sinopoli-Akademie“ umbenannt wurde, werden junge Nachwuchsmusiker aus aller Welt in einer zweijährigen Weiterbildung von erfahrenen Kapellmusikern auf eine erfolgreiche Orchestermusiker-Tätigkeit durch Mitwirkung bei Proben und Aufführungen in Oper, Konzert sowie Ballett, so auch durch Einzelunterricht vorbereitet.


    Zum Beginn des Konzertes spielten der Hornist Damien Muller, der Trompeter Alberto Antonio Romero López und der Posaunist Luis Rémy die „Sonate für Horn, Trompete und Posaune FP 33a“ von Francis Poulenc (1899-1963). Der Komponist gehörte zu einer Gruppe von sechs jungen Musikern um Erik Satie (1866-1925), die eine neue einfach strukturierte französische Musik schaffen wollten, die nicht länger in der Dunstwolke des Impressionismus weilen, aber auch nicht der „triefenden“ Romantik Richard Wagners folgen sollte und sich aus Strömungen wie Jazz heraushalten könne.

    Die Bläser-Sonate komponierte Poulenc 1922. Wir hörten eine im Jahre 1945 revidierte Fassung, die vermutlich von seiner Verbindung zum Widerstand beeinflusst war. Unaufgeregt und frisch, ohne zu provozieren und losgelöst von Konventionen spielten die drei Blechbläser das unterhaltsame Stück.

    Gabriel Fauré (1845-1924) komponierte 1898 seine Fantasie op. 79 für Flöte und Klavier für einen Wettbewerb des Pariser Konservatoriums. Der damals weltbeste Flötist Paul Taffanel (1844-1908) suchte als Leiter der Flöten-Klasse anspruchsvolle Stücke mit fünf bis sechs Minuten Aufführungsdauer, die bei den Teilnehmern eine konzentrierte Beurteilung ihrer Phrasierung, ihrer Ausdrucksmöglichkeiten, die Tonkontrolle und die Virtuosität erlaubte. Aus praktischen Gründen war eine Klavierbegleitung vorgesehen. Im Wettbewerb wurde die Fantasie achtmal aufgeführt und kam rasch außerhalb des Konservatoriums zu Popularität. Mit einer Einrichtung der Fantasie für Flöte und Harfe erreichten die Flötistin Marianna Sophie Busslechner und die Harfenistin Margot Gélie bei den Hörern eine besondere Wirkung. Die perfekte Balance der Instrumente, der Detailreichtum und die besondere Atmosphäre bescherten den Zuhörern ein nachhaltiges Erlebnis.

    Paul Taffanel war nicht nur Flötist, Musiklehrer und Dirigent der Pariser Oper. Er bemühte sich auch um eine Rehabilitation der Bläsermusik Mozarts und anderer Klassiker und gab auch der Bläsermusik seiner Zeit wesentliche Impulse. Er gründete die „Société de musique de chambre pour instruments á vents“ mit dem Anspruch, das Kammermusikrepertoire für diese Bläser zu fördern und zu verbreiten. So auch mit seinem „Quintett g-Moll für Flöte, Klarinette, Oboe, Fagott und Horn, Werkeverzeichnis Nr. 1924“.

    Marianna Sophie Busslechner (Flöte), Vera Karner (Klarinette), Robert Schina (Oboe), Hannah Philipp (Fagott) und Damien Muller (Fagott) spielten das dreisätzige Werk, betonten dabei die gesanglich inspirierte Melodik und die tänzerische Grazie mit einem weichen, stimmungsvollen Bläserklang.

    Im zweiten Teil des Konzertes befassten sich mit jugendlicher Frische Gayoung Shin (1. Violine), Makiko Iwakura (2. Violine), Christopher Sandberg (Viola) und Anna Herrmann (Violoncello) mit Antonin Dvořáks „12. Streichquartett F-Dur op. 96“, genannt das Amerikanische. Das in Dvořáks Komposition thematisierte Ineinanderfließen von Traditionen und Klangsprachen ermöglichte den vier Musikern, thematische, aber auch dynamische Gegensätze zu betonen. Mit ihrer fesselnden Energie und der klaren musikalischen Linie sicherten sie einen begeisternden Abschluss des Vormittags.

    Nach dem Konzert konnten wir zu unserer großen Freude unsere Paten-Akademistin Vera Karner zu ihrem ersten Engagement als Solo-Klarinettistin den „Brandenburger Symphonikern“ verabschieden.

