Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras

  • Wolfgang Koeppen war mir bislang nur namentlich bekannt; aufmerksam wurde ich auf ihn durch die oben erwähnte Nachricht von der Lehrerin in Ulm, die sich weigerte, Tauben im Gras in ihrer Klasse zu behandeln, obwohl das Buch in Baden-Württemberg als Abitur-Pflichtlektüre an beruflichen Gymnasien vorgesehen ist (Zusammenfassung gibts bei Wikipedia).


    Das hat mich neugierig gemacht, zumal der Roman als literarisch wertvoll eingeschätzt wird (z. B. von Marcel Reich-Ranicki). In der Tat: Ein faszinierendes Buch, das in seiner Erzählweise an Joyce (Ulysses) und Döblin (Berlin Alexanderplatz) anschließt und eindringlich die westdeutsche Gesellschaft um 1950 schildert, in vielen einzelnen Szenen mit vielen Figuren, die sich alle an einem Februartag 1951 (die genaue Datierung ist nicht ganz klar) in einer deutschen Großstadt in der US-amerikanischen Besatzungszone (München?) begegnen und dabei oft verfehlen.


    Rassismus (Antisemitismus, Verachtung schwarzer Menschen) ist ein zentrales Thema; Koeppen schildert das schonungslos (gelegentlich auf groteske Weise komisch), wobei die Perspektive des Erzählers und seiner Figuren ineinander verschwimmen (innere Monologe, wie gesagt: das klingt an Joyce und Döblin an). Im Grunde sind alle im Roman auftretetenden Figuren mehr oder weniger traumatisiert.


    Ob ich das als Lehrer mit meinen Schülern hätte lesen wollen? Ich bin da skeptisch, denn die Auseinandersetzung mit Tauben im Gras finde ich höchst anspruchsvoll, für Lehrer wie Schüler. Die Ulmer Lehrerin kann ich da schon verstehen.


    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz
    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Ich habe die Angelegenheit nicht tiefer verfolgt, aber wenn ich mich nicht sehr verlesen habe (aber korrigiert mich wenn ich falsch liege) kommt dies hier nicht ganz hin:

    Ob ich das als Lehrer mit meinen Schülern hätte lesen wollen? Ich bin da skeptisch, denn die Auseinandersetzung mit Tauben im Gras finde ich höchst anspruchsvoll, für Lehrer wie Schüler. Die Ulmer Lehrerin kann ich da schon verstehen.

    Denn betreffende Lehrerin hat das Buch nicht wegen zu hoher Komplexität aus dem Unterricht nehmen wollen, sondern einzig deswegen weil Koeppen mehrfach den Begriff "Neger" verwendet hat. Oder habe ich das falsch verstanden?



    Auch ich kenne "Tauben im Gras" nicht, obgleich es seit Jahrzehnten auf einer Art erweiterter "To Do"-Liste steht bei mir. Ich nehme es mal zum Anlaß es mir zuzulegen, auch wenn die Verweise auf Döblin und Joyce aus meiner individuellen Geschmacksrichtung heraus eher abschrecken als reizen. Aber es ist wohl ein Schwergewicht seiner Zeit, und es nie in der Hand gehabt zu haben eine unakzeptable Bildungslücke... Außerdem will ich wissen wieso der Suhrkamp-Verlag den Autoren jahrzehntelang (ideel, finanziell) getragen hat obgleich er nicht mehr schreiben konnte. Da wird schon einiges dran sein. Und mein Wissen um bundesdeutsche Literatur der 50/60er Jahre ist eh zu schmal.


    Also her damit Grins1



    :)

    "Verzicht heißt nicht, die Dinge dieser Welt aufzugeben, sondern zu akzeptieren, daß sie dahingehen."
    (Shunryu Suzuki)

  • Tja,

    Man könnte auch auf die Idee kommen, dass die heutigen Lehrer und Schüler einfach zu dumm sind, für das Abitur einen solchen Text lesen und verstehen zu können.

    Gruß aus Kiel

    "Mann, Mann, Mann, hier ist was los!"

    (Schäffer)

  • Das ist mir zu kulturpessimistisch... Wir alten Säcke neigen ja immer zu solchen Gedanken.


