Der zitierte Beitrag stammt aus der Diskussion über Bruckners 9. Symphonie; es geht dort um die Frage, ob eine Aufführung mit rekonstruiiertem Finale sein soll bzw. sinnvoll, legitim, wünschenswert usw. ist:
Alles anzeigenWas man auf jeden Fall nicht aufführen sollte, ist das, was Rattle und andere da aufführen, nämlich so ein Konstrukt, das nichts mit Bruckners Willen zu tun hat.
Der Wille des Komponisten ist aber auf der Bühne nicht die letzte Instanz. Dazu kennen wir den Willen des Komponisten auch viel zu wenig genau. Die Fälle, wo Komponisten bekanntermaßen ihre Werke abweichend von ihrem notierten Willen aufgeführt haben oder wo Komponisten ihren Willen nach einigen Aufführungen sogar änderten, will ich erst gar nicht anführen.
Wie immer gilt: Wäre Bruckner nach dem Komponieren der ersten Fassung der vierten Sinfonie gestorben, so gäbe es eventuell einige selbsternannte Verteidiger des letzten Komponistenwillens, die behaupten würden, die vierte Sinfonie dürfe man immer nur in der Fassung spielen. Im Falle dieser Sinfonie bin ich ganz dankbar, dass der Komponist in seinem Leben noch genug Zeit hatte, diesen Verteidigern selbst zu widersprechen. Bei der neunten Sinfonie hatte er diese Zeit nicht.
Was zählt, is aufm Platz. Ein Konzert ist kein Termin zur Testamentsvollstreckung, selbst wenn irgendwelche Noten eine (wie auch immer) reduzierte Form eines Komponistenwillens zu einem bestimmten Zeitpunkt darstellen sollten.
Wenn ein nachkomponierter vierter Satz von anderer Feder aufgeführt wird, dann behauptet ja auch niemand, dass dies der Wille Bruckners sei. Na und? Es ist ein Stück Musik, das aufgeführt wird. Nicht mehr, nicht weniger. Ob es gut oder weniger gut ist und ob es zum Vorangegangenen mehr oder weniger passt, sind davon unabhängige Fragen.
Als ich music lovers These, daß man nichts aufführen solle, was "nichts mit Bruckners Willen zu tun hat", las, war ich schon drauf und dran zu antworten, bemerkte dann aber, daß Mauerblümchens Beitrag so ziemlich dem entspricht, was auch ich geschrieben hätte.
Da die hier angesprochene Problematik sich nicht nur auf Aufführungen von Bruckners Neunter beschränkt, hier ein neues Thema mit allgemeiner Fragestellung, bezogen auf Konzertaufführungen(!):
Wie verbindlich ist der Wille des Komponisten?
Ich stelle mal Folgendes in den Raum: Der Komponistenwille ist vollkommen wurscht (zumal es viele Fälle gibt, in denen unbekannt ist, was der längst verstorbene Komponist einst gewollt hat). Wichtig ist allein, was aufführende Musiker daraus machen, ggf. auch das, was Konzertveranstalter und das Publikum wünschen.
Einzige Einschränkung: Natürlich gibt es rechtliche Schranken, sprich: das Urheberrecht, das dem Komponisten zu seinen Lebzeiten und seinen Erben erlaubt, Grenzen zu ziehen.
Aber sonst?
Nachtrag: Ich habe die Fragestellung bewußt auf Konzertaufführungen beschränkt, also Szenisches, sprich: Oper, ausgeschlossen; Fragen der Opernregie gehören nicht hierher! Was Letzteres angeht, so haben wir ja bereits die jahrelange Debatte dort:
Was ist, was soll, was darf Opernregie? Und was nicht?
Eigentlich wurde diese Diskussion schon in diesem Thread von Symbol angegangen: "Regietheater" - Was ist das eigentlich?Leider hat sich die Diskussion dort an dem eher abwertenden als beschreibenden Begriff "Regietheater" festgebissen. Dabei fing sie schon an, sich zu lohnen, denn das Thema selbst ist ja für alle, die Oper live schätzen, von außerordentlichem Interesse. Gerne erfülle ich daher Symbols Wunsch und eröffne das Thema erneut…
Eine herzliche Bitte: Mir geht es hier ausschließlich um Konzertaufführungen: Orchestermusik und Kammermusik!