  • Zum 70. Geburtstag des Ersten Gastdirigenten Myung-Whun Chung


    Die Sächsische Staatskapelle auf bekannten Wegen

    Myung-Whun Chung und Seong-Jin Cho mit Brahms und Tschaikowski


    So, wie uns die Konzertplanung der Symphoniekonzerte der Sächsischen Staatskapelle in der laufenden Spielzeit kaum mit Besonderheiten verwöhnte, brachte auch das siebte Saisonkonzert mit der dritten Symphonie von Johannes Brahms (1833-1897) und dem b-Moll-Klavierkonzert von Peter Tschaikowski (1840-1893) oft Gehörtes in den Semperbau.

    Aber bereits in der vorigen Saison überraschte uns Myung-Whun Chung mit Interpretationen von Brahms-vierter und Tschaikowskis sechster Symphonie, dass er mit den Musikern seines Stamm-Orchesters neue, bisher kaum erschlossene Sichtweiten erschließen kann.

    Die Freundschaft Johannes Brahms mit den Rüdesheimer Winzern Laura und Rudolf von Beckerath (1833-1888) führte ihn im Mai 1883 nach Wiesbaden. Aus dem für wenige Tage geplanten Besuch wurde ein bis zum September dauernder Aufenthalt. Die Ruhe und Abgeschiedenheit der angemieteten Wohnung sowie die Möglichkeit, ausgedehnte Spaziergänge ins Taunusgebiet direkt ab Haus zu unternehmen waren Voraussetzungen, schöpferisch zu arbeiten. Brahms pflegte mit seinen musikalischen Einfällen spazieren zu gehen, die er erst aufschrieb, wenn sie gedanklich ausgereift waren. Gesellige Nachmittage und Abende in der Stadtwohnung der Winzer sowie eine Schwärmerei zu einer deutlich jüngeren Sängerin brachten den eher brummigen Brahms in eine gelöste Stimmung. Unter diesen Bedingungen entstand die als die „Brahmsistischste“ bezeichnete dritte Symphonie. Das Werk trägt von seinen Symphonien am deutlichsten die Züge seiner künstlerischen Wesensart: bei aller Leichtigkeit vereint die F-Dur-Tondichtung Herbheit und Innigkeit, kämpferischen Trotz sowie Liebe zum Volksliedhaften.

    Seine Friedfertigkeit aus der Ferienatmosphäre atmete Seelenfrieden, Freundlichkeit, Menschenliebe und Weltverständnis.

    Der Erste Gastdirigent der Sächsischen Staatskapelle Myung-Whun Chung arbeitete sich bis zum Kern der Komposition, um mit Ausdrucksgewalt seiner Schönheit auf den Grund zu kommen.

    Im Kopfsatz nahm sich Chung die Zeit, um mit elastischer Beweglichkeit sowie interessanten Tempowechseln kleingliedrige Formulierungen und diffizile Abschattierungen vorzunehmen. Hymnisch, mit jubilierenden Akzenten und lyrischen Einschüben leistete er Detailarbeit. Im Allegro con brio konkurrierten Vitalität, Antrieb und Spannung mit Weichheit und Virtuosität. Die hervorragende Streicherbesetzung sorgte für weiche Pastelltöne, die dank der Artikulierungs- und Phrasierungsarbeit des Dirigenten feine Konturen erhielten.

    Im Andante wurde die Instrumentation mit höchstem Feingefühl aufgefächert, die musikalische Struktur ausgelotet und mit altersweiser Gelassenheit zum Satzabschluss gebracht.

    Das Poco Allegretto, wunderbar durchhörbar, blieb dunkel interpretiert, dabei betont lyrisch und gefühlvoll ausgeführt.

    Eine kontrastierende Dynamik belebte das Allegro, begeisterten die hohen Spannungsmomente, wenn mit größter Selbstverständlichkeit kleine Motivgruppen in den musikalischen Fluss eingebaut, bis zum verwehenden Finalschluss gebracht wurden.



    Peter Iljitsch Tschaikowski (1840-1893) begann im Winter 1874/75 mit der Arbeit an seinem ersten Klavierkonzert. Da er noch über wenig Erfahrung im Umgang mit dem Klavier verfügte, wollte er die Erfahrungen des Pianisten und Direktors des Moskauer Konservatoriums Nikolai Rubinstein (1835-1881) nutzen. Tschaikowski widmete ihm seine Komposition, hoffte dass er das b-Moll-Konzert uraufführe und bekam aber eine barsche, der Komponist spricht sogar von einer im „Jupiterton“ formulierte Ablehnung.

