Am 15. September war ich in einem Konzert mit den Berliner Philharmonikern unter Kirill Petrenko mit folgendem Programm (das auch am 14. und 16. September in Berlin und heute Abend in München wiedergeben wurde):
Iannis Xenakis: Jonchaies (1977)
Karl Amadeus Hartmann: Gesangsszene (1962/63)
Márton Illés: Lég-szín-tér (2023, UA 14.9.)
György Kurtág: Stele op. 33 (1994)
Vier Werke, die man der "Neuen Musik" zurechnen kann, und sonst nichts. (Ich weiß, Hartmanns Gesangsszene könnte man zumindest vom Papier her schon als modernen Klassiker betrachten, aber im Ernst: Zu einem Klassiker ist die Gesangsszene, die vom Klangbild her noch schroffer, noch abweisender und auf ihre Art noch kompromissloser wirkt als die Symphonien und von daher vermutlich noch seltener in Konzertprogrammen auftaucht als diese, bisher noch nicht geworden.)
Das übliche "Verfahren", diese Werke in den Programmen der (sowohl in Hinsicht auf die Besetzung als auch auf die Geltung) großen Orchester zu präsentieren, wäre, eins bis zwei von ihnen an den Anfang des Konzerts zu nehmen und in der zweiten Konzerthälfte dann einen Klassiker à la Brahms, Bruckner, Mahler usw. zu spielen, vielleicht, wenn die Planer etwas wagemutiger sind, einen modernen Klassiker (Stravinsky, Bartók, Berg usw.). Es gibt auch noch die (von mir geschätzte) Roth-Variante, der z.B. Lachenmann mit Rameau und Berlioz kombiniert. Und ich gebe zu: So bemerkenswert ich die hier genannte Programmzusammenstellung gleich fand - die Variante mit dem Klassiker am Ende hätte meine Vorfreude vielleicht noch verstärkt.
Aber als das Konzert begann und die ersten Klänge von Xenakis' Jonchaies zu hören waren, ist etwas in mir vorgegangen, das mir vielleicht erst nach dem Konzert richtig bewusst geworden ist, in meinem Kopf war sowas wie: "So, das ist jetzt das Konzert, so wird das heute Abend klingen. Da kommt kein [Brahms, Mahler, Bartók] später, den du kennst,und der dir Entschädigung und Erholung bringt nach der 'Anstrengung', die du jetzt hast, also konzentriere dich und hör dich da rein!"
(Ich hab diesen Gedankengang zur Verdeutlichung jetzt etwas zugespitzter formuliert, als er sich tatsächlich dargestellt hat. Ich würde mich schon als aufgeschlossen Neuer Musik gegenüber bezeichnen, ich meide sie nicht und setze mich ihr gerne aus, aber dass ich gezielt in Konzerte mit vor allem Neuer Musik gehen würde, ist selten der Fall. Wahrscheinlich bin ich eigentlich genau der Kandidat für den, auch größeren, Happen Neue Musik am Anfang, für dessen Aufnahme man dann später mit Gewohnterem und den üblichen Hörerfahrungen Entsprechendem belohnt wird.)
Unterdessen wurde ich sehr schnell in das, was ich hörte (also nach Xenakis dann Illés, Hartmann und Kurtág), involvierter und zwar in einer Weise, wie das bei mir unbekannter Neuer Musik (abseits von Ligeti, Zimmermann und Rihm z.B.) sonst kaum mal der Fall ist, und mir wurde (so richtig nach dem Konzert dann) klar, woran das vor allem lag, nämlich an dieser kompromisslosen Programmzusammenstellung.
Wenn ich ein Stück Neuer Musik am Beginn eines "konventionellen" Programms, also vor einer Bruckner-Symphonie z.B., schon gewissermaßen als Pflichtübung präsentiert bekomme, dann höre ich es tendenziell auch so - als Pflichtübung. Sicher offen für das und interessiert an dem, was da zu hören ist, aber auch eben mit dem Gedanken: "Ich hör's mir mal an, wenn es nichts ist, hab ich ja gleich meinen Bruckner." Das wirkt sich aber auf die Intensität des Hörens aus, es ist erstmal distanziert, abwartend.
