Beiträge von thomathi

    Aufführungsmatinée zum 475. Gründungstag der Staatskapelle Dresden am 24. September 2023

    Yi-Chen Lin dirigierte Mendelssohn, Schostakowitsch sowie Dvořák und Sebastian Fritsch bot ein grandioses Cello-Solo


    Zum Auftakt der Matinee dirigierte die aus Taipei stammende und in Wien ausgebildete Yi-Chen Lin die Konzertouvertüre „Die Hebriden op. 26“ von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847). Mit dem aus unmittelbaren Erleben einer Schottlandreise des jungen Genies geschöpfte Werk vermittelte Frau Lin mit einem beeindruckend markanten Dirigat den Hörern mit stimmungsvollen Bildern Eindrücke der schottische Landschaft, vom Meer und von den sagenumwobenen Höhlen des altgälischen Helden Fingals. Die Musiker folgten hautnah ihren Direktiven und hatten sichtlich Freude am Zusammenwirken.

    Das „Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 1 Es-Dur op. 107“ von Dmitri Schostakowitsch dürfte inzwischen neben den beiden Haydn-Cellokonzerten aus den Jahren 1765 bzw. 1783, den Cello-Konzerten Antonin Dvořáks von 1895 und Edward Elgars von 1919 eines der am häufigsten aufgeführten Werke dieser Gattung sein.

    Die von Schostakowitsch dem Cellisten Mstislaw Rostropowitsch gewidmete Komposition wurde im Oktober 1959 in Leningrad vom Widmungsträger zum ersten Mal öffentlich gespielt. Bereits im Folgejahr kam das Konzert bei der Staatskapelle Dresden ebenfalls mit dem Solisten Mstislaw Rostropowitsch zur Aufführung. Seit dieser Zeit gehört das Opus 107 Schostakowitschs zum Erinnerungskern des Dresdner Musiklebens.

    Das Verhältnis Dmitri Schostakowitschs zur sowjetischen Kulturpolitik ist uns weitgehend geläufig. Wie aber die Macher der sowjetischen Kulturpolitik zum Komponisten und Menschen Dmitri Schostakowitsch standen, ist zumindest mir noch immer nicht bekannt. Da fehlt auch die Akteneinsicht.

    Ob Schostakowitsch mit dem Cellokonzert auf aktuelle Umstände der Zeit reagieren wollte, kann nur vermutet werden. Die Suliko-Floskel des georgischen Volksliedes „Suchte ich das Grab meiner Liebsten“ im vierten Satz kann nur spöttisch-sarkastisch gedeutet werden. Um Stalin ein menschliches Antlitz zu verleihen, galt das sentimentale Stück in der Propaganda als dessen Lieblingslied. Schostakowitsch dürfte aber auch bekannt gewesen sein, dass der Diktator allerdings dem populärem „Flieg, schwarze Schwalbe, flieg“ den Vorzug gab.

    Als Solist des Konzertes wurde der 1996 in Stuttgart geborene Konzertmeister der Violoncelli der Sächsischen Staatskapelle Sebastian Fritsch wirksam. Mit seinen inspirierenden Interpretationen als Solist mit einer Vielzahl von Orchestern hat er sich bereits in der Spitzengruppe der jüngeren Cellisten etabliert.

    Sehr zügig, aber zurückhaltend in der Dynamik begann Sebastian Fritsch den Kopfsatz und wiederholte mehrfach die kurzen Motive, immer wieder vom hervorragenden Horn solistisch unterstützt. Mit durchhaltender Intensität, ohne an schroffen Ecken und Kanten der Partitur den Schönklang zu opfern, fesselte er seine Hörer mit prägnanter, fast perkussiven Behandlung der Partitur.

    Die Dirigentin Yi-Chen Lin hielt beim Moderato betonten Kontakt mit dem Solisten und gestaltete den Satz hellwach, dabei betont weich, lyrisch mit verhaltener Dynamik. Der Solist musizierte mit intensivem Singen in breiten dynamischen Bögen, dabei ruhig, unaufgeregt und nie forcierend.