    Zunächst hatte Rubinstein ruhig zugehört, bis er in der mehrfach auftretenden Tonfolge “Des-A“ das Monogramm von Tschaikowskis erster Verlobten Désirée Artôt De Padilla (1835-1907) erkennen musste.

    Beim Engagement der aus Belgien stammenden Mezzosopranistin in Moskau im Jahre 1868 waren Tschaikowski und Rubinstein beide dem Charme und den künstlerischen Fähigkeiten der jungen Frau erlegen gewesen. Désirée gab damals den Werbungen Tschaikowskis nach, nahm seinen Heiratsantrag an und verlobte sich mit ihm. Die Musikwissenschaft postuliert allerdings dazu, Rubinstein habe die Verbindung aus fadenscheinigen Gründen hintertrieben: Russland verlöre seinen größten Komponisten, wenn dieser als Gatte einer Sängerin durch die Welt zöge. Die Mezzosopranistin beendete die Beziehung zu Tschaikowski, reiste über St. Petersburg ab und heiratete nur wenig später einen spanischen Bariton.

    Von der Episode des Jahres 1868 war, neben einer der Frau Artôt gewidmeten „Romanze f-Moll für Klavier op. 5“, bei den beiden Musikern etwas Unbewältigtes zurück geblieben.

    Tschaikowski schickte dem vor allem als Pianist bekannten Hans von Bülow (1830-1894) die Partitur, der das Werk noch 1875 zur Aufführung und zum Erfolg brachte.

    Obwohl wegen des „Ohrwurm-Charakters“ der Introduktion gelegentlich als „Reißer“ und oberflächlich bezeichnet, gehört die zweite, im Jahr 1888 vom Komponisten vorgenommene Überarbeitung des „Konzertes für Klavier und Orchester Nr. 1 b-Moll op. 23“ inzwischen zu den beliebtesten Stücken der Konzert-Programme und zum Repertoire eines jeden Pianisten.

    Die im Juni 2020 im 11. Symphoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle geplante Aufführung des Tschaikowski-b-Mollkonzertes mit Seong-Jin Cho und Myung-Whun Chung war damals den Corona-Einschränkungen zum Opfer gefallen und wurde nun im 7. Symphoniekonzert 2023 nachgeholt.


    Der vor 28 Jahren in Seoul geborene Seong-Jin Cho lebt inzwischen in Berlin, versteht sich als „Wanderer zwischen den Kulturen“, und gehört mit seiner intuitiven Musikalität zu den weltweit führenden Pianisten seiner Generation.

    Cho gehört nicht zu jenen Pianisten, die die Eröffnungsakkorde des b-Moll-Konzertes pulverisierend in die Tasten des Flügels hämmern. Er spielte die Introduktion mit Elan, Festigkeit und musizierte majestätisch mit technischer Brillanz den mit Kontrasten reichen ersten Satz. Eine leichtschwebende Melodie, die Tschaikowski auf einem Markt blinden Bettelmusikanten abgehört haben soll, führte er zu einer poetisch verträumten Kadenz, einem Monolog des Solisten.

    Das Andante hatten Solist und Dirigent wie eine Naturbeschreibung der russischen Weite mit ihren Birkenwäldern angelegt. Nach dem einleitenden Flöten-Solo prägten lyrische Passagen den Satzverlauf, bis irrwitzige und spukhafte Scherzo-Elemente in den musikalischen Fluss eingestreut wurden. Mittels seines faszinierenden Tastenanschlags rückte Cho mit einer verträumten Kadenz die Stimmung wieder gerade. Myung-Whun Chung vermied eine simple Gegenüberstellung des Orchesters mit dem Solisten und schuf mit den eingestreuten Bläser-Soli ein packendes dialogisches Miteinander, indem sich die Staatskapelle mit Cho regelrecht umarmte.

    Eine übermütige enthusiastische Volksfeststimmung mit Pizzicato-Streichern und huschenden Holzbläsern begleitete den virtuos-anspruchsvollen Solopart des feurigen Allegro –Finalsatzes. Der abschließende Sprint über die Gesamtheit der Klavier-Tastatur beschloss die eindrucksvolle Demonstration der perfekten Technik des Seong-Jin Cho.

    Mit einer kultiviert gespielten Bach-Zugabe bedankte sich Cho bei den Besuchern für die emphatischen Beifallskundgebungen und demonstrierte seine besonderen Fähigkeiten sensible Tongebung, spannende Melodik mit formaler Klarheit zu kombinieren.

