Gibt es alte Musik?

  • Du kannst Dir im Kopf den Unterschied zwischen dem Geigenton eines Milstein, Perlman oder Zimmermann vorestellen? Den Klavierton eines Gilels oder Rubinstein abrufen?

    nö.

    Das alles braucht die sinnliche Erfahrung nicht?

    doch.


    Dennoch verdanken auch Milstein, Perlman oder Gilels die Noten, die sie spielen, Komponisten, die die musikalische Imagination gepflegt haben. Natürlich brauchten die wiederum erstmal Erfahrungen mit real erklingender Musik, um ihre Vorstellungskraft zu "füttern".

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Dennoch verdanken auch Milstein, Perlman oder Gilels die Noten, die sie spielen, Komponisten, die die musikalische Imagination gepflegt haben. Natürlich brauchten die wiederum erstmal Erfahrungen mit real erklingender Musik, um ihre Vorstellungskraft zu "füttern".


    Nichts anderes ist meine Position.


    Es geht mir ja nicht darum, die Fähigkeit zur musikalischen Imagination schlechtzumachen, sondern lediglich um die (eigentlich beinahe banale) Feststellung, dass sinnlich wahrnehmbare akustische Phänomene zum Kern einer akustischen Kunst gehören.


    Das soll kein ausschließendes Verständnis von Musik sein, sondern erklären, warum die musikalische Darbietung (Aufführung oder Aufnahme) von solch großer Bedeutung ist und - um aufs Threadthema zurückzukommen - warum Musik einen stark gegenwartsbezogenen und wenig musealen Charakter hat.


    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Komponieren ist ja auch eine Art des Musizierens. Beim Improvisieren wird das ganz deutlich. Ich kann aber heute nicht mehr viel schreiben, daher noch eine grundsätzliche Überlegung: ich denke nicht, dass es sich hier um etwas handelt, bei dem eine allgemeingültige Definition gelingen muss oder wird. Eine analoge Frage, welche Dir wohl bekannt sein dürfte, ist, ob Viren Lebewesen sind oder nicht. Meines Wissens ist diese Frage noch nicht befriedigend geklärt.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Im Falle der Musik trifft allerdings zu: Entweder sie erklingt, dann existiert sie in Zeit und Raum, oder sie erklingt nicht, dann existiert sie nicht. Denn (ich weiß nicht, wieso das so schwer zu verstehen ist) Musik ist Musik, während die Erinnerung an Musik die Erinnerung an Musik, die Partitur die Partitur ist, mithin keine Musik ist, wie die Erinnerung an einen Kuchen oder das Kuchenrezept kein Kuchen sind.


    Ich kann einigem gut zustimmen.


    Doch meine ich, dass die Erinnerung an Musik zur Musik untrennbar gehört. Zum Beispiel ist es in der westeuropäischen Musik nach 1800 ganz nützlich, in der Durchführung eines Sonatenhauptsatzes die Themen aus der Exposition wiederzuerkennen. Die Musik ist geradezu darauf angelegt, dass man sich erinnert.


    Würde man den gegenteiligen Standpunkt annehmen - die Erinnerung spielt keine Rolle - und ein Drittes gibt es ja in manchen dogmatisch verengten Weltbildern nicht -, so würde sich Musik immer nur instantan ereignen, immer nur im gerade aktuellen Moment. Denkt man über die Länge eines solchen Momentes nach, so stellt man fest, dass seine Länge gleich Null sein muss. Denn nähme man an, der eine Moment hätte die positive Länge t, so würde man (die Messung beginne bei 0) bei t/2 schon die Musik zur Zeit 0 erinnern müssen, was wir aber ausgeschlossen hatten.


    Also: Spielte die Erinnerung keine Rolle, so nähme man Musik immer nur in einem punktförmigen Zeitintervall wahr. Da in einem punktförmigen Zeitintervall aber von Frequenzen keine Rede sein kann (Frequenz = Anzahl Schwingungen pro Zeiteinheit), gäbe es keine Frequenzen, keine Tonhöhen, keine Musik (jedenfalls nicht im Sinne der westeuropäischen Musik ab ca. 500).