    Auf die elegische Klage des langsamen Satzes folgte als gleichsam selbstständiger Satz die extensiv ausgedehnte Kadenz. Höchstes Können und kluge Gestaltungskunst wurde vom Solisten geboten, als er zunächst im intensiven Dialog mit seinem Instrument etwas verträumt die elegische Klage intonierte. Grandios meisterte er die äußerst leisen Passagen mit ihrer schwierigen Gestaltung der Pausen. Fast aus dem Nichts führte Sebastian Fritsch den zweiten Teil der Kadenz zu einem regelrechten Ausbruch, um dann der Dirigentin Platz für den mit drängender Energie geladenen Schlusssatz zu geben. Das völlig verrückte Finale nahm Fritsch beinah spielerisch und ließ sich weder vom robuster auftretenden Orchester noch von den Themenbruchstücken beeindrucken.

    Besonders beeindruckten die sonore Tonlage, die melodiöse Beweglichkeit und die Kraft des von Sebastian Fritsch vorgestellten Violoncello aus der Werkstatt von Thorsten Theis. Der 1971 in Waldbröl geborene Instrumenten-Schöpfer Theis beweist, neben anderen Profilierten der Zunft, dass in der heutigen Zeit Klangwerkzeuge zu schaffen sind , die den hochgelobten „Alten Italienischen“ durchaus ebenbürtig sein können und bei messtechnischen Vergleiche durchaus auch bessere Ergebnisse erreichen. Thorsten Theis hatte ursprünglich der Beruf eines Metall-Formenbauers erlernt und ist damit am präzisen Arbeiten im Hundertstel-Millimeterbereich geschult. Seine Leidenschaft für den Werkstoff Holz hat ihn zu einer zusätzlichen Instrumentenbauer-Lehre und 2002 zu einer eigenen Werkstatt geführt. Moderne Möglichkeiten, wie die Beurteilung von Hölzern mit Schallgeschwindigkeitsmessungen oder das Scannen alter Instrumente erlaubten, den alten Meistern ihre Geheimnisse zu entlocken. Bei Thorsten Theis hat vor allem aber seine direkte Zusammenarbeit mit Spitzenmusikern zu derart erstaunlichen Musikinstrumenten, wie dem von Sebastian Frisch gespielten Cello aus dem Jahre 2016 geführt.

    Den Abschluss der Matinee bildete die aufmunternde „Serenade E-Dur für Streichorchester op. 22“ aus Antonín Dvořáks (1841-1904) glücklichster Lebenszeit. Um mehr Zeit zum Komponieren zu finden, beendete der Bratschist Dvořák im Jahre 1873 seine Orchestermusiker-Tätigkeit und betrieb eine erfolgreiche private Musikschule. Ein von Eduard Hanslick (1825-1904) lanciertes großzügiges Künstler-Stipendium ermöglichte dem Mittdreißiger, sich auf seine junge Familie und auf seine Tondichtungen zu konzentrieren. Noch vom späteren Weltruhm unbehelligt, arbeitete er an der Entwicklung eines eigenen musikalischen Stils und schuf eine Folge hochkreativer Werke. Mit dem „ersten Klaviertrio op. 21“und dem „ersten Klavierquartett op.23“ erschloss sich Dvořák neue Kammermusikformen. Fast wie zur Erholung schrieb er zwischen diesen Werken innerhalb von zwölf Tagen mit seiner „Serenade für Streichorchester E-Dur“ sein, neben der neunten Symphonie, am häufigsten gespieltes Stück.

    Diesen lebensbejahenden Kontrast zum Cellokonzert Dmitri Schostakowitschs gestaltete Yi-Chen Lin mit einer kraftvollen Streicher-Besetzung der Staatskapelle mit erstaunlich kammermusikalischer Struktur. Leichtfüßig erklang das Stück, indem die tiefen Streicher nie zu dominant in den Vordergrund traten, sondern dezent agierten. Frau Li n betonte die Klangschönheit des ersten Satzes, die Beschwingtheit des langsamen Walzersatzes und das an feinem Humor kaum zu überbietenden hyperaktive Scherzo. Zum Höhepunkt der Serenade gestaltete die Dirigentin mit der Betonung der Romantik der Partitur den langsamen Satz, indem sie aus der feierlich wehmütigen Anfangswendung einen melancholischen Gesang herauswachsen ließ, um daraus einen strahlenden Höhepunkt zu entwickeln.

