Teodor Currentzis

  • Noch einmal zur "Zumutung" und "Qual", auf der Bühne 25 Minuten still sitzen zu müssen, während andere Musiker Musik machen: Wie sehen das eigentlich Orchestermusiker, deren Einsatz erst nach 25 Minuten erfolgt? Wenn ein Werk nun mal so komponiert ist, dass der Tubaspieler erst nach 25 Minuten zu seinem Instrument greifen muss? "Quälen" die sich auf der Bühne? Empfinden sie dies als "Zumutung"?

    Nadezhda Pavlova war Solistin und stand deshalb während ihres Auftritts im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des gesamten Publikums. Danach musste sich sich noch eine halbe Stunde frontal den Blicken von Zuhörern und Fernsehkameras aussetzen, ohne irgendetwas zu tun zu haben. Das Orchester saß dabei in ihrem Rücken. Currentzis begleitete sie nach getaner Arbeit (Entschuldigung: Das Wort ist bei ihm natürlich völlig unpassend) von der Bühne, um sich danach wieder allein huldigen zu lassen. Wenn Du nicht nachempfinden kannst, welche Demütigung das bedeutet, ist Dir nicht zu helfen.

  • welche Demütigung das bedeutet

    Jetzt ist es sogar schon eine "Demütigung", nicht nur eine "Zumutung". Geht's noch dramatischer weiter?

    Nadezhda Pavlova hat sicherlich schon an vielen konzertanten Aufführungen von Opern oder Oratorien teilgenommen, bei denen die Solisten üblicherweise auf Stühlen vor dem Orchester sitzen und dort warten, bis sie dran sind. Das kann - nach Ouvertüre und Soloauftritten der anderen Sänger - gut und gern mal 25 Minuten dauern, bis der eigene Auftritt kommt. Also eine für sie völlig normale Situation.

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Nadezhda Pavlova hat sicherlich schon an vielen konzertanten Aufführungen von Opern oder Oratorien teilgenommen, bei denen die Solisten üblicherweise auf Stühlen vor dem Orchester sitzen und dort warten, bis sie dran sind. Das kann - nach Ouvertüre und Soloauftritten der anderen Sänger - gut und gern mal 25 Minuten dauern, bis der eigene Auftritt kommt. Also eine für sie völlig normale Situation.

    Hier wurde kein Oratorium und keine konzertante Oper aufgeführt. Dort gäbe es im Normalfall mehrere Solisten, die abwechselnd bzw. in verschiedenen Konstellationen aufstehen und singen. Am Ende bekommen alle gemeinsam den Applaus. Nadezhda Pavlova hat - als einzige Solistin - eine Arie gesungen, bekam danach keinen Applaus und hatte mit dem folgenden Werk im wahrsten Sinne des Wortes nichts mehr zu tun. Das wäre so, als würde z.B. Maurizio Pollini ein Konzert spielen und müsste danach noch eine halbe Stunde während einer Symphonie untätig am Klavier sitzen bleiben. "Eine völlig normale Situation"?

  • Nadezhda Pavlova wird vom 11. Februar bis zum 11. März 2022 einen Monat lang an der Staatsoper Hamburg gastieren und die Gilda in "Rigoletto" sowie die Donna Anna in "Don Giovanni" (Dirigent ist übrigens Adam Fischer) singen. Wenn ich sie während dieses Monats auf der Straße treffen sollte (völlig ausgeschlossen ist das ja nicht), spreche ich sie mal darauf an, welche "Zumutung" ihr Currentzis in Salzburg angetan hat. Sie wurde "gequält" und "gedemütigt" - so jedenfalls die Meinung besorgter Mitglieder eines deutschsprachigen Kulturforums.

    Ich freue mich schon auf ihre Reaktion.

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Wenn ich sie während dieses Monats auf der Straße treffen sollte (...), spreche ich sie mal darauf an, welche "Zumutung" ihr Currentzis in Salzburg angetan hat.

    Tu das unbedingt! Sie wird selbstverständlich gegenüber jedem dahergelaufenen Passanten ganz offen und wahrheitsgemäß das Verhältnis zu ihrem Chef beschreiben, dem sie ihre Karriere verdankt und von dem sie existentiell abhängig ist.

  • Lassen wir mal die Überlegungen zum Arbeitsrecht bei Musikern (ein sehr interessantes, aber m. E. auch sehr komplexes Thema) sowie die vermeintlichen Qualen der Sopranistin beiseite und kommen noch mal zur dargebrachten Musik zurück.

    Ich habe die erste Hälfte des Konzerts inzwischen gesehen (für die zweite Hälfte reichte gestern die Konzentration nicht mehr) und habe insgesamt einen etwas zwiespältigen Eindruck.