    Wir haben gezeigt, dass die Erinnerung eine Rolle spielt und zur Musik untrennbar dazugehört.


    Gruß
    MB


    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Ich rufe noch einen Zeugen für die These, dass Erinnerung bei erklingender Musik eine Rolle spielt, auf: Richard Wagner.


    Richard Wagner nannte das, was wir heute "Leitmotiv" nennen, "Erinnerungsmotiv".


    Er ging davon aus, dass die Hörer des Rings in der Lage seien, bestimmte auffällige klangliche Konfigurationen zu memorieren und wiederzuerkennen. Bisweilen schafft er dadurch eine weitere kommunikative Ebene, etwa wenn Siegmund davon erzählt, dass er seinen Vater nicht mehr fand und das Orchester dann das Walhallmotiv spielt - der Hörer mit Erinnerung weiß dann, dass der Vater nach Walhall gegangen ist.


    Vielleicht ist es ja auch beim "Zweithören" von Musik bedeutsam, sich zu erinnern.


    Beim Ersthören des Finales von Bruckners Fünfter mag man den Choral im Finale bei seinem ersten Erscheinen für eine beiläufige, eventuell rein transitorische Passage ohne besondere Bedeutung für den weiteren Verlauf halten. Hat man das Finale jedoch zuende gehört und die Apotheose des Chorals qua Erinnerung nacherleben können, so wird man beim Zweithören aufhorchen, wenn der Choral dann zum ersten Mal angestimmt wird.


    Gruß
    MB


    :wink:

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  • Wir haben gezeigt, dass die Erinnerung eine Rolle spielt und zur Musik untrennbar dazugehört.

    Du widerlegst etwas (zudem einen offensichtlichen Blödsinn), das niemand behauptet hat: dass Erinnerung beim Hören von Musik keine Rolle spielt. Natürlich spielt sie eine Rolle, so wie sie das bei jeder Sinneswahrnehmung tut. Man kann keine Farbe "rot" wahrnehmen, ohne sich daran zu erinnern, wie rot aussieht. Man kann erst recht keinen Roman, ja nicht einmal eine Kurzgeschichte lesen und verstehen, ohne sich an Gelesenes zu erinnern. Deshalb ist die Erinnerung an einen Roman aber kein Roman, ebenso wie die Erinnerung an Musik keine Musik ist. Das ist derart klar, dass ich mich inzwischern nur noch frage, welche Interessen bzw. Ängste eigentlich diejenigen umtreibt, die eine solche Banalität allen Ernstes in Frage stellen. Ich habe so meine Ideen...


    Christian

  • Du widerlegst etwas (zudem einen offensichtlichen Blödsinn), das niemand behauptet hat: dass Erinnerung beim Hören von Musik keine Rolle spielt.

    Ich habe lediglich etwas präzisiert und die These, dass die Erinnerung an Musik keine Musik ist, zu einer Seite hin abgegrenzt. Wir stimmen nun darin überein, dass die Erinnerung an Musik keine Musik ist und obendrein darin, dass Erinnerung dennoch zur Musik dazugehört. Vom Standpunkt des in dieser Diskussion Erreichten ist dies ein Fortschritt.

    Deshalb ist die Erinnerung an einen Roman aber kein Roman, ebenso wie die Erinnerung an Musik keine Musik ist.

    Darin besteht ja Konsens.

    Das ist derart klar,

    Ja doch.

    dass ich mich inzwischern nur noch frage, welche Interessen bzw. Ängste eigentlich diejenigen umtreibt, die eine solche Banalität allen Ernstes in Frage stellen. Ich habe so meine Ideen...

    Deine Erwägungen in allen Ehren - sie können aber bestenfalls auf frühere Erlebnisse Deines Lebens qua Erinnerung rekurrieren und sind darum für die Diskussion eventuell wenig relevant.


    Würdest Du denn bei der These "Ohne Erinnerung ist Musik keine Musik" auch mitgehen?