    Das kraftvoll packend beginnende Finale fasste die Episoden noch einmal Rondo artig zusammen, bis am Ende die Figuren verschwinden und der Kreis sich schloss.

    Als Ergebnis war ein exzellentes musikalisches Zusammenspiel hochkonzentrierter Musiker entstanden, das ein gut gestimmtes Publikum in den Nachmittag entließ.

    Der Konzertplan wollte es aber anders:

    Die Staatskapelle Dresden feiert ihren 475. Geburtstag

    Christian Thielemann dirigiert Werke von Weber, Wagner und Strauss


    Es waren auf den Tag 475 Jahre vergangen, als Christian Thielemann am 22. September 2023 den Taktstock zu Carl Maria von Webers „Jubel-Ouvertüre op. 59“ hob, dass der 27-jährige Kurfürst Moritz von Sachsen (1521-1553) auf Schloss Hartenfels in Togau den „Urkantor der evangelischen Kirchenmusik“ Johann Walter (1496-1570) mit der Formierung einer „Churfürstlichen Cantorey und Welsche Music und Instrumentalisten“ beauftragt hatte.

    Die Jahre des Aufenthalts des Kurfürsten in seiner Kindheit an dem kulturell vom Geist der Renaissance erfülltem Hofe seines sinnenfrohen Taufpaten Albrecht von Brandenburg, Kardinal und Erzbischofhof von Magdeburg, hatten ihre Spuren hinterlassen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit drängte auch die junge Kurfürstin Agnes von Hessen (1527-1555) so kurz nach der Intronierung ihres Gatten auf eine Orchestergründung, denn der Kurfürst war kaum zu Hause und brachte die meiste Zeit im Feldlager des „Schmalkaldischen Kriegs“ sowie mit Streitereien mit den Landständen zu. Moritz und Agnes hatten sich als Kinder am Magdeburger Hofe des gemeinsamen Taufpaten Albrecht kennen gelernt und sich bereits derzeit einander versprochen. Gegen elterliche Wiederstände hatte im Jahre 1541 der neunzehnjährige Moritz die vierzehnjährige Agnes geheiratet. Dem Einfluss der Agnes dürfte auch zu verdanken sein, dass neben der Musik der evangelischen Hofkirche auch Tafel- und Kammermusiken zu leisten waren und dass bei der Vergrößerung des Dresdner Schlosses ab 1548 auch renommierte Künstler vor allem aus Italien nach Sachsen einbezogen wurden, so dass der Bau als ein Hauptwerk der Renaissance entstand. Bereits zu dieser Zeit kamen die ersten italienischen Instrumentalisten für die Hofkapelle nach Dresden.

    Die Anfangsjahre des Klangkörpers waren nicht stolperfrei. Wegen der Bauarbeiten im Schloss konnten die Musiker erst nach 1550 nach Dresden ziehen und kirchenpolitische Konflikte trübten die Tätigkeit Walters. Deshalb ließ er sich, nachdem er noch 1554 den Neubau der Dresdner Schlosskapelle einweihte, pensionieren, um aus Torgau seinen Landesherren mit Kompositionen zu huldigen. Von Walters Nachfolger, dem franco-flämischen Komponisten Mattheus Le Maistre (um 1505-1577) ist vor allem überliefert, dass er die Kapelle von 21 Musikern auf 45 Instrumentalisten, davon sechs aus „welscher Herkunft“, erweiterte.