    Fast unmittelbar nach der Matinee brachen Myung-Whun Chung, Seong-Jin Cho mit einer Musikergruppe in Orchesterbesetzung zu einer Tournee nach Süd-Korea auf. Die Tournee ist dem 70. Geburtstag des Ersten Gastdirigenten der Sächsischen Staatskapelle Myung-Whun Chung gewidmet. Neben dem Tschaikowski-Klavierkonzert stehen alle vier Brahms-Symphonien auf den Programmen.

  • „4.48 Psychose“ von Philip Venables nach Sarah Kane

    Aus Verzweiflung etwas Schönes geschaffen


    Als die Besucher der Wiederaufnahme-Vorstellung der Kammeroper „4.58 Psycho“ den Zuschauerraum der Studiobühne „SEMPER ZWEI“ betraten, fanden sie die sechs Sängerinnen des Abends ziemlich locker auf einem grauen Sofa drapiert. Sie musterten die Einströmenden, um zu sehen, wer sich die Komposition Philip Venables und die Inszenierung von Tobias Heyder nach der Vorlage von Sarah Kane antuen wird.

    Eine der radikalsten, kontroversesten Dramatikerinnen der skandalträchtigen zeitgenössischen Theaterszene war Sarah Kane (1971-1999). In ihrer kurzen Schaffenszeit schrieb sie fünf, durch Verfremdungen von Realitäten und symbolisiertes Geschehen gekennzeichnete Stücke.

    Ihre erste Arbeit „Zerbombt“ war durch eine schonungslose, unverhüllte Darstellung physischer und psychischer Brutalität oder Grausamkeit beherrscht. Die Personen waren auf ihre Instinkte reduziert. In den folgenden Werken Kanes gewinnen sie eine Menschlichkeit, wenn auch ironisch mit einem begrenzten Optimismus versehen. Ihre Wendung von den Brutalitäten war aber offenbar ein Rückzug in eine „weibliche“ Schreibweise.

    In ihrem letzten Stück „4:48 Psychosis“ nutzte Sarah Kane ihre reichen stilistischen Möglichkeiten zur literarischen Verarbeitung einer psychischen Erkrankung. Sie selbst litt unter psychotischen Schüben, die mehrfach Klinikaufenthalte erforderten und letztlich, nach vergeblichen Anläufen, zu ihrem Suizid führten. Die Literaturwissenschaftler tun sich schwer, ob die von drei Schauspielerinnen gestalteten vierundzwanzig Szenen der bitteren Meditationen über das Wesen von Depressionen und der Sinnlosigkeit psychiatrischer Therapien im „4.48 Psychosis“ eine Reflexion ihrer eigenen Leidensgeschichte war. Auch, ob jene Glücksmomente, wenn am „Morgen um vier Uhr 48 die Klarheit des Seins vorbei schaut“, nämlich wenn die Wirkungen der Medikament nachlassen und die Einnahme der Folgedosis noch aussteht, autobiografisch waren, wird von Schulmedizinern in Frage gestellt.

    Der britische Komponist Philip Venables, geboren 1979 im englischen Nordwesten, hat sich, sensibilisiert 2016 den Texten der Sarah Kane empfindsam genähert. Zu einer Wiederaufnahme der deutschen Uraufführung von „4.48 Psychose“ des Jahres 2019 war Philip Venables am 16. März 2023 nach Dresden gekommen und stand nach der Vorstellung zu einem Nachgespräch zur Verfügung.

    Für die 2019-er Inszenierung auf der Studiobühne der Semperoper „SEMPER ZWEI“ war Venables Komposition der Kammeroper dem Sprachrhythmus des deutschen Textes von dem Dresdner Lyriker Durs Grünbein speziell angepasst worden.


    In der Opernfassung sind Kanes sprachliche Seelenzerfleischungen, die unterschiedlichen Gedankenstränge der Protagonistin, auf sechs Sängerinnen, drei Sopranistinnen und drei Mezzosopranistinnen, aufgeteilt. Von der Inszenierung Tobias Heyders wurden die krankhaften Emotionen nicht in ein gesellschaftspolitisches Bezugssystem gesetzt, sondern atmosphärisch im abgeschlossenen Bereich der Psyche der Erkrankten belassen. Der gesellschaftliche Umgang mit psychischen Erkrankungen blieb in der Inszenierung auf eine Bezugnahme der Sinnhaftigkeit von Behandlungen und der Qualität der Therapien begrenzt. Mehr konnte Sarah Kane ihren Interpreten auf Grund ihres Erlebens ohnehin nicht vorgeben. Es zeigte vor allem, wie emotionalen Mängelerscheinungen glaubhaft Ausdruck vermittelt werden kann.