    Gruß
    MB


    :wink:

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  • Das mit der Erinnerung ist mit Verlaub nun wirklich lächerlich. Ohne Erinnerung gibt es kein menschliches Bewusstsein, ergo auch keine musikalische Fähigkeit und musikalische Wahrnehmung. Ebensogut könnte man sagen, dass eine Leber zur Musik dazugehört, weil ein Mensch ohne Leber nicht existieren (und somit weder musizieren noch zuhören) kann.


    LG :wink:

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  • Ach ja, weißt Du - es gibt Lehrveranstaltungen, die sind gar nicht so lächerlich, da "beweist" man solche Binsenweisheiten wie 1 ungleich 0. Ich wäre vorsichtig mit der Bezeichnung "lächerlich".


    Zumal vor dem Hintergrund solcher Äußerungen schien mir die Bemerkung und der vorsorgliche Beweis doch nicht so ganz abwegig:

    An meiner Überzeugung, dass etwas, das nicht klingt, keine Musik ist, und dass Musik deshalb vor bzw. ab dem Augenblick des Verklingens nur noch als Partitur, Gedanke, Erinnerung oder sonstwas aber nicht mehr als Musik existiert, hätte das nichts geändert.


    Musik ist Musik, während die Erinnerung an Musik die Erinnerung an Musik, die Partitur die Partitur ist, mithin keine Musik ist,


    Zumindest gibt es also einen Unterschied - gemäß Christians Bemerkung im ersten Zitat - zwischen Musik, die seiner Meinung ja nur im Moment existiert (was, wie oben gezeigt, allerdings nicht ganz sein kann, da man zur Wahrnehmung von Frequenzen einen wie klein auch immer seienden ZeitRAUM benötigt) und der Rezeption von Musik, welche die Erinnerung offenbar einbezieht.


    Gruß
    MB


    :wink:

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  • Die Frage, die Argonaut mir leider nicht mehr beantwortet hat, scheint mir auf einen Schwachpunkt seiner Position hinzudeuten. Nämlich den, dass die Bedeutung des Komponisten, des "Urhebers", und vor allem seiner Komposition in seiner Argumentation eine zu geringe Stellung bekommt. Wenn das Werk nur existiert, wenn es erklingt, dann hätte der Urheber praktisch nichts oder so gut wie nichts geschaffen. Damit wäre er im komplexen künstlerischen Beziehungsgeflecht nicht nur graduell, sondern m.E. substanziell unterrepräsentiert.
    Ich bin überzeugt davon, dass Musik nur sein kann, wenn etwas erklingt und vom Menschen auch als klanglich-ästhetischer Ausdruck identifiziert wird. Ohne Schall keine Musik, ohne Hörer mit Hirn auch keine Musik.
    Beethoven hat im strengen Sinne keine Musik komponiert, sondern musikbezogene Texte. Diese Texte aber offenbaren für meine Begriffe auch einen 'Werkcharakter'. Sie stellen eine in der Regel abgeschlossene, kreative, äußerst komplexe, singuläre Einheit dar - sie repräsentieren geistig entworfene Gestalten, die ich weiterhin Kompositionen nennen möchte. So wie jeder Text das Ergebnis eines abgeschlossenen geistigen Prozesses als gültige "Zusammenstellung" repräsentiert. Und eine Komposition ist für mein Verständnis: ein Werk. Und ich meine, dass das nicht falsch oder zu hoch gegriffen ist, denn die Wirklichkeit zeigt, dass man sich über dieses Werk unabhängig von dessen konkreter Realisation unter ästhetischen Aspekten sinnvoll austauschen kann - weil es eben jene geistigen Gestalten enthält, die durch den Ur-Text (und natürlich seiner verlässlichen Reproduktionen) nachprüfbar repräsentiert und damit identifizierbar sind, weil sie ästhetische Ideen, Strukturen, Konzepte (...?) offenbaren. Die Partitur der Neunten als das repräsentative Ergebnis von Beethovens Komponistentätigkeit nicht als sublim-diffizil-großartigen künstlerischen Eigenwert anzusehen, fällt mir nicht ein. Nicht emotional, nicht bei kritisch-vernünftiger Betrachtung, nicht mit Blick auf gesammelte Erfahrungswerte.
    Dass Werk-, Rezeptions-, Wirkungsgeschichte dynamische, fließende, veränderliche (und wachsende!) Phänomene sind, ist klar. Dass keine Realisation der anderen gleicht, ja dass dies als Idealvorstellung überhaupt nicht gewünscht sein kann, auch. DIE Partitur aber als Urpunkt jeder Art von werkbezogener Geschichte wird grundsätzlich nicht verändert. Das schließt natürlich nicht aus, dass stets Möglichkeiten offenstehen, in Abschriften/Kopien auch Textveränderungen vorzunehmen oder nicht alle Aspekte des Textes im Rahmen einer Realisation zu befolgen. Aber niemand würde ernsthaft in einer "originalen" Beethoven-Partitur die Vortragsbezeichnungen verändern wollen und dürfen - weil sie als geistige Einheit, als Gesamtwerk eine unbedingt schützens- und erhaltenswerte (!) Autorität ist.

