DOLPHY, ERIC : Eine One-Man-Avantgarde des modernen Jazz
Eric Dolphy ist nur 36 Jahre alt geworden. Geboren als Sohn panamaischer Einwanderer am 20. Juni 1928 in Los Angeles, gestorben an den Folgen einer nicht erkannten Diabeteserkrankung am 29. Juni 1964 in einer West-Berliner Klinik. Über sein Leben ist an anderer Stelle ausreichend viel gesagt (etwa in dem recht ausführlichen englischen Wikipedia-Artikel), daher hier jetzt keine Wiederholungen.
Eric Dolphy war vieles: Multiintrumentalist (Alt-Sax, Bassklarinette, Flöte, vereinzelt auch Klarinette und Picciolo-Flöte), Komponist, Arrangeur, Bandleader, einflussreicher und prägender Sideman, Grenzgänger zwischen Jazz und Neuer Musik. Das „Gesamtwerk“ von Jazzmusikern ist häufig schwer zu würdigen aufgrund ihres oftmals vergleichsweise riesenhaften Outputs. Das „Gesamtwerk“ von Dolphy zu würdigen scheint mir doppelt schwierig, weil er in der recht kurzen Zeit, die ihm als aktivem Musiker beschieden war, an einer nahezu unüberschaubaren Anzahl von Live- und Studiosessions beteiligt gewesen ist und dabei als zentrale Figur maßstäbliche und nachgerade „historische“ Alben und Liveperformances des modernen Jazz mitgeprägt hat – und zudem auch als Bandleader eine ganze Reihe von Platten gemacht hat, die sich als zukunftsweisend erwiesen haben.
Sein erstes Engagement in einer „bedeutenden“ Jazzband hatte er (soweit ich sehe) ab 1958 bei Chico Hamilton, 1960 begann dann seine – stets schwierige aber ungeheuer produktive, mit Unterbrechungen bis in Dolphys Todesjahr fortgeführte – Zusammenarbeit mit Charles Mingus, zu dessen Newport Rebels er 1960 gehörte. Ein Monument der Zusammenarbeit mit Mingus ist sicherlich das großartige Antibes-Konzert vom13. Juli 1960, an dem auch Ted Cursen, Booker Evin, Dannie Richmond und als Gast Bud Powell beteiligt waren.
Im gleichen Jahr begann auch Dolphys Zusammenarbeit mit John Coltrane, zu dessen Quintett-Formation er zwischenzeitlich gehörte. Für die berühmten Africa/Brass-Sessions (Mai/Juni1961) schrieb Dolphy die Big-Band-/Orchesterarrangements. Maßstäblich aus dieser Phase sind auch die Village Vanguard-Sessions vom November 1961 oder sein Beitrag zu einigen der Aufnahmen, die auf Coltranes Impressions (1963) erschienen sind.
Ein weiterer Meilenstein der Jazzgeschichte mit Dolphys Beteiligung ist natürlich Ornette Colemans Free Jazz (1960). Hier fungiert Dolphy an der Bassklarinette gewissermaßen als Leader der zweiten Hälfte des Doppelquartetts.
Und schließlich ist eine weitere, wenn auch weniger avantgardistische Großtat des modernen Jazz zu nennen, bei der Dolphy als Sideman zu höre ist: Oliver Nelsons The Blues and the abstract Truth (1961).
Das ist nur ein sehr kleiner – und klar auch subjektiv ausgeguckter – Auszug aus Dolphys Arbeit als Sideman. Andere mögen anderes wichtiger finden und es hier im Thread vorstellen.
