Streichquartett der Woche - ein lockerer Austausch

  • Hört Euch mal Graham Johnsons Wigmore Hall Schubert Vorträge an. Man kann einen Künstler* nicht von seiner Biographie trennen.

    Ja, aber Graham Johnson verweist auf die globalen Zusammenhänge, auf die Kulturlandschaft ...

    Nicht darauf, dass Schubert einmal in der Höldrichmühle saß und sofort mit der Schönen Müllerin anfing ...

    Nicht dass ich dir das, Rosie, unterstellen würde!!

    Aber es sind eben diese Dreimädlhaushafte Zusammenhänge (oder lilac time associations), auf die FM anspielt. Sie waren weit verbreitet, haben das Schubertbild verfälscht und Graham Johnson tut das seine, um den Blickwinkel zu erweitern.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Entstand Beethovens 2. Sinfonie nicht etwa zur selben Zeit wie sein Heiligenstädter Testament?

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • In der Frühzeit Capriccios hatten wir übrigens mal eine, wie ich finde, interessante Diskussion zum Thema "biographischer Hintergrund":


    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz


    Wissen Sie denn nicht, daß die Menschen manchmal nicht auf der Höhe ihrer Werke sind?
    Jean-Paul Sartre


    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.

    Helmut Lachenmann

  • Musik ist keine Naturwissenschaft. Woher willsrt du wissen, was ein fiktiver Interpret, dessen Version dir nun for the sake of argument so wunderbar gefällt, sich dabei gedacht hat, als er es so wunderbar gespielt hat?

    Ich verstehe nicht, was die Naturwissenschaft hier soll, und empfinde auch dieses Argument ehrlich gesagt als eine Punzierung. Hier geht es doch um zwei völlig verschiedene Dinge: 1. das, was der Interpret empfindet, 2. das was der Komponist bei der Komposition empfindet bzw. welche Empfindung er transportieren möchte. Beides lässt sich (meistens) nicht objektivieren sondern ist höchst subjektiv. Während Du weißt, was Du empfindest, kannst Du nicht wissen, was Dvořák bei der Komposition empfand. Das zeigt sich schon dadurch, dass jeder hier andere Assoziationen zu op. 106 hatte.


    Der "kleine Mann" ist auch keineswegs abstrakt sondern bezieht sich genau auf folgendes:

    Ja, aber Graham Johnson verweist auf die globalen Zusammenhänge, auf die Kulturlandschaft ...

    Dvořák kam aus einfachen Verhältnissen im 19. Jahrhundert. Die Menschen damals hatten wenig Einfluss auf ihr Leben und waren mehr oder weniger Mächten ausgeliefert, auf die sie keinen Einfluss hatten. Zudem starben sehr häufig geliebte Menschen, v.a. die eigenen Kinder - auch bei Dvořák. Das prägt zutiefst. Die Volkssagen sind ein Weg dieses Erleben künstlerisch zu sublimieren. Keine Freude ohne Leid. Der Schönheit wohnt auch das grausame Schicksal inne.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Entschuldigung, ich wollte noch etwas nachtragen, habe also die letzten Beiträge noch nicht gelesen.

    Meinst Du nicht, dass diese Fokussierung auf "Stimmungen" die Gefahr in sich birgt, die Musik in Schubladen zu stecken und mit Klischees zu überfrachten?

    Ich stecke die Musik in keine Schublade, sondern ich suche mir als Musiker einen Interpretationsansatz. Und zwar meinen. Ich habe damit weder die Musik noch andere Musiker eingeschränkt und dies habe ich auch mehrmals schon so dargestellt. Sogar auf Khampans Hinweis auf Idiomatik antwortete ich in diesem Sinne. Idiomatik ist natürlich ein feines Wort, auf das man niemals mit "wie banal" anworten würde, aber ich meine jede sogenannte idiomatische Interpretation wird irgendwann zum Klischee. Oder etwa nicht?