    ...schreibt Christoph :wink:

  • Das soll kein ausschließendes Verständnis von Musik sein, sondern erklären, warum die musikalische Darbietung (Aufführung oder Aufnahme) von solch großer Bedeutung ist und - um aufs Threadthema zurückzukommen - warum Musik einen stark gegenwartsbezogenen und wenig musealen Charakter hat.

    da sind wir einer Meinung. es kommt auch letztlich keiner darum, seine musikalischen Gedanken, wenn er sie denn nach außen bringen will, dem realen Test zu unterziehen: wie hört sichs an, wenn es wirklich erklingt? (es ist ja nicht jeder musikalische Gedanke wirklich gut, und manchen merkt man das halt erst an, wenn man sie entweder selbst am realen Instrument probiert oder, komplexer und nicht so leicht zu realisieren, wenn ein - wie es so schön heißt - "Klangkörper" mehrstimmige Ideen erklingen läßt.
    Entscheidend ist aufm Platz, kommt es im Ohr so an wie gedacht oder, wenn schon nicht so, dann vielleicht sogar besser....

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Die Partitur der Neunten als das repräsentative Ergebnis von Beethovens Komponistentätigkeit nicht als sublim-diffizil-großartigen künstlerischen Eigenwert anzusehen, fällt mir nicht ein. Nicht emotional, nicht bei kritisch-vernünftiger Betrachtung, nicht mit Blick auf gesammelte Erfahrungswerte.

    da kann ich mitgehen, s. weiter oben.

    Aber niemand würde ernsthaft in einer "originalen" Beethoven-Partitur die Vortragsbezeichnungen verändern wollen und dürfen - weil sie als geistige Einheit, als Gesamtwerk eine unbedingt schützens- und erhaltenswerte (!) Autorität ist.

    natürlich nicht.
    das heißt aber nicht, daß ich das Wort "Autorität" wirklich passend finde, da sehe ich es eher wie Christian bzw vielleicht noch etwas freier (kenne seine Position nicht so komplett, nur was hier im Forum so anklang): wenn eine Veränderung künstlerisch Sinn macht, gibt es keinen moralischen Grund, sie zu unterlassen, ausschließlich ästhetische, gestalterische. Hat vielleicht mit meinem Instrument zu tun, das mich zu ziemlich viel bearbeitender Tätigkeit zwingt. Wenn ich auf Stellen stoße, die ganz eindeutig so oder so komponiert sind, daß sie auf dem Klavier oder einer Geige gut klingen, nehme ich mir die Freiheit, sie so zu verändern, daß sie auf meiner Gitarre einen dem nahekommenden Effekt machen.

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  • natürlich nicht.
    das heißt aber nicht, daß ich das Wort "Autorität" wirklich passend finde, da sehe ich es eher wie Christian bzw vielleicht noch etwas freier (kenne seine Position nicht so komplett, nur was hier im Forum so anklang): wenn eine Veränderung künstlerisch Sinn macht, gibt es keinen moralischen Grund, sie zu unterlassen, ausschließlich ästhetische, gestalterische. Hat vielleicht mit meinem Instrument zu tun, das mich zu ziemlich viel bearbeitender Tätigkeit zwingt. Wenn ich auf Stellen stoße, die ganz eindeutig so oder so komponiert sind, daß sie auf dem Klavier oder einer Geige gut klingen, nehme ich mir die Freiheit, sie so zu verändern, daß sie auf meiner Gitarre einen dem nahekommenden Effekt machen.