    Hinter dem von Stephan von Wedel als dunkel schwarzer Komplex gestaltete Bühnenraum mit einem grauen Sofa spielten hinter einem durchsichtigen Vorhang die Instrumentalisten des Projektorchesters. Der Vorhang diente als Projektionsfläche für die durch Benedikt Schulte gestalteten Videoinstallationen: einer Visualisierungen „der Zeit des Erwachens, wenn die Klarheit vorbei schaut“ sowie fast zufälligen Einblendungen von Gemütszuständen der Erkrankten oder auch von Gedankenfetzen der Therapeuten. Über der Szene waren die Dialoge der Therapiesitzungen eingeblendet, die von zwei, an den Außenseiten angeordneten Perkussionisten, dem Zuschauer regelrecht eingehämmert wurden. Von links kommentierte der „Doktor“ Ulrich Gräfe und von rechts der „Patient“ Yuka Maruyama. Dort wurden auch der grauenvolle Medikamenten-Cocktail und die hilflosen Arzteintragungen im Krankenblatt eingefügt. Zur Komplettierung der Reizüberforderung des Auditoriums, wurden aus dem Rückraum des Zuschauerbereichs überlaute Sprachbeiträge, mal stotternd, mal verzerrt, eingespielt.

    Die Musik Philip Venables erfasste die Gefühlslage der Texte Sarah Kanes höchst sensibel aber auch fantasievoll und konnte so eine Ahnung vom Leiden psychotischer Menschen vermitteln. Die tonale und freitonale Harmonik der Komposition hatte Venables mit elektronischen Effekten, Geräuschen und Rückgriffen auf die Musik Johann Sebastian Bachs, Arnold Schönbergs sowie mit Zitaten englischer Lautenlieder angereichert. Polyphone Überlagerungen verdeutlichten, ja verdichteten die Persönlichkeitsspaltung der Protagonistin.

    Venables hatte kompositorisch alles aufgeboten, dass es keine Längen gab. Max Renne dirigierte die Musik wie eine gelegentliche Insel des Friedens und gestaltete manches erträglich.

    Die in Dresden lebende Sopranistin Sarah Maria Sun war für ihre Leistung bei der Uraufführung von „4:58 Psychose“ von der „Opernwelt“ als Sängerin des Jahres nominiert worden. Neben ihr agierten als Mezzosopranistinnen die aus Lettland stammende Karina Repova, die aus dem Walis kommende Samantha Price und die in Kirchheim geborene Sarah Alexandra Hudarew sowie als weitere Sopranistinnen, die aus Hamburg gebürtige Karen Bandelow mit der aus ihrer Zeit im Jungen Hausensemble bekannten Tahnee Niboro. Ihre Stimmen überlagerten sich und verwoben die Satzfetzen, einzelne Worte, Buchstaben zu einem bestechend eindrucksvollen Klangbild. Die persönlichen Konturen der Sänger-Darstellerinnen verschwammen im Gesang innerhalb der diffusen Persönlichkeit einer nur verzerrt erkennbaren Außenwelt. Ihre Selbstgespräche, Intuitionsfetzen, Erinnerungen, Träume, Sehnsüchte kollidierten mit Diagnosen, Medikamentendosierungen, Therapieversuchen und führten zu Hasstiraden. Das Singen wechselte fast ungeordnet zwischen zart-poetisch, traurig mit auftrumpfender Aggression bis zur Grenze der Brutalität. In Phasen der größten Aggressivität gingen sich „Handelnde“ durchaus auch körperlich an, nur um die verhassten Gedankenfetzen zur Ruhe zu bringen. Sie warfen sich auf den Boden, würgten einander, um sich gleich wieder zu umarmen.

    Die äußerst harten Beschreibungen der Gefühlszustände, von Durs Grünbein fast poetisch übersetzt, wurden von dem sechsköpfigen Frauenensemble rund um das Sofa im Bühnenvordergrund sowohl differiert als auch zugleich zusammengeführt. Karina Repova wurde auch mal mit einem Medizinerkittel verfremdet, um die Gefühlswelt der Behandler zwischen autoritärem Auftreten, Sinnlosigkeit ihres Tuns und die daraus resultierende Hilflosigkeit vom anderen Blickwinkel zu verdeutlichen.

    Um die Gesangsleistungen besonders zu würdigen oder gar zu bewerten, fehlt mir der fachliche Hintergrund.

    Alle sechs Sänger-Darstellerinnen waren ein wirkungsvolles bis zum Schluss ein geschlossen choreografiertes Madrigalensemble der Trostlosigkeit. In der Musik und der szenischen Darstellung blieb alles zuordenbar.