    Noch was anderes. Ich glaube ein Problem ist, dass ihr die Worte, die ich benutze anders versteht, bzw damit andere Assoziationen verbindet. Ich erinnere an die tanzenden Skelette. Woher will jemand wissen, wie diese Skellette in meinen Gedanken tanzen und was ich im übertragenen Sinne damit genau meine? Mir wird etwas Banales unterstellt. Wieso eigentlich.....? Wie ich es gemeint habe wird man erst wissen, wenn ich es dann vorspiele. Nur...darf ich auch daran erinnern, dass ein Streichquartett-Musiker von jam session from hell gesprochen hat. Was ist daran so anders, als meine Worte? Ich weiss nicht mehr wo, aber irgendwo hat sogar ein researcher von russichem Danse Macabre gesprochen, den man bei Schostakovitsch so oft finden würde. Also.

  • Ich stecke die Musik in keine Schublade, sondern ich suche mir als Musiker einen Interpretationsansatz

    Der Diskussionspunkt ist, dass Du zwischen den Ebenen hin und herwechselst. Du stellst Deine subjektiven Empfindungen zu op. 106 dar, zitierst aber auch aus einem Brief Dvořáks, um diese Empfindungen zu objektivieren. In Ausnahmefällen kann das durchaus funktionieren, aber hier sehe ich keinerlei Substrat dafür. Und das empfinde ich dann eben als Schubladisierung. Das heißt nicht, dass ich Deine subjektive Empfindung als "falsch" werte. Das wäre unsinnig und steht mir auch nicht zu.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Liebe Freundinnen und Freunde des Streichquartetts,


    mein neuer Vorschlag begibt sich nach Südamerika. Wenn man nicht die einschlägige Tango-Szene zentral wahrnimmt, ist vermutlich Alberto Ginastera (1916 - 1983) der wichtigste Komponist Argentiniens. Es ist auffällig, dass nach einer längeren Phase seines Schaffens, die die Volksmusik des Landes und auch dessen uralte Kultur als primäre Quelle nutzt, im Spätwerk ein avanciert moderner Duktus das Werk bestimmt. Für die erste Tendenz seien die großen Ballette Panambi oder Estancia genannt, für den Radikal-Expressionismus das Violinkonzert oder das zweite Klavierkonzert.


    Darf man Ginastera einen zeitlebens spezifischen Personalstil zuschreiben? Das meine ich schon, aber er drängt sich nicht auf zwischen den beiden genannten Tendenzen. Auch die drei Streichquartette sind ausgeprägte Individuen.


    Ginastera hat seine drei Streichquartette 1948, 1957 und 1973 geschrieben. Das erste möchte ich zur Diskussion stellen. Damit diese möglichst unbeeinflusst bleibt, hier nur die Satzangaben der rund zwanzigminütigen Komposition und mein privater Kontext. Alles andere zur gegebenen Zeit.


    Der private Kontext besteht darin, dass ich das Werk vor einigen Jahren bei einem Freilichtkonzert in der Region kennengelernt und mir dann die unten verlinkte CD beschafft habe. Die ausführenden Damen nennen sich Elisen-Quartett und kommen aus Fürth. Natürlich - das liegt auf der Hand, wenn ich das Quartett hier vorschlage - hat mich die Musik spontan genauso beeindruckt wie die Darbietung. Ob sich das beim heutigen Wiederhören nach ein paar Jahren wiederholt hat?


    1. Allegro violento ed agitato

    2. Vivacissimo

    3. Calmo e poetico - Un poco meno mosso ed agitato - Tranquillo - Piu lento - Molto tranquillo - Adagio

    4. Allegramente rustico


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    Bei der einen Anschaffung, die mit der Partitur im Netz verfolgt werden kann, ist es geblieben. Nur bislang?


    Auf die Schnelle findet man Einspielungen in größerer Zahl, als von mir vermutet - in alphabetischer Reihenfolge: Bergonzi, Enso, Henschel, Latinoamericano, Lyric, Quiroga. So weit die beiden Partnerunternehmen. Habe ich etwas vergessen, was sich auf dem Markt befindet oder befand? ... Youtube bietet auch ein paar Konzertvideos an, die ich noch nicht kenne und die sich vielleicht lohnen.


    Schöne Feiertage,


    Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • Interessante Wahl - vielen Dank, lieber andrejo - etwas neues für mich. Es läuft eben das Debut Album (digital) des Simon Bolivar String Quartetts.