    Hat diese Lehrerin wegen des psychoemotional als unzumutbar gebrandmarkten Begriffes "Neger" diesen Roman canceln wollen? Oder dachte sie, diese meisterhafte Qualität und Mehrstimmigkeit doch nur den (späteren, mutmaßlichen) Literaturstudenten ihrer Klasse zumuten zu sollen?


    Das wär ja die Frage. Im ersteren Fall ist sie borniert, dämlich und hat vor der eigenen Moral kapituliert, da diese wohl etwas katholisch/unumstößliches hat. Das wäre ein bildungspolitischer Alptraum. Im zweiten Falle ermißt sie einfühlsam, erfahren und klug Möglichkeiten und Grenzen ihrer anvertrauten Schüler. Das ist Qualität, das Lob ich mir.


    Ich weiß nicht genau was da los war. Wer mehr weiß mache mich klüger...

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    (Shunryu Suzuki)

  • Vor irgendeinem zu hohen Anspruch ist sie wohl nicht zurückgeschreckt, sondern, wie du schon geschrieben hast, stieß sie sich, weil selber schwarzer Hautfarbe, an der häufigen Verwendung des Wortes 'Neger' und forderte das Kultusministerium auf, das Buch als Schullektüre zurückzuziehen. Zudem hat sie sich für längere Zeit beurlauben lassen, da sie unter solchen Bedingungen nicht mehr in der Schule arbeiten kann.


    :wink:Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Wenn das so war, dann liegt dem eine gewisse Tragik inne, es bleibt aber die Unfähigkeit oder der Unwille historische Texte - mit Werten und allem - heutigen Schülern und Schülerinnen so nahezubringen, daß der historische Zusammenhang mit nahegebracht wird und ein historischer Text in seinen damaligen Qualitäten (und Begrenzungen) eingeordnet und verstanden werden kann.


    Das finde ich bedauerlich.



    :)

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  • Denn betreffende Lehrerin hat das Buch nicht wegen zu hoher Komplexität aus dem Unterricht nehmen wollen, sondern einzig deswegen weil Koeppen mehrfach den Begriff "Neger" verwendet hat. Oder habe ich das falsch verstanden?

    Die Lehrerin, Jasmin Blunt, hat sich hier dazu geäußert:

    "Tauben im Gras": Lehrerin verweigert Lektüre im Unterricht
    Die Lehrerin Jasmin Blunt weigert sich, das Buch "Tauben im Gras" im Unterricht zu behandeln. Denn: Über hundert Mal kommt darin das N-Wort vor.
    www.zdf.de


    :wink:

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  • Na super.

    >>Das ist die Aufgabe des Kultusministeriums: Dafür zu sorgen, dass Unterrichtsmaterialien diskriminierungsfrei sind.<<

    Also darf nicht mehr über Diskriminierung gesprochen werden in Unterrichtsmaterielien, denn die müssen ja diskriminierungsfrei sein.

    Sehr intelligentes Konzept.

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  • >>Die baden-württembergische Kultusministerin Theresa Schopper räumt ein, Koeppens Sprache sei rassistisch.<<

    Oh, wie ist das verblödet.

    :thumbdown:

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  • Am besten, die Dame beurlaubt sich für immer ...

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  • >>Die baden-württembergische Kultusministerin Theresa Schopper räumt ein, Koeppens Sprache sei rassistisch.<<

    Mir scheint, da liegt der Hund begraben: Ja, Koeppens Sprache in Tauben im Gras ist rassistisch! Nur ist das nicht der Rassismus des Autors, sondern der der Welt und der Menschen, die er im Roman darstellt. (Vielleicht ist der Vergleich problematisch, trotzdem: Ein Krimiautor, der in seinem Buch Mörder zu Wort kommen lassen, die ihre Verbrechen rechtfertigen, ist selbst kein Mensch, der zum Mord aufruft.)