    Ab dem Jahre 1662 begann in Dresden das Zeitalter der italienischen Oper, in dessen Verlauf sich der bis in die Jetztzeit nachwirkende Charakter und die Spielweise des Orchesters heraus bildeten. Erstaunlicherweise wirkten sich die kriegerischen, dynastisch-politischen Ereignisse und die Konvertierung des Kurfürstenhauses zwar auf die Situation des Klangkörpers aus, stellten aber seine Existenz nie in Frage. Auch wenn sich der Hofkapellmeister Heinrich Schütz (1585-1672) gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) beim Kurfürsten über die „schlimmen Arbeitsbedingungen der Kapelle sowie die elenden Zustände unter ihren Mitgliedern“ beklagte, hatte er die Musiker durch die Wirren des grauenvollen Kriegs nicht nur vergleichsweise ungestört geführt sondern sogar mit ihnen eine für Deutschland neue Art vokaler Tonmalererei kreiert. Selbst nach dem für das Land desaströsen Siebenjährigen Krieg (1756-1763) konnte Kursachsen von seiner ehemaligen Vorrangstellung in der deutschen Kunst mit der „Hof-Capella“ zumindest die Bedeutung in der Musik wahren.

    Uns noch durchaus bekannte Komponisten reihten sich als Hofkapellmeister oder Konzertmeister, insbesondere in der Zeit, als deren Berufung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch mit Komponier-Verpflichtungen verbunden war, aneinander. Glanzvolle Namen, wie Heinrich Schütz, Johann David Heinichen (1683-1729), Johann Georg Pisendel (1687-1755), Johann Adolph Hasse (1699-1783), Carl Maria von Weber (1786-1826) bis Richard Wagner (1813-1883), sollen hier beispielhaft genannt werden.

    Prägend für das Orchester war in der neueren Zeit die Tätigkeit des Hofkapellmeisters Ernst von Schuch (1872-1914), der in seiner Amtszeit ab 1889 mit einer Arbeitsbeziehung und späteren Freundschaft den deutlich jüngeren Richard Strauss (1864-1949) an das Haus band, so dass dieser neun seiner Opern in Dresden uraufführen ließ.

    Im Konzert zur 475. Wiederkehr der Orchesterstiftung wurden nur Kompositionen der prägenden Partner des Traditionsklangkörpers der letzten Jahrhunderte geboten.

    Wie so vieles verdankt die „Jubel-Ouvertüre op. 59“ des Carl Maria von Weber einer schwer aufzuklärenden Intrige, denn „Seine Majestät“ war da selbst involviert. Der Hofkapellmeister Weber hatte für ein Konzert zum 50-jährigen Jubiläums des Amtsantritts seines Dienstherren Kurfürst Friedrich August III. im Sommer 1818 eine „Jubel-Cantate“ komponiert, war aber fahrlässiger Weise in seiner Sommerfrische Hosterwitz verblieben. Nach Dresden zurückgekehrt musste er feststellen, dass im Festprogramm seine Kantate fehlte, so dass er eine Mitwirkung am Festkonzert verweigerte, was aber für den Hofkapellmeister einfach nicht ging. Graf Heinrich Vitzum hat dann als Webers vorgesetzter Intendant des königlichen Theaters durchgesetzt, dass der Hofkapellmeister, ob seiner Komponier Verpflichtungen zumindest mit einem noch zu realisierenden Konzertstück im Festkonzert zu vertreten sei. In einer Hosterwitzer-Klausur entstand dann Anfang September die eigentlich formaltypische Weber-Ouvertüre, die er mit der trotzig-reich orchestrierten Hymne des Flensburger Aufklärers Heinrich Harris (1762-1802)„Heil dir im Siegerkranz“ ausklingen ließ. Christian Thielemann dirigierte die „Jubelouvertüre“ seines Vorgängers weihevoll und nicht so kämpferisch, wie das wahrscheinlich Carl Maria von Weber am 20. September 1818 bei ihrer Uraufführung tat.

    Seine Beschäftigung mit der Tannhäuser-Sage brachte Richard Wagner (1813-1883) im April 1842 aus Paris mit nach Sachsen. Doch die Uraufführungen der Oper „Rienzi“ im Oktober und des „fliegenden Holländers“ im Januar des Folgejahres gaben in seiner ersten Zeit in Dresden wenige Möglichkeiten, die Entwürfe weiter zu treiben. Als der Erfolg der beiden Opern im Februar 1843 eine lebenslange Berufung zum Hofkapellmeister zur Folge hatte und Wagner sich beim „Musikfest der sächsischen Männerchöre“ beteiligte, benötigte er für die Fertigstellung „seiner Kampfansage, seiner Provokation gegenüber der biedermeierlichen kleinsinnigen Kunstpraxis“ bis zum 13. April 1845.