Neben dieser extensiven Arbeit als Sideman trat Dolphy ab 1960 zunehmend auch als Bandleader, teils in einem Co-Leadership mit dem Trompeter Booker Little, hervor, obgleich (wenn ich recht sehe) nur sieben Alben zu seinen Lebzeiten unter seinem Namen veröffentlicht worden sind. Diese sieben „frühen“ Alben wurzeln, so mein Eindruck, im Idiom irgendwie noch im Bebop, sind aber insgesamt deutlich „abstrakter“ als man es vom Bebop vielleicht gewohnt wäre – was nicht zuletzt an den von extremen Intervallsprüngen und harsche, an den Grenzen zur Atonalität kratzenden Dissonanzen nicht scheuenden Soli von Dolphy liegt.
Der ‚Spätstil‘ Dolphys, der übrigens weniger in einem chronologischen Sinne "spät" ist als vielmehr in ästhetischer Hinsicht (es sind – posthum, etwa auf Other Aspects erst im Jahr 1987 veröffentlichte - Aufnahmen aus 1960 erhalten, die IMO bereits klar dem ‚Spätstil‘ zuzurechnen wären), ist auf Platten dokumentiert, die erst nach seinem Tod veröffentlicht sind (in Klammern das Aufnahmejahr nicht das Jahr der Veröffentlichung): Iron Man (1963), The Illinois Concert (1963), Naima (1964), Last Date (1964), Last Recordings aka Unrealized Tapes (1964), Other Aspects (1960-1964) und naklar sein Magnum Opus und Vermächtnis Out to Lunch (1964).
Dieser Spätstil Dolphys ist IMO durch drei Charakteristika bestimmt: a) eine in Reflexion des sich entwickelnden und zunehmend durchsetzenden freien Jazz weiter vorangetriebene Abstraktion seines solistischen Stils, wobei b) Tonalität/Modalität der Tunes und Patterns zwar teils überschritten aber nicht aufgegeben werden. Dies gilt auch für Metrum und Rhythmus: diese erscheinen zwar zur Disposition gestellt, aber es swingt durchaus und der Groove ist weiterhin da (das kann man etwa sehr schön auf den Tracks von Out to Lunch hören); c) eine Offenheit für eine Nähe zur Neuen Musik/europäischen Avantgarde (deutlichstes Beispiel ist vielleicht das Stück „Jim Crow“ auf dem Other Aspects-Album).
Das sind ziemlich subjektive Eindrücke und Einschätzungen meinerseits. Und jetzt auch noch ein paar ebenso subjektive CD-Empfehlungen. Ich habe mich für drei mal drei Empfehlungen entscheiden: Drei Alben mit Dolphy als Sideman; drei, die seinen „Frühstil“ als Leader zeigen; drei, die den „Spätstil“ zeigen.
a) Dolphy als Sideman:
Charles Mingus: Live at the Jazz Festival Antibes (1960):
Ornette Coleman: Free Jazz. A Collective Improvisation (1961):
John Coltrane: The Complete Village Vanguard Recordings (Nov. 1961; Erschienen 1997):
b) Dolphy als Bandleader („Frühstil“):
Out There (1961):
At the Five Spot 1&2 (1961):
Far Cry (1962):
c) Dolphy als Leader („Spätstil“)
Out to Lunch (1964):
Last Recordings (1964):
Other Aspects (1960-64; veröff. 1987):
Wenn man nur ein Dolphy -Album haben möchte, empfehle ich mal diese 2019 erschienene 3 CD-Box. Es handelt sich um eine Dokumentation der kompletten 1963er Sessions, aus denen die Alben Iron Man und Conversations hervorgegangen ist und akzentuiert sehr schön den „Spätstil“ und dessen innere Dynamik. Zudem wird deutlich, dass "Früh-" und "Spätstil" bei Dolphy teils zeitgleich sehr schön nebeneinander Platz hatten. Und das Booklet ist auch noch hervorragend ausführlich und informativ:
Musical Prophet
Und dann zum Schluss noch ein Buch, und zwar ein richtig gutes:
Simosko, Vladimir / Tepperman, Barry: Eric Dolphy. A Musical Biography and Discography (2nd Ed., 1996)
Adieu
Algabal