    Sehr positiv zu vermerken ist aus meiner Sicht die hohe Qualität von Orchester und Chor. Beide klingen exquisit und musizieren hervorragend miteinander. Da beide Klangkörper von Currentzis geformt und geprägt worden sind, sollte man das unbedingt auf seiner Habenseite verbuchen.

    Natürlich wurde mit zügigen Tempi lebendig musiziert, dies aber m. E. auch mit diversen Merkwürdigkeiten und Unzulänglichkeiten.

    Da wäre zunächst Currentzis' Neigung, manche Details exzentrisch zu gestalten, ohne dass sich ein Sinn dieser Gestaltung erschließen würde. Christian hat bereits das eigenartige Abphrasieren vor dem Piano-Seitenthema im Kopfsatz genannt, ich würde noch die etwas übertrieben kurzen Noten im langsamen Satz ergänzen oder auch das merkwürdig penetrant gestaltete Crescendo auf der langen Geigennote im Menuett. Dem gegenüber stehen dann merkwürdige Unzulänglichkeiten wie die (relativ zum restlichen Orchester) stellenweise zu leise Klarinette im Finale. Hat dafür die Liebe zum Detail nicht mehr gereicht? Merke: anders ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit gut.

    Was mich aber fast mehr stört, sind zwei andere Aspekte in Currentzis' Musizieren. Da ist zum einen die beinahe fatale Neigung zum Metronomischen. Man muss ja nicht gleich in Agogik-Orgien versinken, aber das Stück durchschlagen wie der Drummer einer Rockband muss man auch nicht.

    Zum anderen kann Currentzis mit leisen, lyrischen Stellen m. E. eher wenig anfangen. Im Zweifelsfall macht er sie halt noch leiser, ggf. auch bis an die Grenze der Hörbarkeit. Diese Marotte nutzt sich recht schnell ab.

    Letztlich führte all dies dazu, dass mich die g-moll-Sinfonie in dieser Darbietung nur einmal wirklich gepackt hat, nämlich im wilden Abschnitt des Kopfsatzes nach der Schein-Reprise - da ging wirklich die Post ab. Für ein derartig dramatisches Stück und einen so auf dramatische Effekte setzenden Dirigenten ist das etwas wenig.

    Wäre es irgendein Konzert irgendeines HIP-beeinflussten Orchesters mit irgendeinem Dirigenten gewesen, so hätte ich das wohl sehr ordentlich gefunden. Für den neuen Ober-Charismatiker der klassischen Musik und angeblichen Mozart-Spezialisten Currentzis war es mir etwas zu wenig. Trotzdem werde ich mir die zweite Hälfte des Konzerts gerne noch anhören.

    Um doch noch kurz auf die geplagte Sopranistin zu kommen: der Gimmick, vom Kantantensatz (fast) direkt in die Sinfonie überzugehen und Frau Pavlova im Gegenzug dort sitzen zu lassen, war m. E. vollkommen überflüssig. Zwischen einzelnen Sätzen der Sinfonie gab es zum Teil längere Pausen als zwischen Kantatensatz und Sinfonie, obwohl die Sätze der Sinfonie nachweislich zum gleichen Stück gehören und der Kantatensatz nicht. Es hätte der Sache überhaupt keinen Abbruch getan, nach dem Kantatensatz zehn Sekunden zu warten, die Sängerin abgehen zu lassen und dann die Sinfonie zu spielen.

    Noch ein paar (nicht ganz ernstgemeinte) Erkenntnisse aus diesem Konzert:

    - Ein plausibler Grund, warum man Gesangssolisten in Konzerten aus Noten singen lässt, dürfte sein, dass sie dann nicht sinnlos mit ihren Armen wedeln und/oder ihr Repertoire an Operngesten abspulen.

    - Vetter Itt von der Addams Family ist jetzt Konzertmeister bei musicAeterna und war von der Musik in dem Konzert so enthusiasmiert, dass er sie spontan mit einem Ausdruckstanz begleitet hat.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • von dem sie existentiell abhängig ist

    Allein schon die Tatsache, dass sie einen Monat lang (ohne Currentzis) an der Staatsoper Hamburg gastiert, zeigt schon, dass eine von Dir behauptete "existenzielle Abhängigkeit" von ihm nicht besteht. Sie war zwar früher Ensemblemitglied in Perm und ist immer noch "Associated Artist" von musicAeterna, verfolgt aber inzwischen ihre eigene Solistenkarriere:
    https://pavlovasoprano.com/about

    Wie auch immer: Eine bessere Idee, als sie selbst zu fragen, habe ich nicht.

