Kulturelle Aneignung

  • "Schützen" bedeutete auf kulturellem Gebiet bis gestern hauptsächlich, "nicht kaputt machen" (wie die Buddha-Statuen), "nicht verbieten" (wie häufig Sprachen von regionalen Minderheiten), nicht aber das Verbot des Nachmachens.

    Irgendwie scheint mir da eine fragwürdige Übertragung vorzuliegen, von dem "geistigen Eigentum", das vor Plagiat zu schützen ist, auf etwas, das eigentlich immer als Gemeingut verstanden wurde, bei dem jedenfalls überhaupt nicht klar ist, inwiefern das Original oder sein "Besitzer" (wenn denn jemand ein höheres Recht auf einen Musik- oder Kleidungsstil haben kann) leidet, wenn man es kopiert.

    Wenn jemand ein Buch kopiert, kann der Autor weniger davon verkaufen.

    Aber wenn A die gleiche Frisur oder Kleidung trägt wie B, aber keiner damit irgendwie Geld verdient (wie ein Modeschöpfer) und A dem B nicht die Kleidung geklaut, sondern eben selber nachgeschneidert hat, ist schwer zu sehen, inwiefern B geschädigt worden sein sollte. Sollte B nicht froh über seinen Trendsetter-Einfluss sein?

    Wenn die gesellschaftliche Situation so ist, dass A dem B seine Kleidung/Frisur/Musik dann verbieten kann, nachdem A sie nachgeahmt hat, dann könnte man von ungerechter Aneignung sprechen. Die Ungerechtigkeit besteht dann aber nicht in dem Kopieren, sondern in einem mutmaßlich ungerechtfertigten Machtgefälle zwischen A und B und einem ziemlich sicher ungerechten Verbot gegen B. Ich will nicht ausschließen, dass es historisch solche Situationen gegeben haben mag. Dann war aber das, was als "kulturelle Aneigung" bezeichnet wird, wohl das geringste Problem des B oder seiner Gruppe...

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Ich glaube, bei der 'kulturellen Aneignung' geht es doch v.a. darum, dass Ausdrucksmittel einstmals oder immer noch unterdrückter Minderheiten ihnen von ihren damaligen/heutigen Beherrschern 'entwendet' und nun einem anderen, oftmals rein modischem Zweck oder einem, der hauptsächlich der Unterhaltung dient, verändert werden. Dabei geht dann der ursprüngliche Gehalt, der oftmals Auflehnung, Widerstand etc. beinhaltete, vollständig verloren. Wichtig ist aber, dass immer ein soziales Gefälle zwischen 'Aneignern' und Unterdrückten besteht.

    Wenn das so stimmt, kann ich den Gedankengang sogar nachvollziehen, halte ihn aber in einer immer stärker zusammenwachsenden Welt nicht mehr für praktikabel. Und auch nicht für anstrebenswert. Weiter oben in diesem Thread wurde schon darauf hingewiesen, dass die 'Aneignung' kultureller Güter auch Wertschätzung ausdrücken kann, der Verbreitung dient, Entwicklungen bewusster machen kann usw. Aber v.a. ändert sich die Welt. Was einst galt, muss heute nicht mehr von Bedeutung sein. Wenn man Rasta-Locken immer noch als ein No-Go für Weiße betrachtet, wenn weiße Künstler keine Pop-Musik mehr machen dürften, zementiert man damit auch einen Zustand, indem man behauptet, dass die Verhältnisse, die einst zu diesen kulturellen Ausdrucksformen führten, immer noch gelten. Es gibt, als Beispiel, auch heute noch kolonialistische Ausbeutung und Unterdrückung in Afrika, aber sie sieht anders aus. Und es ist fraglich, ob die Afrikaner von heute (sorry für die Verallgemeinerung) immer noch zu den selben Ausdrucksmitteln greifen würden. Dinge, die irgendwann einmal eine bestimmte Bedeutung hatten, verlieren diese im Laufe der Zeit, anderes tritt an deren Stelle und Früheres gewinnt eine neue Bedeutung. Das ist völlig normal und gilt für alle Kulturen und für alle Zeiten. Die Konservierung von Bedeutungen führt eher zu Trennungen und zu 'Schubladendenken'.

