BLOW: Venus and Adonis
Sport ist Mord oder „Venus and Adonis“
I. Botanisch-Mythologisches
„Severin sah meinen Meister überrascht von der Seite an. ‚Interessierst du dich für die Kräuterkunde?‘ ‚Ein ganz klein wenig‘, antwortete William bescheiden. ‚Ich blätterte einmal vor Jahren im Theatrum Sanitatis von Ububchasym de Baldach…‘ ‚Abu Asan al Muchtar ibn Botlan.‘ ‚Oder Ellukasim Elimittar, wie du willst. Ob es hier wohl eine Kopie davon gibt?‘ ‚Mehrere, sehr schöne mit kunstvoll genmalten Bildern.‘ ‚Gelobt sei der Herr. Und wie steht es mit De virtutibus herbarum von Platearius?‘“ [1] Ob Bruder Severin wohl das ziemlich giftige „Adonis aestivalis“ – das Sommer-Adonisröschen – aus jenen oder anderen Schriften kannte und in seinem hortus botanicus vorrätig hatte? Er hätte versuchen können, es bei dem ein oder anderen Bruder der nicht näher genannten Abtei gegen Wassersucht oder gegen Harn- und Steinleiden einzusetzen. Aber weder Bruder William von Baskerville noch wir als Leser der Erinnerungen des Adson von Melk – genannt „Der Name der Rose“ – erfahren es. Und im Grunde wäre das für den hier vorgetragenen Gegenstand auch nicht ganz so wichtig, lautete der Name des Röschens nicht eben gerade so, wie er eben lautet: Adonisröschen. Es handelt sich bei diesem Pflänzchen um ein kleines, rot blühendes Gewächs aus der Familie der Hahnenfußgewächse. Und ihren Namen hat es nicht etwa aufgrund seiner atemberaubenden Schönheit, sondern weil sie in mythologischer Vorzeit aus den Blutstropfen entstand, die Adonis verloren hatte, nachdem auf der Jagd ein Eber „in die Weichen ihm tief seine ganzen / Hauer“ gerammt und auf diese Weise tödlich verletzt hatte. Selbiges passierte natürlich nicht einfach so, sondern auf Geheiß der trauernden Göttin Venus, deren Geliebter er gewesen war:
„[…] Nachdem mit Mächten des Schicksals / Hart sie gehadert, spricht sie: ‚Und doch wir eurer Gewalt nicht / Alles gehören. Es wird, o Adonis, stets meiner Trauer / Denkmal bleiben und wird, wiederholt alljährlich, im Bilde / Deines Todes Gedächtnis auch meine Klagen erneuern. / Aber dein Blut, es wird zur Blume mir werden. […] Die Göttin sprach’s und besprengte sogleich mit / Duftendem Nectar das Blut. […] Nicht mehr verging als die Frist einer vollen / Stunde, da wuchs aus dem Blut an Farbe ihm gleich eine Blume, […].“ [2]
Venus hatte auch allen Grund, hart mit dem Schicksal und mit sich selbst ins Gericht zu gehen, denn schließlich hatte sie den Tod des Geliebten nicht verhindern können. Erzählt wird die Geschichte der beiden Liebenden in Ovids „Metamorphosen“. Venus, die sonst immer dafür Sorge trug, dass sich die Männer der Menschen in sie verliebten, hatte sich nun doch einmal selbst in einen Mann verliebt. Sein Name: Adonis. Sein Merkmal: unerreichte Schönheit. Seine Tätigkeit: Jäger. Um ihm die Gefahren der Jagd näherzubringen, erzählt sie ihm die Geschichte von Atalanta und Hippomenes (die an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt wird, also: Ovid lesen!). Doch Adonis schlägt die Mahnung der Göttin in den Wind und wird dann – wie bereits gesagt – von einem wilden Eber (der möglicherweise der eifersüchtige Mars, Gatte der Venus, in disguise war) gemeuchelt. Bei Blow indes weht ein anderer Wind durch den Mythos. Wobei: Im Grunde weht derselbe weniger bei Blow als bei dem Textdichter, der lange Zeit jener vielköpfigen Familie angehörte, die auf den Namen Anonymus hört. Bei jenem nämlich ist es nicht Adonis, der sich unbedingt zur Jagd aufschwingen möchte. Viel schicker fände der es nämlich, bei der erotischen Göttin zu bleiben. „Adonis wird heute nicht jagen, hat er doch die nobelste Beute bereits gefangen“, flötet er ihr zu. Doch Venus sieht die Dinge anders und schickt ihn los: „Nein, mein Schäfer, eile fort. / Die Ferne lässt Begierde neu erwachen, / Ich will nicht, dass mein Geliebter müde wird.“ Doch man wird sich nicht einig. Schließlich lässt Venus ihren Liebsten stehen, der dann kaum anders kann als mit auf die Jagd zu gehen. Und so nimmt das Schicksal, versehen mit einem anderen Geschmack, seinen Lauf.
