Zitat
Die Zeit vor dem ersten Weltkrieg war musikalisch keineswegs von "Dekadenz" bestimmt, sondern im Gegenteil eine Zeit des spannenden Aufbruchs: Die "russischen" Ballette von Strawinsky, Bartoks "Herzog Blaubart", die drei Orchesterstücke op. 6 von Alban Berg, das zweite Streichquartett, die Gurre-Lieder und der "Pierrot Lunaire" von Arnold Schönberg, die Préludes von Claude Debussy, Ravels "Daphnis et Chloé" usw..: alles Meisterwerke aus den Jahren vor dem ersten Weltkrieg und von teilweise weit in die Zukunft reichender Bedeutung.
Hallo Christian!
Na ja, was für den einen ein "spannender Aufbruch" ist für den anderen die "Dekadenz", würde ich mal ganz keck sagen
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Ich will hier keineswegs eine große Dekadenz-Debatte anzetteln, die am Ende eh im berüchtigten Echolot-Strang landen würde (man wird mir vorwerfen, genau auf diese Debatte abgezielt zu haben
Trotzdem versuche ich mal stichwortartig (ich habe erst am Wochenende mehr Zeit) eine Antwort zu geben:
Zunächst bedeutet "Dekadenz" ja nicht gleich "Schrott". Ich habe ja gesagt, dass ich auch den Richard Strauss vor dem Ersten Weltkrieg schätze, obwohl ich meine, dass seine Werke die Dekadenz des Zeitalters wiederspiegeln (allerdings muss man auch sagen, dass Strauss grundsätzlich auch eine gewisse Robustheit und bürgerliche Erdung besaß. Strauss ist ein sehr widersprüchlicher Charakter). "Salome" wird wohl gemeinhin als die Dekadenz-Oper angesehen und dem würde ich nicht widersprechen. Ich erinnere mich noch sehr gut, welch ambivalenter Schwindel mich erfasste, als ich dieses Werk zum ersten Mal hörte. Und die überlieferten Publikumsreaktionen der Premiere waren ja auch ganz eindeutig. Hier kann ich übrigens das Werk einer radikalen Feministin namens Tony Bentley empfehlen, welche die Beziehungen von einigen Frauen dieses Zeitalters zur "Salome" von Strauss beleuchtet. Wenn man sich nicht von der feministischen Rhetorik abschrecken lässt (ich bin natürlich kein großer Anhänger der feministischen Ideologie), dann ist dieses Werk dazu geeignet, einen die dekadenten Atmosphäre vor dem Ersten Weltkrieg mit ungläubigen Staunen aufnehmen zu lassen. Man fühlt sich bei der Lektüre so wie als kleiner Junge, wenn in den "Expeditionen ins Tierreich" die weibliche Gottesanbeterin ihr Männchen nach dem Paarungsakt verspeist
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http://www.amazon.com/Sisters-…ks&qid=1249597298&sr=1-12
Weil es ja auch dekadente Meisterwerke geben kann, die "Salome" wäre ein gutes Beispiel, verschlägt Deine Behauptung, die von Dir genannten Werke seien "Meisterwerke", nicht, wenn es darum geht, das Zeitalter vom Vorwurf der Dekadenz freizusprechen.
Ich werde versuchen, über die außermusikalischen Bezüge der von Dir genannten Werke diese in die Nähe der Dekadenz zu rücken. Sicherlich gibt es auch innermusikalische Bezüge, doch darüber lässt sich wohl nur schwer diskutieren. Und mit diesen außermusikalischen Bezügen meine ich vornehmlich literarische Bezüge.
Es ist Dir vielleicht bekannt, dass viele Dichter, die heute als Wegbereiter der Moderne gelten (das meinst Du wohl auch mit "spannendem Aufbruch") sich selbst der Dekadenz zuordnen. Baudelaire, der ja bekanntlich von Debussy vertont worden ist, stilisiert sich ja selbst als Poet der Dekadenz. Und wenn man Baudelaire der Dekadenz zuordnet, dann auch einige andere Dichter, die von Ravel und Debussy vertont worden sind (Verlaine z.B). Richard Strauss hat mit Dehmel vor dem ersten Weltkrieg auch einen Dichter recht oft vertont, den ich der Dekadenz zuordnen würde. Schwüle Erotik, dandyhafter Weltschmerz, nihilistische Tendenzen, würde ich mal so als Charakteristiken dieser Dichter in den virtuellen Raum werfen.