    Für Wagner war der Orchesterauftakt die Verflechtung thematischer Materialien, die ein Gefühl für die „Argumentation der folgenden Oper“ vermitteln sollte. Seine Ouvertüre zum „Tannhäuser“ dürfte das treffende Beispiel für diesen Anspruch bieten. Die Ouvertüre begann mit dem Leitmotiv, mit dem die Oper abschließt. Mit brillanter Intonation meisterten Hörner, Klarinetten und Fagotte die Einleitung bis die Blechbläser mit Motiven des Pilgerchores alles überstrahlten. Das Moment der Abwechslung von Anspannung und Auflösung der Opernhandlung wurde mit der Darbietung der Staatskapelle gekonnt verwoben umgesetzt, so dass mit der „Tannhäuser-Ouvertüre“ das Libretto des Gesamtwerkes konzentriert über die Leitmotivation erlebbar war. Alles war zu hören: Aufladung der Sünde, Gewissensleid, dissonant eingestreute Seufzerkaskaden bis zur Erlösung aus der Schuld.

    Nachdem das junge Komponistengenie Richard Strauss mit seinem Opern-Erstling „Guntram“ im Jahre 1894 in Weimar keinen rechten Erfolg erzielen konnte, widmete er sich wieder seinen Tondichtungen und ließ sich von den unterschiedlichsten Einflüssen anregen. Bei Friedrich Nietzsche (1844-1900) zog ihm vor allem die Betonung der Freiheit des menschlichen Geistes an. Im „Also sprach Zarathustra“ fand Strauss eine Negierung alles Kleingeistigem, Unfreiem insbesondere der christlichen Dogmatik. Die Tondichtung sollte für ihn ein Befreiungsschlag aus der Enge der kleingeistigen Moralität seines katholischen Umfelds werden und seine Entwicklung zu einem freigeistigen atheistischen Kosmopoliten einleiten. Obwohl das Strauss-Opus 30 im Jahre 1896 nicht von der Sächsischen Staatskapelle uraufgeführt worden war, gehört „Also sprach Zarathustra“ ob seiner Wirkung zu den prägenden Werken des Zusammenwirkens des Komponisten und des Orchesters.

    Unsere Kenntnisse um die Person Zarathustras sind absolut ungesichert, auch wenn mutige Forscher seine Lebenszeit auf etwa 630 v.Chr. bis 553 v. Chr. datieren. Seriöse Historiker vermuten den Zeitbereich von vor 3600 bis vor 2600 Jahren. Denkbar, dass Zarathustra aus einer Klausur in den iranischen Bergen auf die persischen Marktplätze gekommen sei, um seine dualistische Religionsform des „Zoroastrismus“ zu verkünden. Nach heutiger Auffassung umfasste seine Lehre einen Weg zur Wahrhaftigkeit durch den „Widerstreit des Guten Denkens, Guten Sprechens und Guten Tuns mit dem Bösen Denken, dem Bösen Reden und dem Bösen Tun“. Friedrich Nietzsches Wissen um den Religionsstifter begrenzte sich auf eine Übersetzung von Johann Friedrich Kleuker (1749-1827) des „Avesta“, einer Schriftensammlung des Zoroastrismus aus dem Zeitbereich des fünften bis zum 13. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Die Schriften, die vorgeblich Zarathustras Lehre beinhalten sollten, hatte der Orientalist Abraham Hyacinthe Anquetil-.Duperron (1731-1805) in der Mitte des 18. Jahrhunderts bei „Parsen“, einer noch heute aktiven Gruppe von Anhängern des Zoroastrismus, aufgefunden. Schon Nietzsche begrenzte sich auf jene Aspekte der Zarathustra-Überlieferungen, die zu seinem philosophischen Weltbild passten. Er kreierte den Übermenschen als Ziel des menschlichen Strebens, als Ersatz Gottes und legte Zarathustra meist expressiv-lyrische Aphorismen über Themen, die den modernen Menschen betreffen in den Mund: Glaube nicht einfach, denke selbst, finde deinen eigenen Weg, folge mir nicht nach. Der Text ist zugleich Philosophie aber auch Poesie und traf den Zeitgeist des Endes des 19. Jahrhunderts.