    Wo auch will man ansetzen? Irgendwann hat quasi jedes Volk mal unterdrückt oder wurde unterdrückt. Beschränken wir 'kulturelle Aneignung' nun z.B. auf die letzten 200 Jahre? Oder ist es der europäische Kolonialismus für den es besonders gilt? Zählen dazu vielleicht auch ausgebeutete Kulturen, die gar nicht mehr existieren, müssen nun also altägyptische Deko-Nippessachen wie entsprechende Katzenfiguren, Götterstatuen, Tut-anch-amun-Masken und was sich sonst noch so in Wohnzimmern tummelt, entfernt werden? Wo enden wir eigentlich, wenn wir das einmal konsequent zu Ende denken? Muss alles entfernt werden, was jemals durch Ausbeutung und Unterdrückung zu uns gelangt ist und dessen ursprünglichen Sinn wir verfremdet haben? Sollen nur Kulturleistungen erlaubt sein, die ein Volk, eine Nation, eigen und ohne Unterdrückung selber entwickelt hat?

    Manchmal dämmert bei mir so eine Erinnerung an eine bestimmte Epoche unserer Geschichte herauf, wo wir so etwas Ähnliches schon einmal hatten. Aus anderen Gründen natürlich, aber das Verbannen eines internationalen kulturellen Austausches (egal, aus welchen Gründen) kann doch nur zu mehr Nationalismus führen. Das kann doch wohl nicht gewollt sein.

    :wink:Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Aus unserer Presseschau:

    Die Argumentation von Fischer-Tiné finde auch ich plausibel. "Bereits die Vorstellung, dass kulturelle Ausdrucksformen klar abgrenzbar seien, sei falsch." Ein wichtiger Aspekt! (Allerdings kann ich seine Äußerungen nicht im Zusammenhang lesen, da der Link zum Tagesanzeiger zu einer Bezahlschranke führt.)

    Vielleicht hilft es weiter, wenn die. die sich etwas aus anderen Kulturen "aneignen", ihre Motive reflektieren. Eine Grenze des Anstands wäre für mich dann überschritten, wenn ich den Habitus einer anderen Kultur übernehme, um diese zu verspotten; das kann z. B. beim "black facing" der Fall sein - ich denke da etwa an die "Minstrels" (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Minstrel_Show), die Claude Debussy in seinen Préludes thematisierte. Das war vor über 100 Jahren; heute würde mich das einigermaßen befremden.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Sollen nur Kulturleistungen erlaubt sein, die ein Volk, eine Nation, eigen und ohne Unterdrückung selber entwickelt hat?

    Manchmal dämmert bei mir so eine Erinnerung an eine bestimmte Epoche unserer Geschichte herauf, wo wir so etwas Ähnliches schon einmal hatten. Aus anderen Gründen natürlich, aber das Verbannen eines internationalen kulturellen Austausches (egal, aus welchen Gründen) kann doch nur zu mehr Nationalismus führen. Das kann doch wohl nicht gewollt sein.

    Wenn ich mich mal als Aphoristiker versuchen darf: Kulturelle Aneignung ist das, was man früher Fortschritt genannt hat.

    Ansonsten kann ich so ziemlich unterschreiben, was Fischer-Tiné in dem verlinkten Artikel sagt. Der Kulturbegriff, der dem Vorwurf der kulturellen Aneignung zugrunde liegt, ist ein Konzept aus finsteren Zeiten, die wir heute hinter uns gelassen haben sollten.

    Liebe Grüße,

    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Lauwarme Moods

    Als Berner verfolge ich das verstörende Geschehen aus nächster Nähe.

    Ein Konzert der Musikgruppe "Lauwarm" (Reggae und Pop) konnte nach der Pause nicht weitergeführt werden, weil sich angeblich einige Besucher aufgrund der (vermeintlich) unangemessenen Dreadlocks eines Mitgliedes "unbehaglich" gefühlt hat ...

    Ich kenne von sporadischen Besuchen besagte "Brasserie Lorraine", die aus der einstigen autonomen Szene hervorgewachsen ist, und fand sie stets sympathisch in ihrer Offenheit und Toleranz (was ich mir keineswegs nehmen möchte angesichts des aktuell verstörenden Geschehens ...)

    Auch habe ich mich bis vor einigen Monaten keineswegs gesträubt gegen die Einhaltung von "Wokeness", denn sie hat durchaus in einigen gesellschaftlichen Bereichen ihre Berechtigung.