    Für mich ist allenfalls schwierig, den Roman als Pflichtlektüre in einem beruflichen Gymnasium vorzuschreiben. Aus meiner eigenen beruflichen Praxis (über 30 Jahre Deutschlehrer in einer Berufsschule, in der ich mit ca. 16-22jährigen Schülern zu tun hatte) ist mir klar, daß Lehrer wie Schüler hier überfordert sein können. Und wenn dann noch eine junge, dunkelhäutige Lehrerin vor der Klasse stehen und vernünftigen Unterricht zum ktischen Umgang mit Rassismus durchführen soll (bei all dem Streß und den psychischen Belastungen, die es in Schulen sonst noch gibt), dann kann ich mir sehr gut vorstellen, daß das nicht geht und die Lehrerin das Handtuch wirft.


    :wink:

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    Helmut Lachenmann

  • Mir scheint, da liegt der Hund begraben: Ja, Koeppens Sprache in Tauben im Gras ist rassistisch! Nur ist das nicht der Rassismus des Autors, sondern der der Welt und der Menschen, die er im Roman darstellt.

    Koeppens Sprache ist nicht die Sprache des Autors?

    OK, die Sprache des Autors im inneren Monolog drückt den Rassismus der Figur aus.

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  • Und wenn dann noch eine junge, dunkelhäutige Lehrerin vor der Klasse stehen und vernünftigen Unterricht zum ktischen Umgang mit Rassismus durchführen soll (bei all dem Streß und den psychischen Belastungen, die es in Schulen sonst noch gibt), dann kann ich mir sehr gut vorstellen, daß das nicht geht und die Lehrerin das Handtuch wirft.

    Das verstehe ich schon, nur ist sie dann offenbar nicht als Lehrerin für Deutsch in Maturaklassen geeignet.

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  • Das verstehe ich schon, nur ist sie dann offenbar nicht als Lehrerin für Deutsch in Maturaklassen geeignet.

    Oder Du bist nicht geeignet darüber zu befinden. Du hast zwar sehr starke Meinungen zu allerlei Themen, aber das darf man nicht mit Kompetenz verwechseln.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Das verstehe ich schon, nur ist sie dann offenbar nicht als Lehrerin für Deutsch in Maturaklassen geeignet.

    Oder Du bist nicht geeignet darüber zu befinden. Du hast zwar sehr starke Meinungen zu allerlei Themen, aber das darf man nicht mit Kompetenz verwechseln.

    Wenn Sie mit solchen Texten nicht zurecht kommt und sich beurlauben lassen muss, dann ist sie nicht geeignet.

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  • Äh, zu erörtern, ob ein Text als Pflichtlektüre zu gelten hat oder nicht, ist sehr wohl Aufgabe einschlägig ausgebildeter Lehrkräfte. Die "Pflichtlektüre" wurde uns nicht von oben in Tontafeln geritzt gesandt.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Mir scheint, da liegt der Hund begraben: Ja, Koeppens Sprache in Tauben im Gras ist rassistisch! Nur ist das nicht der Rassismus des Autors, sondern der der Welt und der Menschen, die er im Roman darstellt.

    Koeppens Sprache ist nicht die Sprache des Autors?

    OK, die Sprache des Autors im inneren Monolog drückt den Rassismus der Figur aus.

    Autor und Erzähler sind in den seltensten Fällen identisch.

    Liebe Grüße
    Jori :verbeugung2:

  • Äh, zu erörtern, ob ein Text als Pflichtlektüre zu gelten hat oder nicht, ist sehr wohl Aufgabe einschlägig ausgebildeter Lehrkräfte. Die "Pflichtlektüre" wurde uns nicht von oben in Tontafeln geritzt gesandt.

    Diskutieren kann sie ja, aber wenn sie sich beurlauben lassen muss bei historischen Texten, dann wird das halt nix mit Deutschlehrer in der Maturaklasse.

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  • Wie meinen? Koeppens Sprache ist nicht die Sprache des Autors?

    Genauer: Der Autor spricht nicht selbst, nicht unmittelbar, sondern läßt seine Figuren sprechen. Auch die Ebenen Sprache des Erzählers und Sprache der Figuren gehen ineinander über. Das findet sich bei Koeppen wie schon bei Joyce und Döblin, auf die sich Koeppen offensichtlich bezieht.


    :wink:

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