II. Dichtende Dame
Auf die Idee, den Spieß umzudrehen kam anscheinend kein Mann, zumindest, wenn man der Argumentation des Musik- und Literaturwissenschaftlers James Winn von der University of Boston folgen mag. In einem 2008 veröffentlichten Aufsatz schreibt er zur Frage des bislang so mysteriösen wie anonymen Autors:
„Ich werde hier einen neuen Kandidaten für die Autorenschaft des Librettos von Venus and Adonis vorschlagen: die Dichterin Anne Kingsmill, später Anne Finch, die zwischen 1682 und 1684 eine Hofjungfer der zweiten Duchess von York war. Der Hof der Duchess von York, wo die junge Anne Kingsmill diente, war für die Entstehung von Venus und Adonis ein ausgesprochen plausibler Ort. Obwohl Charles II. lebenslang ein Fan von Oper und Musik war, so wurde der Hof seines Bruders James, dem Duke von York, ein Zentrum musikalischer Schirmherrschaft als dieser seine deutlich jüngere zweite Frau Maria Beatrice von Modena 1673 heiratete. Die zweite Duchess war eine gebildete Musikliebhaberin und ihre Ankunft am Hof im November des Jahres löste zahlreiche musikalische Aktivitäten aus.“ [3]
Die Argumente, die Winn in seiner Arbeit vorstellt, können durchaus überzeugen. Drum seien sie an dieser Stelle kurz referiert. Zunächst geht Winn davon aus, dass der Hof Charles II. um 1683 viel zu sehr mit einem opulenten Opernplan beschäftigt war („Albion und Albanius“, eine Coproduktion von John Dryden und Louis Grabu, solle aus der Taufe gehoben werden), als dass man eine weitere Oper hätte stemmen können, selbst wenn sie deutlich unaufwändiger zur produzieren gewesen wäre. Der Hof des Duke of York indes hätte diese Kapazitäten durchaus gehabt und dem opernbegeisterten König so die Wartezeit auf die hauseigene Produktion verkürzen können. Auch der Stoff selbst spricht aus Winns Perspektive dafür, dass „Venus and Adonis“ aus James‘ Hause stammen könnte, denn dort waren seit der Ankunft der zweiten Duchess mehrfach Bühnenwerke ganz ähnlichen Sujets produziert worden. Und eben die dort vorgestellten Themen – Mythologisches, Pastorales, Erotisches – sind eben jene, mit denen sich auch die identifizierbaren (und erhaltenen) frühen Texte von Anne Kingsmill beschäftigen. Tatsächlich spricht auch die Anonymität des Librettos für eine Frau als Verfasserin. Denn der erotische Einschlag des Textes im Prolog und im ersten Akt wäre in jener Zeit als für eine (dichtende) Frau unschicklich, ja unsittlich oder in jeglicher Hinsicht ungehörig empfunden worden. Sie hätte mit Attacken und Gesichtsverlust rechnen müssen. Nicht umsonst gibt es Zeugnisse von Anne Kingsmill/Finch aus späteren Jahren, in denen sie explizit ausführt wie froh sein darüber sei, dass sie ihre Anonymität als Dichterin während ihrer Zeit am Königshof hatte wahren können. Einem männlichen Textdichter wäre derlei indes nicht angekreidet worden. Im Gegenteil. Er hätte vielmehr dafür gesorgt, dass sein Name im Textbuch erscheint, denn schließlich war es keine unerhebliche Ehre einen Text für ein Stück zu schreiben, das für eine Aufführung bei Hofe gedacht war. Schließlich zeigt Winn anhand von vielen Beispielen sprachliche Parallelen zu späteren Werken von Anne Finch auf.
Letztlich ist ihm aber natürlich bewusst – und er macht dies in seinem Text auch ganz deutlich –, dass es sich bei den von ihm angeführten Argumenten nicht um Beweise, sondern um Indizien handelt. Bis heute liegt keine Quelle vor, die ihre Autorenschaft beweist: „Wenn Anne Finch die Autorin von Venus and Adonis war, so war ihr Wunsch anonym zu bleiben stark. Sie hinterließ weder ein Bekenntnis noch irgendeinen Hinweis dazu, dass sie das Libretto geschrieben hat, […].“ [4]
Und tatsächlich bleiben einige Fragen bestehen, deren Beantwortung die These Winns noch überzeugender gemacht hätten. So ist unklar, wer auf Anne Kingsmill/Finch zugekommen sein soll, um von ihr einen Text zu erbitten. Wenn sie anonym dichtete und auf diese Anonymität so starken wert legte, wer wusste von ihrer Begabung? Warum sollte man hinsichtlich eines Librettos ohne Gründe auf eine einfache Hofjungfer zukommen? War sie vielleicht eine Favoritin des Duke of York? Oder hatte gar der in Liebesdingen, sagen wir maI, recht aufgeschlossene Monarch ein Auge auf sie geworfen? Und gab es irgendeine Verbindung stand sie zu John Blow? Wie realistisch ist das vorgeschlagene Szenario? Fragen über Fragen. Und doch: eine spannende Idee ist das schon, meint der frohsinnig vor sich hin dilettierende Autor dieser Zeilen.