    Aber der empörende Abbruch eines Reggae-Konzerts (wegen kulturaneignendem "Rastismus") ist das Gegenteil von Toleranz und Offenheit:

    Mensch, was haben einige konzertbesuchende ZeitgenossInnen denn für echte Probleme, wenn sie das Bedürfnis haben, ihr "Unbehagen" auszudrücken angesichts der vermeintlichen "Kulturellen Aneignung", statt einfach die Musik zu geniessen, die von wohlwollenden, bunten und engagierten (und sicherlich nicht provozieren wollenden) Kulturpflegern ("Lauwarm") in den Aether gewuchtet wird.

    Gehts eigentlich noch?

    (Einer von ihnen hat übrigens sogar farbige Vorfahren ...)

    Schämt ihr euch eigentlich nicht, in arroganter Überheblichkeit eure ober-super-woke Verblendung als die wahre Sicht und einzig richtige Schau der gesellschaftlichen Dinge zu proklamieren?

    Himmelarsch, das alles ärgert mich zutiefst und lässt mich wahrlich verzweifeln ob den mürben Gesellschaftsmodellen gewisser extremer Links-Grünen, die zwar allenthalben (zu recht) Toleranz und Solidarität reklamieren, aber mehr und mehr übers Ziel hinausschiessen um schliesslich selbst in den Rassismus abzugleiten, weil sie nicht erkennen, dass die Weltprobleme um Potenzen gewaltiger sind als dieser lächerliche Kleinkram.

    Das sind doch wahrlich nichts als kleinliche, ja jämmerliche Nebenkriegsschauplätze in einer brüchigen Weltenmatrix, die nächstens in Flammen aufgehen wird.

    Menschen, geniesst es doch, dass nach dem elenden Coronismus überhaupt wieder Bands live auftreten können!

    Aber offenbar schlittern wir in Zustände, wo sich MusikerInnen zuerst einer Gesinnungsprüfung unterwerfen müssen, um auszutesten, ob sie politisch korrekt sind und konform gehen mit dem Narrativ ("bin ich ein Braver/eine Bravin?")

    Das Ganze wäre ja eigentlich nicht der Rede wert, wenn daraus nicht einmal mehr die Verbotskultur erkennbar ist, welche sich als Weltenrettung generiert, was sie aber imho nicht ist, ganz im Gegenteil!

    Von solchen Stromlinienkünstlern erwarte ich nun allerdings in der Tat keine zukunftsförderlichen (weil liebesfreundlichen) Gesellschaftsmodelle. Von der Kunst im Allgemeinen würde ich dies aber durchaus erwarten wollen.

    Nur Liebe, Mitgefühl und Toleranz werden die "Welt" retten. Alle Abgrenzungstendenzen entwickeln sich hin zu einem üblen Totalitarismus alter Prägung.

    Meine Güte, darf ich als "Schweizer" (und als Nicht-Ösi/Nicht-Russe) dereinst nicht mehr Mozart spielen (oder gar "Rachmaninoff")

    und darf ich mich horribile dictu auch nicht mehr in einen Blues vertasten?

    Auf solch eine "gereinigte Kultur" kann ich gut und gerne verzichten. Vielleicht bin ich naiv - aber ich bin es gerne - wenn ich fordere:

    lasst uns Liebe verbreiten und nicht Verbote.

    Das Ganze erinnert mich ohnehin zunehmend und fatal an die schreckliche "Kulturrevolution" im Zusammenhang mit dem "Grossen Sprung nach vorn" ...

    Nein, das möchte ich nicht erleben.

    Und das darf sich nicht wiederholen!

    Besorgte Grüsse aus Bern vom

    Walter

  • Lieber Walter , ich teile deine Bedenken . Und dann fällt mir immer wieder der alte Slogan ein : Keine Macht den Doofen . Ich sach mal : mit Denken hat das nix mehr zu tun . Das kleinste Karo ist der sicherste Rückzugspunkt .

    Good taste is timeless "Ach, ewig währt so lang " "But I am good. What the hell has gone wrong?" A thing of beauty is a joy forever.

