"Das Werk, das er aufführt, auf alle Fälle komplexer Natur, erfordert von ihm, daß er scharf aufpaßt. Geistesgegenwart und Raschheit gehören zu seinen kardinalen Eigenschaften. Über Gesetzesbrecher muß er mit Blitzeseile herfallen. Die Gesetze werden ihm an die Hand gegegben als Partitur. Andere haben sie auch und können seine Durchführung kontrollieren, aber er ganz allein bestimmt, und er allein richtet auf der Stelle über Fehler. Daß dies öffentlich geschieht, in jeder Einzelheit allgemein sichtbar, gibt dem Dirigenten ein Selbstgefühl eigener Art. Er gewöhnt sich daran, immer gesehen zu werden, und er kann es immer schwerer entbehren."
(Elias Canetti, "Der Dirigent" in "Masse und Macht").
Doc Stänker hat oben bereits darauf hingewiesen, dass Canetti mit dieser allgemeinen Beschreibung der Rolle des Dirigenten ganz konkret Scherchen meint. In seiner Autobiografie schildert Canetti seinen tiefen Hass gegen Scherchen. Canetti ist es allerdings gelungen, in dem kurzen Kapitel "Der Dirigent" über den Anlass für seinen persönlichen Hass hinaus, das Bild eines autoritären Charakters im Zeitalter des Kulturbetriebs zu zeichnen. Ich finde es in der Verallgemeinerung treffend, weiß allerdings nicht, ob er der realen Person Scherchen damit nicht Unrecht tut.
Scherchen war ein Mythos. Es wurde eine zeitlang verbreitet, dass man Beethoven nicht anders spielen und auch hören dürfe als in den Interpretationen von Scherchen. Allerdings legte man sich nicht so ganz präzise fest, welche Interpretationen denn nun gemeint waren. Und beim näheren Hinsehen und Hinhören stellte sich heraus, dass Scherchen nicht nur sehr viel sondern auch öfters die gleichen Werke auf Tonträger dokumentiert hat - und es gibt selbst bei Beethoven die riesigen Unterschiede, die andere hier schon benannt haben. Vieles an Scherchens Beethoven überzeugt - auch bei ganz unterschiedlicher Herangehensweise. Aber es stimmt einfach nicht, dass er Beethoven stets exakt nach den Metronomangaben gespielt habe - es sei denn, er habe die Metronomangaben jedesmal anders interpretiert.
In Liveaufnahmen von unauffälligem traditionellem Repertoire kann man auch einen ungemein schlampigen Dirigenten hören: z.B. Mozart Serenaden und die A-Dur Sinfonie KV 201 aus Prag - diesmal mit einem hervorragenden Orchester, das er bei bei seinen Studioproduktionenin der Regel nicht zur Verfügung hatte. Die in vier Sätzen brutal gekürzte, im Adagietto aber extrem überdehnte Aufnahme von Mahlers Fünfter ist bereits genannt worden. Aber auch seine Studioaufnahmen der Concerti grossi von Händel sind schlicht unsäglich langweilig, ganz zu schweigen von Geminiani. Einige Tschaikowski-Aufnahmen unter Scherchen haben sicherlich Anrecht auf einen Platz ganz vorne in der Liste der schlechtesten Einspielungen der Schallplattengeschichte.
Man könnte den Mythos Scherchen als grotesken Irrtum abtun, wären da nicht die Aufnahmen seiner Uraufführungen, seine Live-Aufnahmen von Werken der Wiener Schule, einiges von Mahler, Berlioz und sicherlich auch Beethoven. Auch einige Verrücktheiten, wie den - gekürzten - Ilya Murometz von Glière oder eine Sinfonie von Kalinikov.
Und er hat zumindest zwei überragende Schüler hervorgebracht: Karel Ancerl und Ernest Bour. Vergleicht man allerdings die beiden mit Scherchen, kommt man auf den Gedanken, dass Canetti ihn doch zutreffend charakterisiert haben könnte, aber die Verallgemeinerung falsch ist.