"Der Wille des Komponisten" in Konzertaufführungen: Ist er verbindlich?

  • Der zitierte Beitrag stammt aus der Diskussion über Bruckners 9. Symphonie; es geht dort um die Frage, ob eine Aufführung mit rekonstruiiertem Finale sein soll bzw. sinnvoll, legitim, wünschenswert usw. ist:

    Als ich music lovers These, daß man nichts aufführen solle, was "nichts mit Bruckners Willen zu tun hat", las, war ich schon drauf und dran zu antworten, bemerkte dann aber, daß Mauerblümchens Beitrag so ziemlich dem entspricht, was auch ich geschrieben hätte.


    Da die hier angesprochene Problematik sich nicht nur auf Aufführungen von Bruckners Neunter beschränkt, hier ein neues Thema mit allgemeiner Fragestellung, bezogen auf Konzertaufführungen(!):


    Wie verbindlich ist der Wille des Komponisten?


    Ich stelle mal Folgendes in den Raum: Der Komponistenwille ist vollkommen wurscht (zumal es viele Fälle gibt, in denen unbekannt ist, was der längst verstorbene Komponist einst gewollt hat). Wichtig ist allein, was aufführende Musiker daraus machen, ggf. auch das, was Konzertveranstalter und das Publikum wünschen.


    Einzige Einschränkung: Natürlich gibt es rechtliche Schranken, sprich: das Urheberrecht, das dem Komponisten zu seinen Lebzeiten und seinen Erben erlaubt, Grenzen zu ziehen.


    Aber sonst?


    :wink:


    Nachtrag: Ich habe die Fragestellung bewußt auf Konzertaufführungen beschränkt, also Szenisches, sprich: Oper, ausgeschlossen; Fragen der Opernregie gehören nicht hierher! Was Letzteres angeht, so haben wir ja bereits die jahrelange Debatte dort:


    Eine herzliche Bitte: Mir geht es hier ausschließlich um Konzertaufführungen: Orchestermusik und Kammermusik!

    Es grüßt Gurnemanz
    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Gurnemanz

    Hat den Titel des Themas von „"Der wille des Komponisten": Ist er verbindlich?“ zu „"Der Wille des Komponisten" in Konzertaufführungen: Ist er verbindlich?“ geändert.
  • Diese Fragestellung betrifft mMn nicht nur die Vollendung bzw. das kompositionelle Nacharbeiten unvollendeter Werke, sondern auch der Frage, in wieweit Bearbeitungen von Werken für andere Besetzung sinnvoll und wünschenswert sind.

    Ich bin da zwiegespalten. Generell behagen mir Bearbeitungen eigentlich nicht sonderlich, allerdings hat ausgerechnet die Kammerversion der 7. von Bruckner ungewöhnlich guten Eindruck gemacht. Ja, ich habe die Version impulsiv sogar als eindrücklicher empfunden als das Original mit der zehnfachen Besetzung…

    Sie wurde letztes Jahr bei den Salzburger Festspielen in vorzüglicher Besetzung unter der Leitung von Renaud Capuçon an der 1.Violine aufgeführt.

    -----------------------------------------------------------------------------------------------
    Was ist heute Kunst ? Eine Wallfahrt auf Erbsen. (Thomas Mann, Doktor Faustus, Kap. XXV)

  • Ich stelle mal Folgendes in den Raum: Der Komponistenwille ist vollkommen wurscht (zumal es viele Fälle gibt, in denen unbekannt ist, was der längst verstorbene Komponist einst gewollt hat).

    Das eine, was mir einfällt, ist ein Zitat von Brahms: "Machen Sie es wie Sie wollen, machen Sie es nur schön". Offenbar gab es für Brahms nicht nur die eine "ideale" Möglichkeit, sein Geist war eventuell weiter als der der Propheten der einzigen Wahrheit.


    (Was unsere Erfahrung mit verschiedensten Interpretationen ein- und desselben Werkes ja irgendwie auch bestätigt.)


    Das andere ist, dass der Komponistenwille sich in vielen Fällen als wandelbar heraustellte, Tempovorschriften (Schumann, Sibelius), Besetzungen (Bach), Satzfolgen (Mahler), ...


    Außerdem ist das Ganze ein Resonanzphänomen. Der Interpret muss irgendwie in Resonanz mit dem Werk kommen, es muss in ihm einen Impuls der Art "ich will das aufführen" entstehen (dass es Fälle geben mag, wo eine Nicht-Resonanz sogar zu CD-Ehren kam ... geschenkt).