    Ich weiß nicht, ob es dich jetzt sehr wundert: Aber ich sehe das so wie du. Und ich erinnere Christians wiederholte Hinweise darauf, dass rein gar nichts dagegen spricht, Elemente der Komposition zu verändern, solange diese Veränderungen "gut" sind. Ich glaube, dass ich damals mal den Begriff "überzeugend" irgendwo ins Spiel gebracht habe, der vielfach kritisiert wurde.
    Den Begriff "Autorität" verwendete ich also nicht, um einen Schutzwall hinsichtlich der Realisation zu errichten. Es ging mir darum, dass Argonaut vorhin auf die Veränderlichkeit des Werks hingewiesen hatte, was ich prinzipiell auch teile - da ich aber im Gegensatz zu ihm (?) die Komposition als geistiges "Werk" betrachte, wollte ich darauf hinweisen, dass dessen erste Repräsentation - der Urtext - eben nicht veränderlich ist und stattdessen alles dafür getan wird, um diesen Ur-Ausgangspunkt für jede klangliche Realisation zu erhalten. Ein Urtext stellt für meine Begriffe in diesem Sinne eine Autorität dar, da jeder, der die Neunte aufführen will, Kenntnis von ihm haben sollte - egal, was in der quasi-hermeneutischen Auseinandersetzung mit diesem Text dann weiter geschieht. Aber als Ausgangspunkt kann er m.E. nicht infragegestellt werden.

    ...schreibt Christoph :wink:

  • Und eine Komposition ist für mein Verständnis: ein Werk. Und ich meine, dass das nicht falsch oder zu hoch gegriffen ist, denn die Wirklichkeit zeigt, dass man sich über dieses Werk unabhängig von dessen konkreter Realisation unter ästhetischen Aspekten sinnvoll austauschen kann - weil es eben jene geistigen Gestalten enthält, die durch den Ur-Text (und natürlich seiner verlässlichen Reproduktionen) nachprüfbar repräsentiert und damit identifizierbar sind, weil sie ästhetische Ideen, Strukturen, Konzepte (...?) offenbaren.

    das ist auch mein Gefühl dazu - auch wenn es vielleicht (je nach Definition) selbst noch keine Musik ist, sondern nur potentiell ...

    Ein Urtext stellt für meine Begriffe in diesem Sinne eine Autorität dar, da jeder, der die Neunte aufführen will, Kenntnis von ihm haben sollte - egal, was in der quasi-hermeneutischen Auseinandersetzung mit diesem Text dann weiter geschieht.

    so kann ichs verstehen und nachvollziehen.


    Zu der Frage, inwieweit Musik (auch) etwas geistig vorhandenes sein kann, fiel mir noch en, daß es da vielleicht sogar Unterschiede gibt, je nachdem ein Stück mehr oder weniger die sinnliche Komponente "auskomponiert". Symphonien und andere klangfarbenreiche Werke sind vielleicht eher überwältigend im realen Klang, während die Vorstellung dann eher ein Schatten davon ist, während z.B. die Solosuiten von Bach oder gar ein garnicht instrumental festgelegtes Werk wie die "Kunst der Fuge" einen nicht so großen Bezug zur Sinnlichkeit des Klanges haben. was nicht heißen soll, daß es kein über die Phantasie weit hinausreichendes Ereignis ist, sie real erklingen zu hören.
    Aber alleine die Tatsache, daß Musik gut auch auf anderen Instrumenten als den ursprünglich vorgesehenen funktioniert, könnte ja auf eine weniger vom sinnlichen Klang als von "abstrakten" musikalischen Ideen inspirierte Struktur schließen lassen. Nur so ein Gedanke, keine fertige Theorie. Man schreibt ja manchmal dem Streichquartett eine mehr dem "geistigen" zugewandte Faktur zu - was für mich (aller-)spätestens mit Ravel nicht mehr so recht stimmt.