Bei diesem Programm war das anders: Hier wurden alle vier Werke als Hauptwerke präsentiert, nicht als kurze verlegene Programmergänzung. Für die Auseinandersetzung mit diesen vier mir bisher unbekannten (Xenakis, Illés) bzw. kaum bekannten (Hartmann, Kurtág) Stücken war ich letztendlich gekommen. Und dieses Bewusstsein bewirkte eben ein ganz anderes, wesentlich intensiveres Hören.
Für dieses Programm kann man Petrenko m.E. nicht genug loben. Ich bin sicher (ohne es beweisen zu können), dass es auf gewisse Vorbehalte bei Teilen des Orchester und bei der Intendanz stieß, die überwunden werden mussten.
Dass das Konzert so einen enormen Eindruck auf mich gemacht hat, lag natürlich vor allem auch an der Qualität der Stücke selbst sowie ihrer Anordnung. Der Illés (der – im Unterschied zu einigen Uraufführungen, die ich die letzten Jahre gehört habe – nichts Anbiederndes oder Einlullendes aber auch keinerlei Effekte um des Effekts Willen aufwies) schien mit seinen Motivfragmentierungen und seinen sich überlagernden, aneinander reibenden Klangflächen gewissermaßen mit der explosiven Klanggewalt des Xenakis zu korrespondieren.
Kutrágs Stele dann gab der Trauer, die in Hartmanns apokalyptischer (von Gerhaher und den Philharmonikern wirklich exemplarisch interpretierter) Gesangsszene keinen Platz hatte, einen abschließenden Ausdruck. Gerade dieses Stück von Kurtág, das sonst eher am Anfang von Konzerten erklingt, wirkte nun als Schlussstück unglaublich stark, da diese letzten fragilen Nachbeben, mit denen es endet (ein fantastischer Schluss), nicht nur vom Werk selbst, sondern vom gesamten Programm des Konzerts mit seinen extremen klanglichen Erschütterungen hervorrufen schienen.
Nun kurz zum Publikum: Keines der drei Konzerte in Berlin war ausverkauft (für Philharmoniker-Konzerte, erst recht mit dem Chef, natürlich ungewöhnlich), sie waren aber trotzdem sehr gut verkauft (das erste am besten, das dritte am schwächsten), ich habe mir das jeweils 2 Stunden vor Beginn auf der Ticketseite angeschaut und demnach waren (inkl. Abo) sicher mehr als vier Fünftel der Plätze (die drei Konzerte zusammengenommen) vergeben, die drei Termine haben sich also "gerechnet". Wie viele der Abonnenten nicht gekommen waren, weiß ich natürlich nicht, das schien mir vom Augenschein aber nicht dramatisch. Auch in der Pause gab es keinen deutlichen Schwund. Ob die anderen Besucher*innen das Konzert auch so intensiv wie ich erlebt haben, kann ich nicht sagen, aber alle um mich herum schienen absolut konzentriert, keine Verlegenheitsbewegungen, kein Rumgerutsche auf dem Sitz, sehr wenig Räuspern und Gehüstel (und ich bin da, wie sicher viele hier, eher empfindlich).
Das Konzert vom Freitag wurde von DeutschlandfunkKultur übertragen, aber leider steht kein Stream zur Verfügung. Beim Konzert von heute im Rahmen von musica viva sollte man vermuten, dass es vom BR noch gesendet wird, aber bisher habe ich nichts gefunden.
(Hier noch Frederik Hanssens Kritik im Tagesspiegel, der ähnlich begeistert wie ich von Konzert und Programmzusammenstellung war.)
[Über die Platzierung dieses Beitrags im Board "Aufführungspraxis" bin ich mir etwas unsicher, wobei mir die Programmierung von Konzerten durchaus auch die Aufführungspraxis zu berühren scheint. Aber evtl. wäre der Beitrag in "Musik: Erfahren" auch gut aufgehoben.]