  • Lieber Wälty,

    Jedes Deiner Worte kann man nur unterstreichen. Es ist ja selbst bloß biologisch betrachtet (von Moral und Kultur wollen wir gar nicht reden, weil das für manche Zeitgenossen sowieso Fremdworte sind) hanebüchener Unsinn, Aneignung und Vermischung abzulehnen. Genau das Gegenteil ist richtig, denn jede Inzucht führt nur in Sackgassen und Schlimmeres. Gottlob sind die Österreicher ein ausgesprochenes Mischvolk und unsere kulturelle Blütezeiten waren stets auf Aneignung gegründet, auch wenn beschränkte Hirne noch immer von der deutschen Nation oder ähnlichen Phantomen schwärmen. Unsere Genstruktur kennt bekanntlich keine Unterschiede weltweit. Anders sind zum Beispiel nur Frösche oder Fledermäuse, aber für die fühle ich mehr Sympathie als für Menschen, die nur in engen Schablonen denken können.

    ______________________

    Homo sum, ergo inscius.

  • Jetzt habe ich mich mal durch einige Nachrichten und Kommentare hindurchgearbeitet, die über den Konzertabbruch in Bern zu lesen sind. Aufgefallen ist mir dabei, daß die Perspektive der Menschen, die bei dem Konzert ihr Unwohlsein geäußert und den Veranstalter damit veranlaßt haben, das Konzert abzubrechen, so gut wie gar nicht sichtbar wird. Ich lese etwas vom Vorwurf der "kulturellen Aneignung" (Wolfram hat den Begriff, wie ich finde, oben, # 22, gut auf den Punkt gebracht, im ersten Absatz), aber das wars dann auch.

    Ausführlich dagegen die Darstellung der empörten Reaktionen über die Entscheidung der anscheinend völlig überforderten und verunsicherten Veranstalter und die gesellschaftiche Haltung, die dahinter ausgemacht wird, etwa in dem Sinn, wie es Walter oben, # 25, äußert. Oder z. B. dort: https://www.nzz.ch/feuilleton/kul…ends-ld.1695462

    Doch wo sind die Stimmen derer, die das Auftreten der Musikgruppe "Lauwarm" so verletzt hat? Die würden mich näher interessieren.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Ich frage mich auch, was die Veranstalter bewogen hat, das Konzert abzubrechen. Wenn sich einige Zuhörer "unwohl" fühlen, dann können sie ja gehen. Oder gab es Drohungen?

    maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Hmmm.

    Was, wenn wir das Problem mal versuchsweise verallgemeinern?

    Wenn wir etwa allen Nicht(süd)bayern und Nichtösterreichern das Tragen von Lederhosen und Dirndln auf dem Oktoberfest (wenn nicht überhaupt und sowieso) verböten? (Wiki: "Bei kultureller Aneignung würden die angeeigneten Bestandteile kultureller Identität zur Ware gemacht und damit trivialisiert. Zudem würden die angeeigneten Kulturelemente oftmals falsch, verzerrt oder übertrieben reproduziert, was zur Förderung von Stereotypen führen kann.")

    Oder nochmal anders: Wie frei ist Kunst (noch)? Dürfen wir noch Samba spielen? Ist Kunst nur für Indigene frei? Und dürfen indigene Gruppen Elemente der (weissen) Dominanzkultur übernehmen, die diese anschließend nicht mehr verwenden darf, weil es dann als kulturelle Aneigung gilt?

    Schwierig.

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Lieber Walter,

    ich kenne weder das Lokal und noch weniger die Gruppe. Aber auch mir fällt auf und da teile ich deine Meinung, dass die zunehmende - und grundsätzlich auch zu befürwortende - Political Correctness den Weg zu einer (nicht ganz neuen) Verbotsgesellschaft beschreitet.

    Ich provoziere jetzt in voller Absicht: Aber der Umkehrschluss, dass Musiker, die nicht aus Jamaika stammen, keinen Reggae spielen dürfen und schon gar nicht mit Dreadlocks, würde bedeuten, dass Mozart oder Beethoven oder Verdi auch nur von Ureuropäern gespielt/gesungen werden dürfen.

  • Ich provoziere jetzt in voller Absicht: Aber der Umkehrschluss, dass Musiker, die nicht aus Jamaika stammen, keinen Reggae spielen dürfen und schon gar nicht mit Dreadlocks, würde bedeuten, dass Mozart oder Beethoven oder Verdi auch nur von Ureuropäern gespielt/gesungen werden dürfen.