    Dann muss ein Hörer mit der Wiedergabe in Resonanz kommen, irgendetwas in ihm muss angerührt werden, Herz, Kopf, Bauch, was auch immer, was sonst unberührt geblieben wäre.


    Wo genau kommt da der Jahrzehnte, Jahrhunderte alte Komponistenwille vor? Verstehe ich nicht.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Wenn ich da an dem Fragment von Beethovens 10. denke:


    Ich habe die von einem gewissen Cooper vervollständigte Aufnahme des ersten Satzes. Schon stimmig, aber wenn ich das höre beende ich oft nach der ehrfurchtsvollen Pause mit einem ganz leisen Paukenwirbel nach ca 7 Minuten. Dadurch entgeht mir dann zwar die melodische Weiterentwicklung des Satzes, aber die vom Meister selbst stammende Orchestrierung und Bearbeitung des langsamen Satzes seiner Pathetique - Klaviersonate am Anfang ist für mich bereits alleinstehend das Ganze wert. Die spätere Computeriteration der ganzen Symphonie habe ich bisher noch nicht gehört, ich scheue davor, weil ich denke, daß kein Computer der Welt wie Beethoven fühlen kann - die Chance, daß das ein anderer Musiker machen könnte ist derweil für mich nicht absehbar.

    ... Alle Menschen werden Brüder.
    ... We need 2 come 2gether, come 2gether as one.
    ... Imagine there is no heaven ... above us only sky

  • Ich stelle mal Folgendes in den Raum: Der Komponistenwille ist vollkommen wurscht (zumal es viele Fälle gibt, in denen unbekannt ist, was der längst verstorbene Komponist einst gewollt hat). Wichtig ist allein, was aufführende Musiker daraus machen, ggf. auch das, was Konzertveranstalter und das Publikum wünschen.


    Einzige Einschränkung: Natürlich gibt es rechtliche Schranken, sprich: das Urheberrecht, das dem Komponisten zu seinen Lebzeiten und seinen Erben erlaubt, Grenzen zu ziehen.


    Aber sonst?

    Ich glaube auch, dass es sonst keine Einschränkungen gibt, ganz im Sinne des von Mauerblümchen zitierten Brahms-Diktums (zumindest in der aktuellen Kunstlandschaft).


    Man könnte aber diskutieren, ob es nicht analog zum Koselleckschen "Vetorecht der Quellen" in der Geschichtstheorie auch so etwas wie ein "Vetorecht der Partitur" in der Aufführungstheorie geben könnte. Ob also der oder die Ausführende sich alle Freiheiten nehmen kann bei der Umsetzung dessen, was im vorliegenden Text steht, nicht aber gegen den vorliegenden Text handeln. In dieser Richtung hat ja zum Beispiel Nikolaus Harnoncourt oft argumentiert, wenn er auf Temporelationen innerhalb eines größeren Werkes hingewiesen hat, die in der Aufführungstradition verkehrt worden seien und die er nun wieder genau berücksichtigt. Auch die Kritik an Beschleunigungen oder Verzögerungen, die sich eingebürgert haben aber nicht in der Partitur stehen, geht in diese Richtung. Ganz anschaulich und plakativ: Wie langsam oder schnell ein Adagio einer bestimmten Symphonie gespielt wird, das ist Sache des Dirigenten. Wenn es aber schneller gespielt wird als das Allegro, dann ist das objektiv nicht mit der Partitur zu vereinbaren.


    Gestern Nacht kam eine ganz ähnliche Diskussion ("Wille des Autors") übrigens auch im "Literarischen Quartett" vor, als der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch besprochen wurde. Es ging darum, dass Bachmann offenbar ausdrücklich erklärt hat, sie wolle nicht, dass ihre privaten Briefe an Frisch an die Öffentlichkeit kommen. Daran hat sich die Familie lange Zeit gehalten, nun sind sie aber doch gedruckt und veröffentlicht. Ist das in Ordnung, wie geht man damit um? Die Meinungen waren unterschiedlich und die Schriftstellerin Eva Menasse sagte einen sehr einfachen und pragmatischen Satz: "Tot ist tot".

    Und so argumentieren hier ja auch die meisten: "Tot ist tot". Der Komponist ist tot, sein Werk unabhängig von ihm noch da. Ein Toter hat kein Mitspracherecht mehr, kann sich auch an nichts mehr stören, Fall erledigt.

