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Und wenn ich eine Wiederholung nicht aus didaktischen Gründen brauche („Noch mal, bitte, ich hab´s nicht mitbekommen!“), dann dient sie vielleicht im weitesten Sinn einem anderen Zweck. Bei dieser Gelegenheit fällt mir der olle Heraklit mit seinem Spruch „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen“ ein. Die Frage wäre also: Ist die Exposition schon allein dadurch, dass ich sie ein zweites Mal höre, nicht mehr dieselbe?
Danke Tharon, das ist ein ganz wesentlicher Punkt.
Bei Heraklit heißt es ja weiter sinngemäß: beim zweiten Mal sind wir jemand anders, und das Wasser ist ein anderes.
Auf die Wiederholung übertragen: der Hörer hört anders, und der Spieler spielt anders (sollte er jedenfalls...).
Auch wenn der Notentext unverändert nochmal gespielt wird, reagiert ein (guter) Musiker ganz automatisch immer auf das was er vorher gespielt hat (ebenso was er nachher zu spielen beabsichtigt): eine Betonung, die beim erstenmal ein wenig zu sanft ausgefallen ist, wird er beim zweiten Mal extra deutlich spielen (und umgekehrt), eine leichte Verzögerung beim zweiten Mal entweder deutlich stärker oder schwächer machen, eine kleine Flüchtigkeit durch gesteigerte Aufmerksamkeit kompensieren etc. etc., jedenfalls wird es niemals das gleiche nochmal sein.
Daher auch mein Entsetzen angesichts kopierter Wiederholungen.
Bei meinen Untersuchungen mittels simplem Wellenformvergleich werden viele der Unterschiede sofort visualisierbar: unterschiedliches Tempo (überwiegend 2. Mal schneller, aber durchaus nicht immer; manchmal komplett unterschiedliche Tempodramaturgie, z.B. 1. Mal langsamer werdend, 2. mal beschleunigend), unterschiedliche Dynamik, völlig unterschiedliche Dauer von Fermaten oder kleineren Verzögerungen.
Ich bin mir völlig im Klaren, daß die typischen Umstände einer modernen Musikproduktion hier ein großes Risiko bergen: Wo es den Musikern und dem Produzenten primär darauf ankommt, ein in jedem Takt perfekt zusammengeschnittenes Ergebnis zu erzielen, werden die beiden Versionen allzu leicht gegeneinander austauschbar, wenn nicht ohnehin sich so ähnlich, daß man gleich zum Kopieren übergehen kann. Für mich ist damit die Logik auf den Kopf gestellt.
Auch wenn ich nach dem bisherigen Stand meiner Statistik versichern kann daß dieses perfektionistische Extrem (glücklicherweise) nicht der Normalfall ist, kann ich alle gut verstehen, die sich ein gesundes Mißtrauen gegenüber dem Kunstprodukt CD erhalten haben und soweit wie möglich nur Livemitschnitte hören.
Bisher war das sozusagen die hörpsychologische Begründung, warum eine vorgeschriebene Wiederholung ausgeführt werden muß.
Ich muß immer wieder auf die weiteren Gründe hinweisen:
- Formaler Aufbau im historischen Kontext:
es ist zwar richtig, daß die Wiederholung allmählich im Lauf von 100 Jahren außer Mode gekommen ist, aber die Schlußfolgerung, daß die Endform ohne Wiederholung nun die "richtige" Form ist und man rückwirkend auch Beethoven so interpretieren dürfe, finde ich ausgesprochen fragwürdig. Ich möchte eben hören, wie sich Beethoven auf ältere Vorbilder bezieht, wenn er z.B. die zweite Wiederholung beibehält. Und ich möchte hören, wie sich Brahms auf Beethoven bezieht, wenn er die Exposition wiederholt. Zumal er oft dann, wenn er dies nicht tut, wenigstens eine kleine "Entschuldigung" einfügt (schönstes Beispiel die Scheinwiederholung in der 4. Sinfonie) - wie soll man diese Entschuldigungen verstehen, wenn man sonst nur die verstümmelten Versionen ohne Wiederholung kennt?!
- Motivische Zusammenhänge an den Übergängen der Formteile:
die von Beethoven entwickelte Technik der variierten Überleitung arbeitet in den meisten Fällen nach dem immer gleichen Schema:
a) Exposition -> Wiederholung = Grundform des Überleitungsmotivs
b) Exposition -> Durchführung = 1. Variation des Überleitungsmotivs
c) Reprise -> Coda = 2. Variation des Überleitungsmotivs
die 2. Variation kann meist nicht logisch aus der 1. Variation hergeleitet werden, d.h. ohne die gespielte Wiederholung wird die Überleitung zur Coda unverständlich. Einfachstes Beispiel op. 130 habe ich bei Tamino mal eingestellt, ich könnte noch -zig weitere anführen.
Es ist klar, daß ein Wiederholungshasser sich nicht um diese Zusammenhänge schert (scheren darf). Mir wird in diesem Zusammenhang unterschwellig gerne ein allzu großer Formalismus vorgeworfen (ich nehms dir nicht übel, Bernd, kenn das ja schon). Erhellend fand ich die Reaktion von unser aller geliebtem Tamino Loge: "vielleicht ein bisschen zu konstruiert" ...über ein "analytisch" hätte ich mich noch gefreut.
Im übrigen, auch wenn ich vom Typ eher ein analytischer Hörer bin, heißt das nicht automatisch daß ich weniger emotional höre als andere. Ich finde es nur wesentlich einfacher, über logische Sachverhalte zu schreiben und zu diskutieren als über rein emotionale Aspekte.
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Wo bleiben die Gründe für das Streichen von Wiederholungen?
Rein emotionale Aussagen wie "finde ich langeweilig" sind mir dann doch etwas zu dürftig. Auch genügt mir nicht der Hinweis auf viele noch so gute alte Aufnahmen mit fehlenden Wiederholungen. Für mich wären sie mit Wiederholung überzeugender (und manches zu langsame Tempo wäre vielleicht so nicht gewählt worden...).
Das einzige stichhaltige Argument kam bisher von Christian Köhn: sinngemäß gesagt, muß man dem Interpreten soviel Freiheit zugestehen, daß er nur das spielt wozu er dramaturgisch zu überzeugen sich in der Lage sieht. Dies gilt vor allem im Bezug auf die Konzertsituation (Länge, Zuhörerschaft, Programmzusammenhang), unter Umständen auch für Aufnahmen.
Gegen Christians Hinweis auf die manchmal problematische zweite Wiederholung im Sonatensatz habe ich zudem keine so starken Einwände, da der oben erwähnte motivische Zusammenhang der Überleitungen hier i.d.R. nicht gilt. Trotzdem - als Gradmesser für die dramaturgische Stringenz einer Interpretation freue ich mich immer über die zweite Wiederholung (niemand braucht sich zu schämen, wenn er Grigory Sokolov nicht ganz das Wasser reichen kann).
Khampan