    SBSQ: Shostakovich, Ginastera and Dvorak
    SBSQ: Shostakovich, Ginastera and Dvorak. Deutsche Grammophon: 4790429. Buy download online. Simon Bolivar String Quartet (SBSQ)
    www.prestomusic.com


    SBSQ GINASTERA SHOSTAKOVICH DVOŘÁK String Quartets
    SBSQ GINASTERA SHOSTAKOVICH DVOŘÁK String Quartets
    www.deutschegrammophon.com

  • Schließe mich dem Dank an! Bin bisher nur einigen Orchesterwerken Ginasteras nähergetreten, nun also die 16Saiter.

    Auf die Schnelle findet man Einspielungen in größerer Zahl, als von mir vermutet

    Mindestens sieben bei Qobuz ...

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • ja, wieder eine schöne Wahl. Die Ginastera-Quartette fand ich seinerzeit sehr spannend als die Henschel CD herauskam. Aber allzu oft habe ich sie seitdem nicht gehört. Die CD der Latino-Boys müsste auch in der Sammlung stehen.


     

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Nochmal Dvorak Nr. 13 mit den Artemis.



    Ja, doch, ich finde das Quartett durchaus schön. Über die kurze Schnulzigkeit im 2. Satz kann ich auch hinwegsehen, denn insgesamt ist der Satz auch schön. Einen Drang, mir jetzt weitere Aufnahmen zu kaufen, verspüre ich indes nicht.


    maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga
    Und wer Herr Reichelt ist, weiß ich auch erst seit Montag. --- Prof. Dr. Christian Drosten


  • Erste Begegnung. Klingt auf jeden Fall schon einmal attraktiv. Der langsame Satz erinnert mich an Bartók. Die Aufnahme kommt mir nicht nach der optimalen Lesart vor. Mal sehen, wie die anderen Ensembles klingen.

  • [...] Der langsame Satz erinnert mich an Bartók. [...]

    Das war meine erste Assoziation beim Wiederhören. Auch könnte ich mir so wie Du vorstellen, dass die Musik pointierter, schärfer gestaltet wird. Einen gewissen Referenz-Charakter scheint die Einspielung der Lateinamerikaner dennoch zu besitzen, wenn man davon ausgeht, dass es mehrere Veröffentlichungsvarianten gibt.


    Die raffinierten Spieltechniken oder auch Spielfiguren mögen sich abnützen - ich weiß nicht mehr, wie meine Ersterfahrung mit der CD war; ich weiß nur, dass mich die Ersterfahrung im Konzert verblüfft hat. Vielleicht verblüfft, dass ein eher regional bekanntes Quartett sich so wirkungsvoll und erfolgreich an diese Musik wagt - gewiss aber auch verblüfft über die neuartige Begegnung.


    Freilich habe ich in den letzten fünf bis zehn Jahren nicht wenige zeitgenössische Streichquartettliteratur kennengelernt. Dadurch schwindet solche Elementarerfahrung und Begeisterung vielleicht ein wenig.


    Von den drei Quartetten Ginasteras ist das erste zwar das stilistisch konventionellste und das dritte aufgrund der Sängerin das eigenwilligste, aber es gefällt mir dennoch am besten. Das zweite Quartett erscheint mir spröder - eine Abwertung von dessen Bedeutung verbinde ich damit auch gar nicht. Überdies habe ich die Quartette zwei und drei vermutlich wirklich nur ein einziges Mal gehört bislang und kann mich nicht als kleiner Kenner gerieren. ;)


    :) Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • Frage an alle unter besonderer Berücksichtigung von Wieland:


    Kann man behaupten, dass von den bislang zu Ginastera benannten Ensembles Henschel am renommiertesten ist?

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • Habs mir jetzt erst einmal mit dem Cuarteto Latinoamericano gegeben. Spannende Musik! Zwischen fetzig-rhythmisch und lyrisch schwankend, nie langweilig. Bin auf die nächsten Aufnahmen gespannt!

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Es gibt auch eine Aufnahme mit dem Végh Quartett:

    Davon abgesehen sind die Henschels sicher die bekanntesten.

    So sehr ich die Véghs speziell bei Beethovens op. 18 schätze, aber das kommt mir abgesehen von der topfigen Klangqualität auch sehr betulich vor. Da fehlt das lateinamerikanische Blut… Die Henschels sind deutlich feuriger unterwegs.

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    Was ist heute Kunst ? Eine Wallfahrt auf Erbsen. (Thomas Mann, Doktor Faustus, Kap. XXV)

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