    Das war kalkuliertes Theater auf hohem Niveau.

    Am Ende der Vorstellung zunächst minutenlange Stille und dem Verharren der Sängerinnen in ihrer Schlusspose. Dann viel Applaus.


    -Wiederaufführung am 16. März 2023-Studiobühne der Semperoper „SEMPER ZWEI“

    -Inszenierung: Tobias Heyder

    -Bühne und Kostüme: Stephan von Wedel

    -Video: Benedikt Schulte

    -Musikalische Leitung: Max Renne

    -Projektorchester

  • „La Sonnambula“ mit Belcanto auf höchstem Niveau

    Premiere der Bellini-Oper in einer Villazón-Inszenierung


    Wie bei jedem halbwegs erfolgreichen Sujet reichen die Quellen der Handlung von Vincenzo Bellinis (1801-1835) Oper „La Sonnambula“ weit zurück und die Zahl derer, die am mageren Knochen der Handlung nagten, ist vielfältig. Die literarische Verarbeitung von durch nicht erkannte Schlafwandler hervorgerufene Verwicklungen und Kuriosa sind seit Dante Alighieri (1265-1321) kaum zu zählen.

    In den Programmheften zur Bellini-Oper wird als Quelle Felice Romanis (1788-1865) für das Libretto vor allem die 1827 aufgeführten Ballett-Pantomime „La Somnambule ou LʹArrivée d׳un nouveau Seigneur“ von Eugen Scribe (1791-1861) und Jean-Pierre Aumer (1774-1833) aufgeführt. Wahrscheinlich haben dem Librettisten die Komödien „Die beiden Bräute“ von August Heinrich Julius Lafontaine (1758-1831) sowie die Schlafwandler-Opern von Luis Alexandre Piccinni (1779-1850), Luigi Ricci (1805-1859) und Ferdinando Paër (1771-1839) zur Verfügung gestanden. Mit Sicherheit kannte er das 1827 im Théâtre des Variétés aufgeführte Vaudeville „La Villageoise somnambule ou Les deux fiancées“. Auch hatte sich Romani bereits längere Zeit vor seiner Arbeit für Bellini mit dem Sujet des Übersinnlichen beschäftigt.

    Vincenzo Bellini, der als bedächtiger und behutsamer Komponist bekannt war, bekam nur neun Wochen Zeit von der Übergabe der ersten Texte Romanis Anfang Januar 1831 bis zur Uraufführung am 6. März 1831. Deshalb war er erfreut, dass er Material eines aufgegebenen Projekts einbinden und seine Belcanto-Arien den Sängern direkt auf die Stimme schreiben konnte. So wirken die Arien der Amina stellenweise recht tief, weil die damalige Gastsängerin der Scala Giuditta Pasta (1797-1865) über eine Sopran-untypische breite Tiefe in der Stimme verfügte.


    Die Handlung der Oper ist unkompliziert und wenig komplex:

    Die La Sonnambula Amina und Elvino verloben sich, aber Lisa entdeckt La Sonnambula im Schlafrock eines anderen Mannes. Folglich entlobt sich das Paar und Elvino nähert sich wieder seiner früheren Liebsten Lisa. Rodolfo und Theresa klären aber die Umstände auf und die Hochzeit könnte gefeiert werden.

    Ob die Verortung der Handlung in ein abgelegenes Schweizer Bergdorf auf eine Sehnsucht, Abstand von den politischen und sozialen Verwerfungen der Zeit zu bekommen, zurückzuführen war, oder ob sie auf einen simplen Verständigungsfehler zwischen Librettisten und Komponisten beruhte, müsste die Bellini-Forschung noch erkunden.

    Zumindest konnte die Operninterpretation die pastorale Idylle der Schweizer Berglandschaft zum Verfremden der Naivität der von der globalen Entwicklung abgeschnittenen Dorfgesellschaft nutzen.

    Das Bühnenbild Johannes Leiackers stellte das Bühnengeschehen für den Regisseur Rolando Villazón in einen modernen Zauberberg, in eine Art Reha-Klinik oder in ein Hotelvestibül. Die Kostüme von Brigitte Reiffenstuel waren beziehungsreich und führten direkt in die Handlung.

    Die neun Türabgänge der kahlen Fassade ermöglichten der Personenführung die interessantesten Bühnenbewegungen.

    Eine bizarre Alpenlandschaft im oberen Teil des Bühnenbildes nimmt dank der kreativen Lichteffekte Davy Cunninghams am Hergang im unteren Bühnenbereich teil.