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Du irrst. Das sind die Kontaktdaten von Ilja Chakov, ihrem Manager.


    Vielleicht kennt der ihre Befindlichkeiten, falls sie selbst nicht erreichbar sein sollte.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Oder er weiß, dass sie die ihr hier angedichteten Befindlichkeiten nicht hat.


    Dies würde ja eine Kenntnis ihrer Befindlichkeiten voraussetzen.

    LG :wink:

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  • Dies würde ja eine Kenntnis ihrer Befindlichkeiten voraussetzen.

    Auch wieder wahr :D

    Für den neuen Ober-Charismatiker der klassischen Musik und angeblichen Mozart-Spezialisten Currentzis war es mir etwas zu wenig.

    Ich empfinde Currentzis nicht als Mozart-Spezialisten. Er ist nicht auf ein bestimmtes Repertoire oder eine bestimmte Epoche festgelegt, schon gar nicht auf einen einzelnen Komponisten. Er dirigiert Werke von Hildegard von Bingen und Heinrich Ignaz Franz Biber bis hin zu Morton Feldman und Helmut Lachenmann. Allerdings hast Du Recht, dass er bei den Salzburger Festspielen regelmäßig für Mozart gebucht wird. Mozart war auch in Perm ein gewisser Schwerpunkt seiner Arbeit, aber er hat dort auch alles mögliche andere - von Purcell bis hin zu Uraufführungen - dirigiert.

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • die ihr hier angedichteten Befindlichkeiten

    Ich weiß gar nicht, warum Du ewig auf diesem Punkt rumreitest. Ich habe doch leidlich begründet, warum mich die g-Moll-Symphonie insgesamt nicht überzeugt hat. Unter den Gründen war nicht die vorne sitzende Sopranistin. Und auch bei ihr geht es mir nicht um "Befindlichkeiten" sondern um (in diesem Fall schlechten) Stil. Man stellt einfach keine Solistin nach getaner Arbeit dem Publikum zur Ansicht aus. Schon gar nicht für so ein blödes Mätzchen wie die vorangestellte Arie. Zugegeben: "Jesu meine Freude" aus dem "Off" ist noch schlimmer, aber danach kam dann wenigstens nur Morton Feldman, also nichts von Belang :D .

  • Ich empfinde Currentzis nicht als Mozart-Spezialisten.


    Er hat natürlich ein weitaus breiteres Repertoire, aber es gibt schon eine gewisse Tendenz, ihn in diese Richtung zu vermarkten - nicht zuletzt durch die Mythologie um seine "Don Giovanni"-Aufnahme mit dem Rückzug der ersten Aufnahme, die angeblich monatelange Arbeit in Perm an der Aufnahme etc.

    Sollte sich diese Tendenz verfestigen, fände ich das bedauerlich, den erstens macht er (wie Du richtigerweise anmerkst) sehr viel mehr und zweitens habe ich auf Basis meiner bisherigen Höreindrücke Zweifel, ob ihm Mozart tatsächlich sonderlich liegt. Daher hoffe ich, dass Currentzis kein zweiter "Fall Böhm" wird - den hatte man seinerzeit ja auch als großen Mozart-Guru gepriesen, obwohl er (unter anderem) in Sachen Strauss und Zweiter Wiener Schule wahrscheinlich mehr zu sagen hatte.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ich habe es gerade überlegt und eigentlich kann nur maticus als Mathematiker bei der Arbeit 120% geben. Wenn der Doc als Physiker das dazu noch in Rente macht, kreuzt sich vielleicht was in der Unendlichkeit des Universums.

    Gruß, Frank

    Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so selten dazu.

  • Ich habe es gerade überlegt und eigentlich kann nur maticus als Mathematiker bei der Arbeit 120% geben.

    Das hätte ich gerne genauer erläutert.

    maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Es geht wieder los mit den SWR-Konzerten in Stuttgart, gerade gebucht (10.09. Reihe 5 Parkett) :thumbup:

    Sergej Prokofjew
    Klavierkonzert Nr. 3 C-Dur op. 26

    Sergej Prokofjew
    Sinfonie Nr. 5 B-Dur op. 100

    Yulianna Avdeeva, Klavier
    SWR Symphonieorchester
    Teodor Currentzis, Dirigent

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Yulianna Avdeeva

    gewann 2010 den Chopin-Wettbewerb in Warschau - und das vor Ingolf Wunder (geteilter 2. Platz mit Lukas Geniušas) sowie einem gewissen Daniil Trifonov, der nur den 3. Platz belegte...

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    (Rammstein)

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