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • Ich habe gerade nochmal bei Harnoncourt nachgeguckt. In seinem "Musik als Klangrede", dem Buch, in dem er seine Musikauffassung grundlegend dargelegt hat, gibt es einen Text "Zur Interpretation historischer Musik". Darin ist sehr wenig vom Komponisten die Rede, Harnoncourt verwendet durchgehende den Begriff "Werktreue" (also nicht "Komponistenwillentreue"). An einer Stelle wird aber deutlich, dass das für ihn offenbar identisch ist:


    "Wenn wir heute historische Musik pflegen, so können wir dies nicht mehr so tun wie unsere Vorgänger in großen Zeiten. Wie haben die Unbefangenheit verloren, in der Gegenwart den Maßstab zu sehen, der Wille des Komponisten ist für uns höchste Autorität, wir sehen die Alte Musik an sich in ihrer eigenen Zeit und müssen uns daher bemühen, sie werkgetreu darzustellen, nicht aus musealen Gründen, sondern weil es uns heute der einzige richtige Weg scheint, sie lebendig und würdig wiederzugeben. Werkgetreu aber ist eine Wiedergabe dann, wenn sie sich der Vorstellung des Komponisten zur Zeit der Komposition annähert. Man sieht, dass dies nur bis zu einem gewissen Grad zu verwirklichen ist: die Urplanung eines Werkes lässt sich nur ahnen, besonders, wenn es sich um Musik weit zurückliegender Zeiten handelt. Anhaltspunkte, die einem den Willen des Komponisten zeigen, sind die Vortragsbezeichnungen, die Instrumentation und die vielen Gebräuche der Aufführungspraxis, die sich immer wieder geändert haben und deren Wissen die Komponisten bei ihren Zeitgenossen natürlich voraussetzten. Für uns bedeutet das ein umfangreiches Studium, aus dem man in einen gefährlichen Fehler verfallen kann: die Alte Musik nur vom Wissen her zu betreiben. So entstehen jene bekannten musikwissenschaftlichen Aufführungen, die historische oft einwandfrei sind, denen aber jedes Leben fehlt. Da ist eine historisch ganz falsche, aber musikalisch lebendige Wiedergabe vorzuziehen. Die Erkenntnisse der Msuikwissenschaft sollen aber natürlich nicht Selbstzweck sein, sondern uns nur die Mittel für die beste Wiedergabe an die Hand geben, denn werkgetreu ist sie schließlich auch nur dann, wenn das Werk am schönsten und klarsten zum Ausdruck kommt, und das wird dann sein, wenn sich Wissen und Verantwortungsbewusstsein mit tiefstem musikalischem Empfinden vereinen".

    (Nikolaus Harnoncourt: Musik als Klangrede. Wege zu einem neuen Musikverständnis, Wien 1982, S. 15f.)


    Daran kann man sich doch abarbeiten. Vieles, was da formuliert ist, läuft dem, was man bei Capriccio so schreibt, sehr entgegen. Was machen wir heute damit? War das mal eine wichtige Position, aber vierzig Jahre später ist über Harnoncourt und seine Art, Musik zu machen, die Zeit hinweg gegangen? War das damals schon Mist? Oder ist an diesem Plädoyer, den Komponisten mit seinen Klang- und Aufführungsvorstellungen ernst zu nehmen um eine gute Wiedergabe zu erreichen, nach wie vor etwas dran?

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • Es hat nie musiziert, wer glaubt, alles wäre notiert. Es gibt unendliche Freiheit im Kleinen.


    Soweit das Werk notiert ist, wird es zudem meist nicht exakt gespielt (live). Das kann gewollt oder ungewollt sein. Ungewollt ist es, wenn die eine oder andere Note falsch gespielt oder ausgelassen wird.


    Ein bewusst anderes Spielen als notiert kann sich auf solch Kleines beschränken (andere Akzente, Phrasierung ...), kann aber auch das Notierte gravierend verändern.


    Nur der letzte Fall scheint mir diskussionsbedürftig. Angesichts der unbestrittenen künstlerischen Freiheit jedes aufführenden Künstlers ist das Abweichen als solches unproblematisch. Schwierig wird es, wenn der Künstler ankündigt, Stück A aufzuführen, das Stück aber so wesentlich verändert, dass es sich nicht mehr um Stück A handelt. Aber wann passierte das schon? (Viel zu wenig, finde ich persönlich, ist aber eine andere Frage.) Ankündigen könnte man dann z. B. Bearbeitung von Stück A und die ewigen Beckmesser müssten Ruhe geben.

  • So geschieht es zumeist ja auch: Bachs Weihnachtsoratorium mit E-Gitarren und Saxophonen wird als Bearbeitung vermarktet und in den Proben für Bachs "originales" Weihnachtsoratorium ermahnen die Dirigenten ihre Chöre und Orchester immer wieder, doch die Artikulation, die Notenwerte, die Intonation usw. genau zu beachten. Die Diskussion, die wir hier führen, ist eine sehr theoretische. Aber das muss ja nicht gegen sie sprechen. ;)

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • Was man auf jeden Fall nicht aufführen sollte, ist das, was Rattle und andere da aufführen, nämlich so ein Konstrukt, das nichts mit Bruckners Willen zu tun hat.