    Aber man könnte sich ja vorstellen, daß es Stücke geben kann, die explizit garnicht für Aufführungen gedacht sind, sondern dafür, nur in der Vorstellung eines Lesers zu erklingen. und die müßten garnicht auf Klangfarben verzichten - mir zumindest fällt es eher schwer, mir Töne ohne bestimmten Klang vorzustellen.


    Das ist jetzt alles etwas unsortiert und vielleicht sogar widersprüchlich, aber es gibt ja keinen Zwang zur schlüssigen Gesamttheorie...

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
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  • Nee, wenn es so wäre, würde ich hier ganz gepflegt die Schnauze halten.


    Den Text einer musikalischen Komposition würde ich aller fehlenden Gesamttheorie zum Trotz nie und nimmer als Musik bezeichnen. Ich wundere mich sehr über die Häufung von Aussagen hier im Thread, die eine Musikdefinition abseits gegenwärtiger Schallereignisse für möglich erachten.


    Was deine Überlegung hinsichtlich der möglicherweise unterschiedlichen Beschaffenheit des Verhältnisses von geistigen Implikationen und sinnlich wirksamen Komponenten einer Musikdarbietung betrifft - ich kann dem jedenfalls folgen. Es gibt so unterschiedliche und in Extreme führende künstlerische Ausprägungen - und da ich davon ausgehe, dass Musik sowohl sinnliche als auch geistige Rezeptionsebenen ermöglicht, die man auch getrennt voneinander thematisieren kann, spricht m.E. nichts gegen die Vorstellung verschiedener Schwerpunkte, die man an der Musik selbst versuchen kann zu verifizieren.
    Die "Kunst der Fuge" bietet für mich ein gutes Beispiel, darüber nachzudenken. Dennoch - und da schließt sich für mich wieder der Kreis - würde ich niemals auf die Möglichkeit ihrer klingenden Realisation verzichten. Um Musik zu werden, zu sein und dann zwangsläufig zu vergehen, bedarf es des sinnlich erfassbaren Spiels.

    ...schreibt Christoph :wink:

  • Dass Werk-, Rezeptions-, Wirkungsgeschichte dynamische, fließende, veränderliche (und wachsende!) Phänomene sind, ist klar. Dass keine Realisation der anderen gleicht, ja dass dies als Idealvorstellung überhaupt nicht gewünscht sein kann, auch. DIE Partitur aber als Urpunkt jeder Art von werkbezogener Geschichte wird grundsätzlich nicht verändert. Das schließt natürlich nicht aus, dass stets Möglichkeiten offenstehen, in Abschriften/Kopien auch Textveränderungen vorzunehmen oder nicht alle Aspekte des Textes im Rahmen einer Realisation zu befolgen. Aber niemand würde ernsthaft in einer "originalen" Beethoven-Partitur die Vortragsbezeichnungen verändern wollen und dürfen - weil sie als geistige Einheit, als Gesamtwerk eine unbedingt schützens- und erhaltenswerte (!) Autorität ist.

    Aber DIE Partitur gibt es doch in den seltensten Fällen. Was du "Urtext" nennst, wurde als Begriff von Verlagen erfunden, um die "ultimative" Notenausgabe zu verkaufen. Die ist aber meistens ein Zusammenschnitt von Autograph, Einzelstimmen, Druckfassungen etc. pp. Schon DIE Partitur gibt es so nicht, das ist ein Abwägen und Gewichten von mehreren Quellen. Als Beispiel mal der Kritische Bericht aus der Fünften von Beethoven in der Studienausgabe des Henle-Verlags (Neunte haben sie nicht), in dem unter anderem erwähnt wird, dass Beethoven nach dem Hören von Proben und UA noch Korrekturen angebracht hat: http://www.henle.de/media/review/9813.pdf

  • Aber DIE Partitur gibt es doch in den seltensten Fällen. Was du "Urtext" nennst, wurde als Begriff von Verlagen erfunden, um die "ultimative" Notenausgabe zu verkaufen. Die ist aber meistens ein Zusammenschnitt von Autograph, Einzelstimmen, Druckfassungen etc. pp. Schon DIE Partitur gibt es so nicht, das ist ein Abwägen und Gewichten von mehreren Quellen. Als Beispiel mal der Kritische Bericht aus der Fünften von Beethoven in der Studienausgabe des Henle-Verlags (Neunte haben sie nicht), in dem unter anderem erwähnt wird, dass Beethoven nach dem Hören von Proben und UA noch Korrekturen angebracht hat: http://www.henle.de/media/review/9813.pdf