    Zwar bin ich keinesfalls auf Seiten der Cancelkulturisten, aber Ihr macht es Euch hier schon zu einfach. Wenn deutsche/österreichische Nichtjuden sich anziehen wie orthodoxe Juden und Klezmermusik spielen, dann würde das auch nicht bei jedem Juden auf Begeisterung stoßen. Ich als Nachkomme von rassisch verfolgten Juden sehe das jedenfalls ziemlich zweischneidig. Wenn der Auftritt auf das Spielen der Musik ohne Nachahmung des Jiddischen und der Kleidung erfolgte, wäre es wesentlich unproblematischer.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Lieber Bustopher, lieber brunello,

    mir scheint allerdings, daß Eure Beispiele das Thema verfehlen: Nach meinem Verständnis wird "kulturelle Aneignung" nicht generell kritisiert (und ist dann möglicherweise der kritische Punkt beim Konzertabbruch in Bern), sondern nur dann, wenn es um Machtverhältnisse geht, so wie es Wolfram zusammengefaßt hat:

    Ich glaube, bei der 'kulturellen Aneignung' geht es doch v.a. darum, dass Ausdrucksmittel einstmals oder immer noch unterdrückter Minderheiten ihnen von ihren damaligen/heutigen Beherrschern 'entwendet' und nun einem anderen, oftmals rein modischem Zweck oder einem, der hauptsächlich der Unterhaltung dient, verändert werden. Dabei geht dann der ursprüngliche Gehalt, der oftmals Auflehnung, Widerstand etc. beinhaltete, vollständig verloren. Wichtig ist aber, dass immer ein soziales Gefälle zwischen 'Aneignern' und Unterdrückten besteht.

    Fettung des letzten Satzes von mir. Mit der Ergänzung, daß ein solches "soziales Gefälle" nicht unbedingt real existieren muß, sondern auch nur angenommen werden kann. Was die Sache nicht einfacher macht... :/

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Es stimmt schon, daß "ein soziales Gefälle zwischen 'Aneignern' und Unterdrückten" seine problematischen Aspekte haben kann, aber wir dürfen einen kulturellen Austausch, selbst oberflächlicher Art, deswegen nicht von vornherein verteufeln oder ausschließen, sonst landen wir am Ende beim Kastenwesen oder einer sozialen Hierarchie à la Vor-Aufklärungszeiten. Das sage ich als Sohn einer Mutter, die wegen ihres unehelich geborenen Vaters keinen vollständigen Ariernachweis erbringen konnte und als jüdischer Mischling eingestuft wurde. Mein Onkel heiratete eine Volljüdin, die noch dazu die Tochter von Julius Deutsch war (jeder der mit der österreichischen Geschichte der Zwischenkriegzeit ein bißchen vertraut ist, kennt den Namen) und mußte mit seiner Familie 1938 schleunigst emigrieren. Ich denke, das befreit mich vom allfälligen Verdacht ideologischer Einseitigkeit.

    ______________________

    Homo sum, ergo inscius.

    Einmal editiert, zuletzt von Waldi (29. Juli 2022 um 14:53)

  • Heute erscheint ein hochinteressanter Artikel in der SZ, leider reduced. Vielleicht kann ihn der eine oder die andere in SZPlus lesen.

    Der Print-Titel lautet:

    Jamaika macht das Würstchen

    In der Schweiz wird ein Konzert abgebrochen, weil die überwiegend weiße Band Raggae spielt und teilweise Dreadlocks trägt

    Versuch eine Versöhnung

    "Unterschiedlichkeit als Bereicherung verstehen - ist das so schwer?"

    Kulturelle Aneignung: Band "Lauwarm" und die Gesellschaft
    Kulturelle Aneignung: Band "Lauwarm" muss Konzert abbrechen - wie kann die Gesellschaft mit ihrer Vielfalt gut umgehen?
    www.sueddeutsche.de
  • Ich sehe nicht, dass wir es uns zu einfach machen, lieber FM, wiewohl ich Deine Einlassung natürlich respektiere.

    Nichtsdestotrotz bin ich eigentlich weder kräftemässig in der Lage (bevorstehender Umzug) noch wirklich willens, ausführlicher auf die Thematik einzugehen.

    Hier nur noch dies:

    Ich glaube, ihr kennt nach 15 Jahren Tamino und Capriccio meine bedingungslose Menschenfreundlichkeit, die ich hemmungslos vor mich hertrage, wie eine "unantastbare Monstranz" (natürlich hinkt auch dieses Beispiel, sorry).

