29.05.1897 - Geburtstag von Erich Wolfgang Korngold
Die folgende, hier um c. die Hälfte gekürzte Rezension erschien am 15.04.1916 in der (Wiener) 'Neue(n) Freie(n) Presse'. Der Verfasser Leopold Schmidt >1860/1927< 'erlangte (lt. wikipedia.org) als Musikkritiker beim 'Berliner Tageblatt' seit 1897 eine führende Rolle'.
In München hat die UA der beiden Korngoldschen Opern 'Violanta' und 'Der Ring des Polykrates' stattgefunden. Dem jungen Erich Wolfgang mögen andere beratend zur Seite gestanden haben - bezeichnend bleibt es doch, daß er sich an das glutvolle Renaissancedrama Hans Müllers gemacht hat und gleichzeitig dem ernsten ein heiteres Werk folgen ließ: daraus spricht großes Selbstvertrauen, und nur eine reiche Phantasie konnte das Bedürfnis fühlen, sich gleich beim erstenmal in kräftigen Gegensätzen zu betätigen. Daß die Isarstadt einem ungewöhnlich jungen Dramatiker Gastrecht gewährte, war nicht das erstemal: gleichfalls München war es gewesen, wo der Jüngling Mozart 1775 seine 'Finta giardiniera' und 1781 seinen 'Idomeneo' zur Aufführung brachte.
Unbezweifelbar sind die seltsame Frühreife des Achtzehnjährigen, seine schier unheimliche Herrschaft auch über die kompliziertesten Mittel der Kompositionstechnik. Offensichtlich hat Richard Strauß den stärksten Einfluß gehabt - (z. B.) verzichtet (K.) auf leitmotivische Arbeit, verwendet das musikalische Symbol mehr wie (dieser) -, auch Schillings, ein wenig Debussy und von den Italienern Puccini haben Pate gestanden; direkte Anklänge oder Entlehnungen sind aber, auffällig genug, nirgends nachzuweisen.
K. liebt es, in seinen Akkordbildungen von dem althergebrachten Terzensystem abzuweichen. Reichlich verwendet er alterierte Akkorde - sie genügen ihm aber nicht: nach Art des Motivs der silbernen Rose im 'Rosenkavalier' setzt er verschiedene Tonarten nebeneinander; daher die häufigen Sekunden und Sekundfortschreitungen, die das Ohr zunächst befremden, deren Wirkung aber durch den verschiedenen Klangcharakter der Instrumente gemildert wird. Und bei näherer Prüfung zeigt sich - als Ursache so kühner Kombinationen - überall ein äußerst feines Hören, in das man sich hineindenken kann. Möglich sogar, daß Korngolds Tonvorstellungen unbewußt von dem nach Ansicht mancher Modernen latent in unserer Musik vorhandenen Vierteltonsprinzip beeinflußt sind. Daß (diese) sich in einer völlig freien, vom Wortakzent abhängigen, Rhythmik bewegen, der jungen Komponist sich nicht an die 'Verwandtschaft' der Tonarten, nicht an das Verbot der Quint= und Oktavparallelen kehrt, versteht sich nach alledem von selbst.
K. stehen alle Ausdrucksformen des Dramas zu Gebote: mit der Sicherheit eines erfahrenen Bühnenpraktikers verschmelzt er geschickt die symphonisch aufgebaute Szene, das Orchesterintermezzo, die geschlossene Kantilene, deklamatorische(n) Stil und de(n) dramatische(n) Aufschrei der Veristen. Kleine Irrtümer in der Instrumentation wiegen nicht allzu schwer. Die Theatralik der 'Violanta' hat ihn zu krassen Effekten in Blechbläsern und Schlagzeug verführt, zu einer stellenweise allzu dicken Instrumentierung, unter der zuweilen Singstimmen und Wortdeutlichkeit leiden. Insbesondere ist die Verdoppelung der Kantilene im Orchester und die etwas unvorsichtige Art im Gebrauch der Hörner zu beanstanden. Was will das aber besagen gegenüber dem Charakterisierungsvermögen dieser Partitur - nirgends sind tote oder matte Stellen, alles hat Farbe und Leben. Man beachte, mit welch sicherer Hand das Ganze wie die einzelnen Szenen aufgebaut sind, wie für Steigerungen gesorgt, (wie) Licht und Schatten verteilt ist. K. beherrscht scheinbar spielend, was für Opernkomponisten gewöhnlich das Schwerste ist: die Durchdringung von Stoff und musikalischer Form, der dramatische Atem, die Kunst der großen Linie.
Soll ich beide Werke vergleichen, so scheint mir der 'Polykrates' das in sich abgerundetere, (die) 'Violanta' aber die noch stärkere Talentprobe ((zu sein.)) Interessant zu sehen ist, wie K. sich zu jedem der beiden Stoffe verhalten hat: dort dunkle Farben, wildbewegte glutvolle Tonsprache, hier Behaglichkeit und Frohsinn, zarte lichte Gebilde. In beiden Werken versäumt K. nicht, den Lokalton - nächtliches Venedig ((resp.)) bürgerliche Atmosphäre der dt. Kleinstadt - anklingen zu lassen. Gleich die Eingangsszene in der 'Violanta' ist keck und sicher entworfen: aufschäumende Lustigkeit, schattenhafte Gestalten, der Gesang der Gondoliere, das verhängnisvolle Lied der Masken - alles ist zu einem buntschillernden, wirkungsvoll geformten Ganzen vereinigt. Charakterlich unterschieden sind die einzelnen Gestalten, der verliebte Diener, der lebenslustige Maler, der ehrenfeste Soldat. In der Violanta selbst war dem Komponisten die schwerste Aufgabe gestellt: die brüchige Psychologie dieser Frauengestalt künstlerisch zu rechtfertigen, hätte auch ein reifer Meister schwerlich vermocht. Korngolds Musik erfaßt immerhin, was menschlich wahr, scharf charakteristisch an ihr ist.
Im 'Polykrates' erfreuen neben durchsichtiger, wohlklingende(r) Instrumentation die über die Partitur verstreut(en), vortrefflich gearbeiteten Ensemblesätze. In diesen Scherzi von rhythmisch und harmonisch klarer Bestimmtheit sprudelt frisches und natürliches Leben. Am meisten überrascht die Sicherheit, mit der der gefällige und doch feine Ton der echten Spieloper getroffen und festgehalten ist. Nur mit der Schlußpointe hat sich der Komponist nicht so glücklich wie im übrigen abzufinden gewußt: da steht ein an sich schönes, motivisch entwickeltes Quartett in Es, das etwas stilfremd aus dem Rahmen fällt.
zit. v. anno.onb.ac.at