    Derlei Einwände sind sicherlich berechtigt, und ich habe sie auch erwartet. Dennoch denke ich, dass jeder seriöse Dirigent, jeder seriöse "Interpret" auf der Suche nach einem möglichst gesicherten "ursprünglichen" Bezugspunkt für die jeweilige Aufführung sein müsste. Dass diese Suche dann Entscheidungen erfordert, die in gewissem Sinne schon erste Schritte der künstlerischen Auseinandersetzung sind, spricht m.E. nicht gegen die Notwendigkeit, diesen Bezugspunkt zu bestimmen.

    ...schreibt Christoph :wink:

  • Derlei Einwände sind sicherlich berechtigt, und ich habe sie auch erwartet. Dennoch denke ich, dass jeder seriöse Dirigent, jeder seriöse "Interpret" auf der Suche nach einem möglichst gesicherten "ursprünglichen" Bezugspunkt für die jeweilige Aufführung sein müsste. Dass diese Suche dann Entscheidungen erfordern, die in gewissem Sinne schon erste Schritte der künstlerischen Auseinandersetzung sind, spricht m.E. nicht gegen die Notwendigkeit, diesen Bezugspunkt zu bestimmen.

    Sicher, jeder Musiker sollte für sich einen Bezugspunkt haben, das unterscheidet ihn vom Wissenschaftler, der gewichten und abwägen kann, was einen Musiker wohl nur weniger interessant machen würde. Gerade die radikale Entscheidung für oder gegen einzuschlagende Wege machen Künstler aus. Aber mit einer Annäherung an Objektivität oder gar einen Urzustand eines Werks hat das wenig zu tun (Celibidache: "Das Werk gibt es gar nicht. Es entsteht vielleicht in dem Moment, wo Sie die richtigen Bedingungen dafür schaffen, als lebendiger Prozeß. Aber es ist kein Ding, das Sie festhalten können. Wie können Sie treu sein zu etwas, was es gar nicht gibt?" Stenographische Umarmung, Regensburg 2010, S. 51f.)

  • Sicher, jeder Musiker sollte für sich einen Bezugspunkt haben, das unterscheidet ihn vom Wissenschaftler, der gewichten und abwägen kann, was einen Musiker wohl nur weniger interessant machen würde. Gerade die radikale Entscheidung für oder gegen einzuschlagende Wege machen Künstler aus. Aber mit einer Annäherung an Objektivität oder gar einen Urzustand eines Werks hat das wenig zu tun (Celibidache: "Das Werk gibt es gar nicht. Es entsteht vielleicht in dem Moment, wo Sie die richtigen Bedingungen dafür schaffen, als lebendiger Prozeß. Aber es ist kein Ding, das Sie festhalten können. Wie können Sie treu sein zu etwas, was es gar nicht gibt?" Stenographische Umarmung, Regensburg 2010, S. 51f.)

    Das Zitat, denke ich, entspricht Argonauts Position. Und ich selbst kann dem wohl auch folgen. Aber es stellt sich mir bislang so dar, dass das noch nicht alles ist.

    ...schreibt Christoph :wink:

  • Gedanken an Musik keine Musik

    Vorstellung von Musik ist aber wieder was anderes als Gedanken an Musik. -


    es wurde schon mal die Frage nach Lyrik gestellt, die dann etwas abgebügelt wurde.


    Darum hier diese Frage noch mal "runtergebrochen" - wie ist es mit einem Wort oder einem Satz?


    Ist ein vorgestelltes Wort nicht auch ein Wort? Inneres Sprechen nicht auch Sprache?


    Ich will nicht sagen, daß es sich mit Musik genau so verhielte, aber mit den Gänsebratenbeispiel scheint mir die ganze Sache nicht erledigt.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

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