    Nichtsdestotrotz ist mir angesichts des vorliegenden Falles solchermassen der Kragen geplatzt, dass keine Knöpfe mehr an meinem Hemd hängen, infolgedessen ich somit mit blanker Brust zur Kenntnis geben muss, dass ich die Welt dieser militanten "Culture Canceler* innen und aussen und allenthalben" nicht mehr verstehen kann (auch wenn ich wollte), weil der Energieaufwand zu gross ist, um sich in deren Gefühlshaushalt einzudimmen. (Kein Vorwurf!)

    Ich erkenne nur noch Fanatismus und das krampfhafte Halten an kunstvoll-künstlich vorgeschriebenen, politisch korrekten, Leitplanken (einmal mehr: kein Vorwurf!)

    Aber an dieser Stelle ist es nicht mehr weit bis zum Festkleben, nicht wahr...

    Ich ahne: wer so etwas tut, muss wirklich verzweifelt sein, und sie/er/+ verdient mein Mitgefühl, und das bekommt sie/er auch (allerdings mit der passenden Aufklärung!)

    ***

    Ohne das Phänomen, welches neuerdings "kulturelle Aneignung" genannt wird, könnten wir die ungemein reichhaltige Musiktradition und -produktion schlichtweg vergessen.

    Es ist ja irgendwie tragisch: diejenigen Kreise, welch (sicherlich mit guten Absichten) mit allergrösster Vorsicht niemanden verletzen wollen, schaffen eine Atmosphäre von "Reinheit und Sterilität", die mit dem bunten, prallen, fetten Leben wenig mehr gemeinsam hat.

    Mit anderen Worten: die Cancel Culture ist in einer Sackgasse gelandet: die Kultur frisst sich selbst. Aber vielleicht ist ja dies das Ziel der ganzen Übung ... und wie gesagt, erinnert mich solches fatal an die Kulturrevolution in Gelben Landen.

    A propos: warum darf der längliche Lang eigentlich noch Mozart und Liszt spielen?

    Das ist eine völlig unsinnige (und nicht mal rhetorische) Frage!

    Mit Gruss aus Bern vom

    Walter

  • Nun, wenn Lang Lang Mozart und Liszt spielt, sehe ich da kein Problem. Es hat sich in Bern auch niemand beschwert, dass die Lauwarmen Reggae gespielt haben, sondern dass einer (?) der Musiker - so wie ich das erkennen kann weißer Schweizer - Dreadlocks trägt. Aus diesem Grund verstehe ich auch nicht, weshalb das hier als Kulturdiskussion geführt wird. Ist das Tragen von Dreadlocks bereits eine kulturelle Leistung? Mummenschanz aus dekorativen Gründen, der sich aber aus einer leidvollen Geschichte speist, ist nun einmal fragwürdig. Als grundsätzlich liberal eingestellter Mensch würde ich so etwas natürlich niemandem verbieten wollen. Trotzdem empfinde ich es als unpassend, wenn Ha-Jo aus Gelsenkirchen als aschkenasischer Orthodoxer verkleidet beim Singen "jiddelt". Mummenschanz, der die leidvolle Geschichte dieser Menschen unterschlägt eben.

    Nachtrag zu Lang Lang: wenn Lang Lang in China bei öffentlichen Veranstaltungen von hunderten gleichgeschalteten Chinesen auf hunderten Klavieren in einem Stadion ein Stück von Schubert gleichzeitig spielen lässt (tatsächlich so geschehen), kann man das durchaus als unappetitlich ansehen. Schubert als Propagandafutter.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Es stimmt schon, daß "ein soziales Gefälle zwischen 'Aneignern' und Unterdrückten" seine problematischen Aspekte haben kann, aber wir dürfen einen kulturellen Austausch, selbst oberflächlicher Art, deswegen nicht von vornherein verteufeln oder ausschließen, sonst landen wir am Ende beim Kastenwesen oder einer sozialen Hierarchie à la Vor-Aufkläungszeiten. Das sage ich als Sohn einer Mutter, die wegen ihres unehelich geborenen Vaters keinen vollständigen Ariernachweis erbringen konnte und als jüdischer Mischling eingestuft wurde. Mein Onkel heiratete eine Volljüdin, die noch dazu die Tochter von Julius Deutsch war (jeder der mit der österreichischen Geschichte der Zwischenkriegzeit ein bißchen vertraut ist, kennt den Namen) und mußte mit seiner Familie 1938 schleunigst emigrieren. Ich denke, das befreit mich vom allfälligen Verdacht ideologischer Einseitigkeit.