    Von Zarathustra religionsstiftenden Wirkungen, sind in der Tondichtung des Richard Strauss nur homöopathischen Konzentrationen zu spüren. Selbst der Komponist konnte sich nach über dreißig Jahren Distanz zur Uraufführung nur noch spöttisch über seinen Versuch, das Gedankengebäude Nietzsches in Töne zu setzen, äußern.

    Es bleibt unbenommen, sich bei der von der Orgel, dem Kontrafagott und der großen Trommel unterstützten düsteren Kontrabass-Tremolo beginnenden Symphonischen Dichtung, wenn sich eine Trompetenfanfare in gleißender Helle erhebt, um das gesamte Orchester in einen alles überstrahlenden Jubel münden zu lassen, den Aufbruch des Zarathustra aus seiner Klausur in die Welt vorzustellen, um seine Lehre zu verkünden. Die genialen ersten Takte des Werkes sind tatsächlich so markant, dass sie als Synonym für bahnbrechende Erkenntnis und Offenbarung jederzeit wiedererkennbar sind. Folgerichtig ist ihr erschreckend ausufernder Missbrauch in medialer Nutzung und Werbung offenkundig.

    Deshalb fand ich es von Christian Thielemann verdienstvoll, dass er zwar den Töneschwall des Beginns genussvoll auskostete, dann aber mehr Augenmerk auf die eigentliche Komposition legte und das Bewusstsein seiner Zuhörer von erst später von Nietzsche abgeleiteten Motivbezeichnungen ablenkte. Für die Staatskapelle war es eine Möglichkeit die Transparenz ihrer Orchestration zu demonstrieren. Die Streicher boten ihren berauschenden Schmelz ohne die Bläser zu überdecken. Christian Thielemann ließ der Virtuosität aller Stimmen breiten Raum, dirigierte weder auffällig langsame noch besonders schnelle Tempi, dabei voller Emotionen und ohne seine berühmten Pausen zu vernachlässigen. Die ästhetische Sanftheit und Spiritualität seiner Interpretation verliehen ihr eine fast requiemhafte Wirkung.

    Keine andere Komposition wird mit der Semperoper und der Sächsischen Staatskapelle so intensiv in Verbindung gebracht, wie die 1911 in Dresden uraufgeführte Richard-Strauss-Oper „Der Rosenkavalier“. Die Wahrheiten und die Menschlichkeit des Librettos des Hugo von Hofmannsthal in Verbindung mit der genialen Musik haben bis heute ihre Anziehungskraft behalten. So war schlüssig, dass das Festkonzert mit einer Suite aus der Oper „Der Rosenkavalier“ komplettiert wurde. Zugleich ist „Der Rosenkavalier“ auch mit seiner Hommage an Wien und den Wiener Walzer die für Richard Strauss untypischste Komposition.

    Kraftvoll leiteten die Hörner die Suite ein und machten deutlich, dass das Orchester mit dem zur Überladung neigenden Strauss-Klang umzugehen wusste. Mit höchster Akribie und Hingabe entlockte Thielemann der Staatskapelle eine Interpretation, die das wilde Durcheinander an amourösen Verwicklungen, peinlichen Verwechslungen und sanften Romanzen auch ohne Worte deutlich gestaltete. Der Dirigent erwies sich als wahrer Meister der dynamischen Abstufungen und orchestralen Schattierungen. Er demonstrierte dieses bei den komprimierten Szenen mit der ineinander verschlungenen Interpretation, wenn kitschig-süße mit üppig berauschenden Komponenten wechselten. Auf höchstem Niveau differenzierte er die Klangstrukturen der sich überlagernden Instrumentalgruppen ohne dabei die Süffigkeit des zuckersüßen Walzerrhythmus und seinen schwelgerischen Pomps zu übertreiben. Thielemann ließ den Musikern Raum zur Entfaltung, sicherte Farbenreichtum und Klangdifferenzierung statt üppiger Fülle. In bewährter Weise gestaltete er die Tempi, sicherte einen schlanken Klang und hielt vorwärtstreibenden Elan und innehaltende Reflexionen in schönem Gleichgewicht, so dass die dramatische Qualität der an lasziver Doppeldeutigkeit reichen Suite zur Wirkung kam. Selbst das komplexe Schlachtengetümmel klang transparent. Höhepunkte traten wieder als solche in Erscheinung, weil sie nicht in Dauerespressivo und überbordender Klangentfaltung ertränkt wurden. Unsentimental und dennoch gewürzt mit der richtigen Portion an Emotionen gelang eine packende elektrisierende Interpretation.