    Als ich music lovers These, daß man nichts aufführen solle, was "nichts mit Bruckners Willen zu tun hat", las


    Da ich zur Einleitung dieses Threads zitiert wurde, möchte ich den Zusammenhang dieses einen Satzes von mir klarstellen. Es ging um Skizzen eines unvollendet gebliebenen Werks, welche Jahrzehnte nach dem Tod des Komponisten von Musikwissenschaftlern z.T. im Wege der Neukomposition (fehlende Takte) "vervollständigt" wurden. Ich habe in dieser Diskussion auch noch das Extrembeispiel von Beethovens Sinfonie Nr. 10 erwähnt, in welchem Künstliche Intelligenz (KI) die "Vervollständigung" der wenigen Skizzen Beethovens zu einem kompletten Sinfoniesatz übernommen hat. Ich habe ferner zur Abgrenzung den Fall des unvollendet gebliebenen Mozart-Requiems angeführt, in welchem Mozarts Assistent und Mitarbeiter bei der "Zauberflöte" die Vervollständigung mit dem ausdrücklichen Willen der Witwe Mozarts (und wohl auch mit dem Einverständnis des sterbenden Mozarts, oder erinnere ich da etwas falsch?) übernahm.


    In all diesen Fällen handelt es sich um Werke, denen sich der Komponist noch nicht entäußert hat. Also in gewisser Weise vergleichbar mit einem Stück Leinwand, auf der Picasso erste Skizzen eines Bilds vornahm, dann aber doch beschloss, das Bild nicht zu malen und die Leinwand daher in die Ecke stellte, um sie später für etwas anderes zu verwenden. Oder vergleichbar mit einem Roman, den ein Literat zu schreiben begonnen hat, dann aber damit aufhörte, entweder weil er a) verstarb, oder weil er b) dieses begonnene Werk grauenhaft fand und es deshalb nicht weiterführen wollte.


    Ich bin der Meinung, dass man hier den Willen des Kulturschaffenden respektieren und das Werk nicht "vollenden" sollte, es sei denn eine solche Vollendung durch einen Dritten (Beispiel Mozart und Süßmayr) ist gerade vom Kulturschaffenden oder seinen Erben (im Beispiel Constanze Mozart) so gewollt.


    In diesem Thread diskutiert Ihr etwas völlig anderes. Was darf man mit einem Werk machen, nachdem sich der Kulturschaffende (Komponist, Maler, Literat) dieses Werks entäußert hat und es veröffentlicht worden ist. Das ist etwas völlig anderes. Natürlich kann man dann z.B., wenn man es als Aufführender will, eine vom Komponisten notierte Wiederholung weglassen. Aber wie gesagt: Das ist ein völlig anderes Thema. Zu dem ich mich bei der Ausgangsdiskussion überhaupt nicht geäußert habe.


    Jerome D. Salinger hat angeblich zahlreiche seiner Werke vernichtet, weil er fürchtete, sie könnten in seinem Nachlass gefunden und dann, obwohl er sie nicht freigegeben hat, veröffentlicht werden. Das wollte er unbedingt verhindern. Meine These ist: Ein Kulturschaffender wie z.B. ein Komponist kann nicht quasi "gezwungen" sein, ein Werk zu vernichten, wenn er verhindern will, dass damit nach seinem Tod Schindluder getrieben wird. Man sollte die ethische Grundhaltung haben, den Komponistenwillen in solchen Fällen auch so zu respektieren.

  • Meine These ist: Ein Kulturschaffender wie z.B. ein Komponist kann nicht quasi "gezwungen" sein, ein Werk zu vernichten, wenn er verhindern will, dass damit nach seinem Tod Schindluder getrieben wird. Man sollte die ethische Grundhaltung haben, den Komponistenwillen in solchen Fällen zu respektieren.

    Die Frage is ja nur: woher weißt Du, ob der Komponist dagegen gewesen wäre, dass Fragmente aufgeführt werden?

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • philmus :

    Die Diskussion verläuft nun leider völlig ungeordnet, weil Gurnemanz Äußerungen von MB und mir in einen separaten Thread ausgegliedert hat und nun teils hier und teils dort darüber diskutiert wird. Ich bin gerade am Hin- und Herspringen zwischen beiden Threads. Lies bitte im Bruckner 9-Thread nach, dann beantwortet sich Deine Frage.