http://de.wikipedia.org/wiki/Dekadenzdichtung
Gibt es vom literarischen Standpunkt ein dekadenteres Werk als Ravels "Scheherazade"? Den Text verfasste ein pädophiler Dandy, der sich den Künstlernamen Tristan Klingsor gegeben hat. Die ambivalente Erotik der Texte scheint mehr als nur ein bisschen auch in Ravels Musik durch. Und die Tonsprache dieses Werkes scheint mir nicht weit von "Daphnis und Chloe" entfernt zu sein, dieselbe schwüle atmosphärische Musik hier wie dort. "Daphnis und Chloe" wurde für die Ballettgesellschaft von Diaghileff komponiert (Strauss komponierte für Diaghileff übrigens das überaus schwüle Ballett Josephslegende). Bei Diaghileff ließen sich unzählige Querverweise zur Dekadenz herstellen (Ida Rubinstein, Nijinsky etc.). Und wenn man von Diaghileff redet, dann ist man auch ganz schnell bei Stravinsky und den von Dir angesprochenen "russischen" Balletten...
Und wenn man von schwüler Musik eines Ravel ist, dann sind die musikalisch total überladenen "Gurrelieder" nicht weit. Und wer hat den Text zu diesen verfasst? Der Däne Jacobson, den man gemeinhin auch zur Dekadenz rechnet. Schönberg ließ sich übrigens auch von Dehmel zur "Verklärten Nacht" inspierieren, einer überaus schwülen Musik, wie ich finde. Und bei dem von Dir genannten "Pierrot Lunaire" (ewig nicht mehr gehört, ich besitze auch keine Einspielung) kommt Lyrik von Stefan George vor, den ich auch dem Umkreis der Dekadenz zuordnen würde (gewisse Parallelen zwischen George und d'Annunzio sind unübersehbar).
Bartoks "Blaubart" hat ein Libretto, das von Béla Balázs (ein Mann mit einer schillernden Biographie, die man durchaus einmal unvoreingenommen studieren sollte) verfasst worden ist. Gemeinhin wird dieser Text dem Symbolismus zugeordnet, wobei man große Schwierigkeiten hat, den Symbolismus von der Dekadenzdichtung abzugrenzen. Ich weiss ja nicht, wie es Dir geht, aber mich beschleicht immer ein gewisses Unbehagen, wenn ich den "Blaubart" höre (sehr selten!), eine unheimliche, den Schrecken der Zukunft fast schon vorwegnehmende Musik. Ich habe den Eindruck, das Libritto will Mitleid mit dem folternden Monster erheischen. Wenn man bedenkt, dass dessen Autor wenige Jahre später ein Helfer von Bela Kuhn bei dessen bolschewistischer Schreckensherrschaft in Ungarn war, dann kommt man ganz schön ins Grübeln. Einen ähnlichen sado-maso-Subtext wie im "Blaubart" scheint mir auch in Debussys "Martyre de Saint Sebastian" gegeben zu sein. Nur wirklich naive Menschen können dieses für Ida Rubinstein verfasste Werk für ein christlich-religiöses Werk halten (dabei fällt mir ein, dass das Ideal Androgynität auch ein Merkmal der Dekadenz ist). Es scheint mir auch kein Missverständnis zu sein, dass d'Annunzio just für dieses Werk exkommuniziert worden ist und seine Werke auf den katholischen Index gesetzt worden sind. Debussy, der ja auch fleissig Dekadenzdichter vertont hat, scheint sich also auch im geistigen Umfeld der Dekadenz bewegt zu haben. Die von Dir genannten "Preludes" würde ich aber auch nicht unbedingt zu den "dekadenten" Teilen seines Werkes zählen.
Das war jetzt alles sehr aus der Hüfte geschossen, da ich sehr wenig Zeit habe. Aber ich sehe wirklich keinen Grund, die von Dir monierte Bemerkung zurückzunehmen.

An die Moderation: Vielleicht wäre es wirklich besser, die letzten beiden Beiträge in einen passenden Strang zu verschieben (nicht in den Echolot-Strang!) oder einen neuen zu eröffnen.