Muttersprache und Musikalität - Auswirkungen auf Melodie und Rhythmus

  • In den Nachrichten bzw. Zeitungen ist aktuell von einer Studie die Rede, in welcher der Einfluss der Muttersprache auf Melodie- und Rhythmus-Verständnis belegt wurde. Kurz gesagt: Chinesen sind besser bei der Meldodie und schlechter beim Rhythmus, Grund: die Tonhöhensprache, bei uns Abendländern verhält es sich umgekehrt. Weiteres imm Überblick hier: https://www.tagesschau.de/wiss…et-muttersprache-100.html. Im Einzelnen: https://www.cell.com/current-b…ext/S0960-9822(23)00387-1


    Zitat: "We found a clear link between linguistic experience and music processing abilities: native speakers of tonal languages performed better than native speakers of non-tonal languages on a task that required discriminating changes in melodic patterns and worse on a task requiring the perception of a beat."


    Das Ergebnis leuchtet mir ein, halte ich trotzdem für bemerkenswert. Mich interessieren auf der Basis dieses Ergebnisses Folgerungen für die klassische Musik und dabei konkret folgende Fragen:


    Lassen sich die Ergebnisse der Studie auch bei ausgebildeten Musikern finden?


    Kann man die Ergebnisse ungeachtet der Antwort zu 1 (ggf. dennoch) bei Komponisten oder Interpreten finden? Zugespitzt gefragt: Komponieren Chinesen melodiöser und Westler rhythmischer? Sind diesbezügliche Unterschiede bzw. Vorlieben bei Interpretationsvorlieben einzeler Musiker herkunftsbedingt feststell- oder sogar nachweisbar?

  • Also meine chinesischen Erfahrungen sagen, dass "ja". Sind aber auch nur punktuelle, dafür aber persönlich ...

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Im Finnischen ist stets die erste Silbe betont. Bei Sibelius findet man viele Themen mit einer langen ersten Note.


    Im Kalevala kommt hinzu: Jeder Vers besteht aus vier Trochäen. Bei jedem Wort, das mit einer Hebung des Versmaßes beginnt, muss die erste Silbe lang sein.


    Daraus folgt: Jeder Vers beginnt mit einer langen und betonten Silbe.


    Themen mit langer erster Note findet man bei Sibelius zuhauf.


    Die Story ist so schön, dass sie auch nicht durch das Faktum, dass Jean Sibelius als Kind zu Hause Schwedisch sprach, kaum zerstört werden kann ... ;)

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Zu Sibelius kann ich nichts sagen. Allerdings findet sich bei Leoš Janáček Ähnliches: Nachdem er sich von den folkloristischen Tendenzen mehr oder weniger verabschiedet hatte, wandte er sich einer Versprachlichung seines musikalischen Ausdrucks zu, d.h. seiner tschechischen bzw. mährischen Sprache. Er pflegte in der Stadt Gesprächen seiner Umgebung zuzuhören und mit der Stoppuhr zu stoppen, wie lang bestimmte Vokale gesprochen wurden, auch die Betonungen - im Tschechischen ebenfalls in der Regel auf der ersten Silbe - waren ihm wichtig und flossen in seine Melodik ein, z.B.: Ta - ta - ta - taa (erste Silbe betont und das Ganze schnell gesprochen, melodisch abwärts; Motive dieser Art, die nicht selten längere Melodiebögen unterbrechen, höre ich bei Janáček öfter, auch und gerade in den Instrumentalwerken).


    Mir selbst ist das mal aufgefallen, als in einer Oper - ich glaube, es war Die Ausflüge des Herrn Brouček - der Sänger auf Deutsch sang: "Gott, steh mir bei!", so betont wie oben beschrieben, also mit deutlicher Betonung von "Gott" und "steh mir bei" in kurzen unbetonten Noten abwärts. Das klingt auf Deutsch merkwürdig.


    Soviel nach meiner Erinnerung. Ich hoffe, das, was ich hier beschrieben habe, ist einigermaßen korrekt. Es gibt hier Kenner des Tschechischen und besonders Janáček-Kenner, die mich ggf. korrigieren mögen.


    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz


    Wissen Sie denn nicht, daß die Menschen manchmal nicht auf der Höhe ihrer Werke sind?
    Jean-Paul Sartre


    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.

    Helmut Lachenmann

  • Es gibt viele Kinder, die die Sprache ihrer Mutter/Eltern zwar als erste Sprache gehört und gesprochen haben, aber einer zweiten oder sogar dritten Sprache dann im Erwachsenenalter sehr viel mächtiger sind oder zumindest ebenso mächtig sind. Was man in solchen Fällen nun als Muttersprache bezeichnen würde ist noch die Frage. Ist es die Sprache der Mutter oder ist es die Sprache, die man wie ein Muttersprachler beherrscht und in der man sich zu Hause fühlt? Meist sind das Leute, deren Eltern zu Hause eine andere Sprache sprachen, als ihre Umwelt ausserhalb des Hauses. Es gibt viele solche Fälle und bei ihnen spricht (wegen des immersion principles) nichts gegen die Richtigkeit der Sprache & Musik These dieses Threads.

  • Es gibt viele Kinder, die die Sprache ihrer Mutter/Eltern zwar als erste Sprache gehört und gesprochen haben, aber einer zweiten oder sogar dritten Sprache dann im Erwachsenenalter sehr viel mächtiger sind oder zumindest ebenso mächtig sind.

    Möglicherweise gehört auch Janáček dazu, denn m.W. ist er deutschsprachig aufgewachsen und hat erst später Tschechisch gelernt. Aber auch das dürften Janáček-Kenner genauer wissen.


    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz


    Wissen Sie denn nicht, daß die Menschen manchmal nicht auf der Höhe ihrer Werke sind?
    Jean-Paul Sartre


    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.

    Helmut Lachenmann

  • Möglicherweise gehört auch Janáček dazu, denn m.W. ist er deutschsprachig aufgewachsen und hat erst später Tschechisch gelernt. Aber auch das dürften Janáček-Kenner genauer wissen.

    Verwechselst Du hier nicht Janácek mit Smetana? Ich glaube, Janáceks Elternhaus war tschechischsprachig, er besuchte aber eine deutsche Schule in Brünn.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Verwechselst Du hier nicht Janácek mit Smetana?

    Das ist gut möglich. Danke für Deinen Hinweis, lieber Felix!


    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz


    Wissen Sie denn nicht, daß die Menschen manchmal nicht auf der Höhe ihrer Werke sind?
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  • Lionel

    Hat den Titel des Themas von „Muttersprache und Musikaltität - Auswirkungen auf Melodie und Rhythmus“ zu „Muttersprache und Musikalität - Auswirkungen auf Melodie und Rhythmus“ geändert.
  • Er pflegte in der Stadt Gesprächen seiner Umgebung zuzuhören und mit der Stoppuhr zu stoppen, wie lang bestimmte Vokale gesprochen wurden, auch die Betonungen - im Tschechischen ebenfalls in der Regel auf der ersten Silbe - waren ihm wichtig und flossen in seine Melodik ein, z.B.: Ta - ta - ta - taa

    Im Tschechischen und Slowakischen, aber auch im Ungarischen und Finnischen, ist die Wortbetonung von der Silbenlänge entkoppelt. Das ist anfangs recht schwierig hinzubekommen als Deutschsprachiger. Üben kann man das mit der weiblichen Form von Janáček, Janáčková. Ausgesprochen JA-naaatsch-ko-vaaa.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

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