  • Das eine, was mir einfällt, ist ein Zitat von Brahms: "Machen Sie es wie Sie wollen, machen Sie es nur schön".

    Wenn ich etwas in die Welt entlasse, sei es ein Kind, ein Werk, eine Arbeit, ein Gedanke oder was auch immer, dann muss mir bewusst sein, dass die Welt daraus machen kann, was sie gerade will. Ich kann versuchen, meine Hand schützend darüber zu legen, durch Testamente, Verfügungen, Äußerungen oder wie auch immer, aber es wird auf Dauer nicht funktionieren. Das muss/sollte mir als Mensch oder als Komponist, als Künstler bewusst sein. Letztlich kann ich nur hoffen, dass mein Kind, mein Werk, meine Arbeit, mein Gedanke sich als so überzeugend und stark erweisen, dass sie eine Zeit lang in meinem Sinne weiterleben können. Alles andere ist schlichte Illusion. Menschen werden sich daran vergreifen im guten wie im schlechten Sinne.


    Ob wir das zulassen dürfen? Natürlich! Alles andere wäre ein ewiger Stillstand. Selbst wenn wir die momentane Absicht des 'Erschaffers' kennen würden, müssten/müssen wir irgendwann darüber hinausgehen. Wir interpretieren doch als Mensch, als Zuhörer, Zuschauer, um es für uns verständlich zu machen oder dadurch zu neuen Einsichten zu gelangen (die manchmal dem Erschaffer vielleicht gar nicht einmal bewusst waren). Und dabei dürfen wir auch Vorgaben beiseite lassen. Mal diese, mal jene oder auch mal alle zusammen. Uns als Rezipienten sollte nur immer bewusst sein, wo eine mögliche Willkür beginnt. Eben: "Machen Sie es wie Sie wollen, machen Sie es nur schön" oder eben 'Machen sie es so, dass der 'Erschaffer' nicht permanent im Grabe rotiert.' Wo auch immer da die Grenze ist. Was übrigens eine spannende Gratwanderung sein kann.


    Vorgaben beiseite lassen: Wer erwartet einen textlich vollständigen Hamlet oder Faust auf der Bühne? Natürlich wird gekürzt, werden Vorgaben verändert, wird hinsichtlich eigener Interpretationen das Material gesichtet. Was im Theater selbstverständlich ist, warum nicht auch im Konzertsaal? 'Die Gedanken sind frei...' - was nicht bedeutet, dass man immer und ständig über die Intentionen des Komponisten (ob er sie selber immer kannte?) hinausgehen muss. Nein, das eine ist so erlaubt wie das andere.


    Und wenn wir denn eine demokratische, reflektierte, mündige Gesellschaft sind, dann ist es doch an uns zu sagen, das und das geht zu weit oder es geht eben auch nicht weit genug. Wir als Menschen, als einzelne Persönlichkeit sind gefragt. Jemand sagt etwas zu mir. Dann fange ich an zu deuten: Warum hat die Person das gesagt? Warum in diesem Ton? Welche Absicht? - Dann sagt mir die Person: 'Ich habe es aber genau so und so gemeint!' - woraufhin es doch meine Aufgabe ist, das zu hinterfragen.


    Und nur weil etwas schriftlich hinterlegt wurde, muss es noch lange nicht die 'letzte Wahrheit' sein. Es kann, aber es muss nicht. An eine 'Wahrheit' können wir uns nur annähern. Aber dafür müssen wir auch mal Dinge ausblenden, weglassen, neu denken. Und wir müssen uns auch mal auf eine Suche begeben, ob das dem Komponisten, dem Menschen und seinen materiellen oder immateriellen Zeugnissen nun passt oder nicht.


    :wink:Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Sehr schöner Text, vielen Dank!

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • [...] weil Gurnemanz Äußerungen von MB und mir in einen separaten Thread ausgegliedert hat [...]

    Lieber music lover, ich habe nichts ausgegliedert, sondern Mauerblümchens Beitrag, der seinerseits einen Satz von Dir aufgreift, hier zitiert und ein paar Bemerkungen und Fragen angeschlossen. Seine Argumente, die ich, wie gesagt, überzeugend finde - ebensio wie die Wolframs (# 12) - , hätten den Rahmen einer Diskussion über Bruckners Neunte gesprengt, was ich mit der Neueröffnung in allgermeiner Fragestellung vermeiden wollte.


    Die Frage, welchen Rang man dem Komponistenwillen in Konzertaufführungen (sofern man den überhaupt bestimmen kann) einräumen möchte, finde ich relevant und interessant.


    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz
    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!