Die schöne Hortense
Jacques Roubaud ist 77 Jahre alt, Mathematiker, Lyriker, Freund der Alten Musik und Mitglied des Oulipo (Ouvroir de Littérature potentielle), dem auch Raymond Queneau, Georges Pérec, Marcel Duchamp, Oskar Pastior und Italo Calvino angehören (einige der Genannten momentan wegen Todes entschuldigt). Er hat theoretische Schriften zur Lyrik, aber auch zum Roman oulipien verfasst und auch einige Romane geschrieben. Bekannt ist etwa La grande Incendie de Londres. Fast sechzigjährig hat er einen Zyklus begonnen, der wohl auf sechs Bände angelegt war, von denen bisher aber nur drei erschienen sind: Die schöne Hortense, Hortenses Entführung und Hortense im Exil (alle Übersetzungen in diesem Text von mir).
Die schöne Hortense ist Studentin der Philosophie, sie arbeitet an ihrer Dissertation, eine Tochter aus reichem Haus (der Vater ist ein großes Tier in der Fleischindustrie), die ihre Eltern haßt, gleichwohl aber bedenkenlos von deren Geld lebt. Das mag damit zu tun haben, daß ihr Doktorvater, Professor Oursells (es ist nie verkehrt, in einem Roubaud'schen Namen nach einem Anagramm zu suchen!) eine Philosophie vertritt, die man auf den Punkt eines platten Utilitarismus bringen kann, die Onthetique (Wer in Onthetique die Wörter Honte - Schande und Ethik findet, bekommt einen Keks). Neben Hortense tritt ein bunter Strauß an Personen in dem Roman auf, darunter der Autor, Jacques Roubaud selbst, ein Ich-Erzähler mit Namen Romancier ach nein, Mornacier, der Leser, weiterhin ein Kriminieller, ein Inspektor der nur Lakritze aus einer bestimmten Londoner Quelle kaut, ein anderer Inspektor, dessen Hobby es ist, Eier zu schälen - rohe natürlich, ein Kater mit Namen Alexander Vladimirovich, von so edler wie zweifelhafter Herkunft
"http://www.physiologus.de/bankert.htm"
Auch ein trunksüchtiger Organist spielt eine nicht unwichtige Rolle, der Vater Sinouls und sein alter Hund Balbastre, dem wir gerne folgen (dem Organisten natürlich, nicht dem Hund), wenn er einer alten Freundin die Vorzüge Telemann'scher Kompositionskunst vor Augen führt, in einem Kapitel, dessen Komposition eben diese exemplifiziert.
Das aber ist das Wunderbare an diesem Roman. Der Ahnungslose legt ihn vergnügt weg, wenn er ihn ausgelesen hat, er mag ihn gerne auch etwas albern finden wie der Rezensent bei Amazon, ein Stückchen Prosa, einige Verrücktheiten, Absurdes, das Ganze kurz, leicht und dünn wie das Kleidchen, das die Heldin sich an dem Morgen übergestreift hatte, an dem wir sie kennenlernen. Aber dieses Baiser hat es in sich. Der Roman ist außerordentlich komplex konstruiert, er ist ein einziges, riesiges Rätsel, das den Leser ständig in die Irre führt und ihm, will er das Werk durchschauen, im wahrsten Sinne des Wortes eine Menge Dechiffrierarbeit aufbürdet, denn Zahlen spielen eine wichtige Rolle in dem Roman. Es gibt Bezüge, vor allem zu Pierrot mon Ami von Queneau und zu der Grande Incendie de Londres von Roubaud selbst, auch einen überdeutlichen Bezug zu Perecs hinterlassenem Roman "53 Tage", den Roubaud mit zu Ende gebracht hat. Nichts darf ungeprüft so genommen werden, wie es harmlos geschrieben steht. Wer sich auf den Roman ernsthaft einläßt, den beschäftigt er auf lange Zeit, und er wird kaum je die letzten, die am feinsten gesponnenen Fäden entwirrt haben.
Wer des Französischen mächtig ist, dem empfehle ich zwei kurze Texte zur Dechiffrierung einzelner Aspekte:
"http://edel.univ-poitiers.fr/licorne/document.php?id=3338"
"http://edel.univ-poitiers.fr/licorne/document.php?id=3337"
Der Roman wurde von Eugen Helmlé ins Deutsche übersetzt. Da ich das Original gelesen habe, kann ich zur Qualität der Übersetzung nichts sagen, Helmlé war aber Spezialist für die Oulipiens und hat das sicher gut gemacht. Manches ist aber definitiv nicht übersetzbar, denn Roubaud pflegt einen äußerst subtilen Umgang mit der Sprache und scheut auch vor Neologismen nicht zurück.
Wer im Urlaub gerne ein Literatur-Sudoku der Sumo-Klasse lösen mag, sollte die schöne Hortense im Auge behalten. Es lohnt sich, ihr Kleid ist sehr transparent, wenn wir sie kennenlernen, und dummerweise hat sie heute morgen in der Eile vergessen, an ihre Dessous zu denken...
Liebe Grüsse
Peter Wollenberg