    Grösster Respekt vor Deinem Zeugnis, lieber Waldi! Hochachtung!!!

    Was für ein Schatz Du doch bist für das Forum!

    Wir sind Menschen! Einfach nur Menschen!

    Und als diese sind wir (nach meiner Einschätzung) Geschöpfe des göttlichen Universums.

    Das muss und wird so bleiben, mit oder ohne "gecancelte Kultur".

    Gruss von den Zähringern aus Bern

    Walter

  • Nun, wenn Lang Lang Mozart und Liszt spielt, sehe ich da kein Problem. Es hat sich in Bern auch niemand beschwert, dass die Lauwarmen Reggae gespielt haben, sondern dass einer (?) der Musiker - so wie ich das erkennen kann weißer Schweizer - Dreadlocks trägt. Aus diesem Grund verstehe ich auch nicht, weshalb das hier als Kulturdiskussion geführt wird. Ist das Tragen von Dreadlocks bereits eine kulturelle Leistung? Mummenschanz aus dekorativen Gründen, der sich aber aus einer leidvollen Geschichte speist, ist nun einmal fragwürdig. Als grundsätzlich liberal eingestellter Mensch würde ich so etwas natürlich niemandem verbieten wollen. Trotzdem empfinde ich es als unpassend, wenn Ha-Jo aus Gelsenkirchen als aschkenasischer Orthodoxer verkleidet beim Singen "jiddelt". Mummenschanz, der die leidvolle Geschichte dieser Menschen unterschlägt eben.

    Nachtrag zu Lang Lang: wenn Lang Lang in China bei öffentlichen Veranstaltungen von hunderten gleichgeschalteten Chinesen auf hunderten Klavieren in einem Stadion ein Stück von Schubert gleichzeitig spielen lässt (tatsächlich so geschehen), kann man das durchaus als unappetitlich ansehen. Schubert als Propagandafutter.

    Lieber Felix

    Danke für Deine Replik.

    Ich fühle durchaus eine Resonanz.

    Nichtsdestotrotz habe ich so meine liebe Mühe, wenn Du überfaktisch einen "Ha-Jo aus Gelsenkirchen" herbeizitieren musst, um die Problematik der Aneignung zu demonstrieren (Stimmt natürlich ...).

    Es wäre mir ein grosses Anliegen, wenn dieser Faden nicht politisch ausufern würde.

    Ich grüsse den Ex-Berner ganz herzlich

    Walter

  • Mir geht es keineswegs um Politik. Unsere Gesellschaft hat sich gegenüber den Sorgen der Menschen geöffnet, und so äußern sich auch diejenigen, die früher keine Stimme hatten oder denen man nicht zugehört hat. Ich persönlich kann sehr gut nachempfinden, weshalb bspw. ein Schwarzer sich an diesem konkreten Fall stört. Ich finde, es ist völlig legitim, das auch offen zu kommunizieren. Womit ich ein Problem habe, ist das Verbieten - nicht das Thematisieren. Das heißt konkret: man soll sagen, wenn einen ein gewisses Auftreten oder Verhalten stört, aber man soll nicht nach Verboten rufen. Verbote sollen für wirklich ernste Übertretungen reserviert bleiben. Die Gesellschaft kann das ja auch. Mir wäre z.B. nie aufgefallen, dass es gesetzlich verboten wäre, im Bus zu furzen oder offen zu popeln. Trotzdem wird dieses Verhalten sozial geächtet und ist mit Konsequenzen behaftet, die ein ein passenderes Verhalten in der Zukunft bewirken. Natürlich gibt es da Individuen, die sich überhaupt nicht um gesellschaftliche Konventionen scheren, aber das ist auch immer eine Frage der sozialen Kohärenz einer Gesellschaft. Und hier der Ringschluss zum Thema: leben wir in einer "guten" Gesellschaft, also einer mit viel Kohärenz, dann respektieren wir auch die Wünsche und wunden Punkte anderer.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

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