    Im Zentrum steht die Dorfgemeinschaft mit ihren festgefahrenen Ritualen, die einerseits die Vorgänge kommentierte und sich andererseits in die Vorgänge einmischte, so dass die Menschen ständig im Raum herumquirlten, dabei für Bewegung sorgten. Der Sächsische Staatskapellen-Chor zeigte musikalisch und szenisch das vielseitige Charakterbild der Gesellschaft. Mit Präzision und Einfühlung wurden hier Menschen porträtiert.

    Die Titelfigur Amida, ein wenig gebildetes Waisenmädchen, ist in dieser Dorfgesellschaft eigentlich gut integriert. Sie akzeptiert die Rangunterschiede und bemüht sich, durch eine Ehe mit einem Wohlhabenden ihre Bedeutung im gesellschaftlichen Kontext zu verbessern. Aber nur die Quellen des Librettos verraten, dass der junge Graf Rudolfo vor Jahren eine Dorfschöne verführt und sich durch Flucht der Verantwortung entzogen hatte. Amida ist mithin die illegitime Tochter des Grundherren Rudolfo.

    Und dieser Rudolfo vermittelt Amida, dass es außerhalb der Dorfenge in der weiten Welt mehr zu entdecken, zu erleben gibt und weckt ihre Individualität.

    Um die weitere Handlung zu verdeutlichen, hätte Villazón die Parasomnie eigentlich nicht bemühen müssen.

    Er erzählte aber auf poetisch-feinsinnige Art die nachtwandlerische Plattitüde der Romantik und entwickelte aus der Klischeetragödie des Librettos ein Psychodrama voller Wahrhaftigkeit und sozialer Sprengkraft.

    Villazón ermöglicht Amina, diese Sehnsucht nach „etwas Anderem“ durch eine Flucht in parasomnisches Verhalten zu erfüllen, was aber gleichfalls zu Kollisionen mit der Gemeinschaft führen muss.

    Individuen, die in der Gruppe stark sind, die Druck auf Außenseiter ausüben, bildeten eine Instanz, an der kein Individuum vorbei kommt.

    Die Amira der US-amerikanischen Sopranistin Emily Pogorelc wirbelt in der Vorfreude auf die Hochzeit mit ihrem wunderbaren auch in der Tiefe wohlklingendem Gesang und faszinierender Präsenz über die Bühne. Ihre Stimme zelebrierte die halsbrecherischen Koloraturen, die scheinbar mühelos aus ihr hervorströmten. Mit Leichtigkeit wand sie sich durch die unzähligen technischen Finessen der Rolle, spannte den Bogen zwischen kraftvollen Koloraturen und zerbrechlichen Verzierungen.

    Ihr Gesang vereinigte innigen Schmelz und zartes Piano mit ihrer Darstellung der scheinbaren Katastrophe, wenn sie mit subtilen Pianissimo an ihrem Schmerz fast zerbricht.

    In der intensiv durchlebten Finalszene wurde sie freier mit ihren Schlussarien, selbstbewusster als individuelle Persönlichkeit.

    Bühnenwirksam gestaltete Emily Pogorolec die an der Schwelle zum Erwachsensein befindlichen Amina als individuelle Persönlichkeit, die unterschwellig empfindet, dass sie andere Vorstellungen vom Leben entwickelte, als ihr die Regeln der Dorfgemeinschaft zubilligen.

    Der aus Tula stammende Maxim Mironov singt und spielt sein Rollendebüt als Elvino mit schwereloser heller Tenorstimme ohne Anstrengung in den Extremlagen. Er verfügt über verführerischen Schmelz des eleganten Kavaliers-Tenors, ebenso wie über mühelose Höhen.

    Seine große Arie im zweiten Akt, ein Höhepunkt des Abends, und in den Duetten mit Amina erlebte man schönsten Belcanto voller Gefühle. Die Entwicklung, des aus höchstem Glück in tiefe Verwirrung fallenden Elvino, der in seiner Liebe voller Empathie aber wenig Standhaftigkeit gegenüber der fordernden Dorfgemeinschaft Amina beinah opferte, führte zwangsläufig zu einer begrenzt sympathischen Bühnenfigur.

    Bei allem Schönklang der Duette der Hauptfiguren bleibt offen, ob sich der Elvino zu einem kongenialen Partner der starken Amina entwickeln könnte oder ob letztlich das „happy end“ fraglich bleibt.

    Eine eifersüchtige und intrigante Wirtin Lisa wurde von der erstmalig im Haus gastierenden Rosalia Cid verkörpert. Für die spanische Sopranistin war das ein Rollendebüt.

    Sie gestaltete die Lisa als Gegenentwurf der fragilen, zögerlichen Amina als selbstbewusste Frau. In ihren Gesangspassagen ließ sie bis in die glänzendsten Höhen mit emotionalem, voluminösem Sopran ihre Eifersucht und ihre Verzweiflung über die Zurückweisung durchscheinen. Mühelos ließ ihr heller kristallklarer sinnlicher Sopran die vielen Verzierungen in den Gesangslinien der Rolle leuchten. Ob als eifersüchtige Liebhaberin, als intrigante Wirtin oder enttarnte Intrigantin bot die Spanierin als Schauspielerin Außerordentliches.

    Der um die Lisa vergeblich werbende, sie anschmachtende Alessio von Martin-Jan Nijhof ist trotz der wenigen , allerdings hervorragend gesungenen Noten emsig bemüht, sie von ihren Ambitionen auf den vermeintlich wieder freien Elvino abzubringen.

    Aminas Stiefmutter Teresa witterte im Handlungsverlauf den Karrieresprung zur reichen Schwiegermutter. Die aus Israel stammende Reut Ventorero gestaltete in ihrem Hausdebüt die Teresa als den Urtyp einer liebenswerten Mutterfigur, die ihre Adoptivtochter mit ihrem weichen Mezzosopran und einer glaubwürdigen Darstellung bedingungslos gegen die Dorfgesellschaft verteidigt. Ihr hätte man gern eine etwas größere Arie gegönnt.

    Der Graf Rodolfo, kehrte aus der Welt zurück in die Berge, um die alte Geschichte um Aminas Herkunft aufzuarbeiten. Georg Zeppenfeld zeichnete mit Eleganz einen belesenen und differenzierenden Adeligen an der Schwelle zur Bürgerlichkeit. Sensibel, wenn er mit seiner dominierenden Stimme Kraft und Sicherheit vermittelt, um die verworrene Situation zu entwirren. Mit profundem, schönem Bass komplettiert er die Ensembleleistung, indem er spannendes Psychodrama dem Schöngesang wie selbstverständlich an die Seite stellt.

    Der aus der Höhe der Berge herabsteigende Tenor Gerald Hupach bewirkt mit seiner kurzen Erscheinung als Notar den Handlungsfortgang.

    Die Tänzerin Chiara Detscher hatte mit dem „zweiten Ich“ der Amina über weite Strecken die Aufgabe, vom Szenenrand die Handlungen der Titelheldin durch Gesten zu kommentieren. Das bekam aber am Beginn des zweiten Aktes und vor allem mit der Schluss-Szene erklärende Bedeutung. Denn, als Teresa mit dem Grafen Rudolfo die Verwirrungen aufgelöst und Amina mit Elvino ihre faszinierenden Schlussgesänge absolviert hatten, könnte die Hochzeitsfeier beginnen. Mit den letzten Takten des Opernabends beriet sich stattdessen Amina mit besagtem „zweiten Ich“ und Rolando Villazón ließ uns über das Ergebnis dieser Beratung im Unklaren.

    Aus der Musik heraus war die außergewöhnliche Geschichte mit zwingender Folgerichtigkeit anrührend erzählt worden.

    Souverän geführt von dem umsichtigen wie dynamischen Dirigat des Italieners Evelino Pidò breiteten die Musiker der Sächsischen Staatskapelle einen exzellenten Klangteppich aus. Pidò ließ das Orchester je nach Bedarf auf Hochtouren spielen oder auch konzertante Phasen erzeugen.

    Das Gleichgewicht zwischen Graben und Bühne stimmte, so dass den Singenden in jeder Phase ausreichend Raum blieb.

    Der fabelhaft von Jonathan Becker vorbereitete und von Philippe Giraudeau choreografierte Chor entpuppte sich als der wahre Handlungsprotagonist.

    Die intellektuelle Wiedergewinnung einer eigentlich inzwischen unspielbaren Belcanto-Oper erhielt mit der erlebten Aufführung eine Perspektive auf Erkenntnis und die Hoffnung auf ein erfolgreiches Repertoire-Stück.

    Nach dem furiosen Schlussapplaus mit „Stehenden Ovationen“ für das Regieteam, beglückt von der umwerfenden Ensembleleistung und einem grandiosen Orchester, trat man als Zuschauer aus der umarmenden Wärme des italienischen Belcantos in den Nieselregen Dresdens.

    Einmal editiert, zuletzt von thomathi ()

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