    Die Sächsische Staatskapelle bestritt mit ihrem Chefdirigenten das Konzert mit Werken der Komponisten-Heroen des Orchesters der neueren Zeit auf höchstem musikalischen Niveau und gestaltete mit beeindruckenden Leistungen ergreifende und berührende Momente eine Sternstunde.

    Die Sächsische Staatskapelle Dresden feiert ihren 475. Gründungsgeburtstag:

    Programm der Jubiläumsfestwoche:

    Dienstag 19. September 20 Uhr 1. Kammerabend Semperoper

    Donnerstag 21. September 19:30 Uhr »Der Freischütz« Semperoper

    Freitag 22. September 19 Uhr Sonderkonzert am 475. Gründungstag der Sächsischen Staatskapelle Dresden Semperoper

    Samstag 23. September 11 Uhr Ausstellungseröffnung »Die Sächsische Staatskapelle persönlich«, Eintritt mit Einlasskarte frei Rundfoyer der Semperoper

    Samstag 23. September 19 Uhr »Der Freischütz« Semperoper

    Sonntag 24. September 11 Uhr 1. Aufführungsmatinée Semperoper

    Sonntag 24. September 19 Uhr Sonderkonzert am 475. Gründungstag der Sächsischen Staatskapelle Dresden Semperoper Mittwoch

    27. September 19:30 Uhr Ausstellungseröffnung »475 Staatskapelle @ SLUB«, Eintritt frei SLUB Dresden

    Die Sächsische Staatskapelle eröffnet die 475. Saison mit Hindemith „Der Schwanendreher“ und Strauss „Eine Alpensymphonie“


    Für das erste Symphoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle der 475. Saison 2023/2024 waren mit Hindemiths „Schwanendreher“ und Strauss´s „Alpensymphonie“ zwei Stücke ausgewählt, deren Benennungen Gelegenheit zum Nachdenken geben, warum die Komponisten beider Werke zu den derzeit gebräuchlichen Titelbezeichnungen gekommen sind.

    Paul Hindemiths (1895-1963) hatte als praktizierender Bratschist sein drittes Bratschenkonzert „Der Schwanendreher“ vor allem während eines Art Urlaubsaufenthaltes im September 1935 in der Schweiz in angeblich gelöster Stimmung geschrieben, obwohl seine Kompositionen in seinem Heimatland Deutschland von den damaligen Machthabern verfemt waren.

    Einem 1877 in Leipzig erschienenen „Altdeutschen Liederbuch“ des in Dresden wirkenden Chordirektors und Musiklehrers Franz Magnus Böhme (1827-1898) entnahm Hindemith aus dem Angebot von 660 altdeutschen Volksliedern vier Gesangssstücke, um diese in einem Konzert für Viola und kleines Orchester zu verarbeiten. Hat uns Paul Hindemith mit der der Auswahl dieser vier Lieder aus der Fülle der Sammlung eine Denkaufgabe hinterlassen?

    Die Auswahl der vier Gesänge deutet nicht unbedingt auf eine Bewusstheit hin, dass sich Hindemith, der zwar seit 1929 von Nationalsozialisten angefeindet wurde, einem verfestigten System gegenüber gesehen hätte. Das im ersten Satz verarbeitete Lied Nummer 163 „Zwischen Berg und Tal“ beinhaltet im Text gute Ratschläge für Liebesleute, wie sie ihr Zusammenleben gestalten sollten und wann die Fortsetzung einer Gemeinsamkeit keinen Sinn mehr habe. Das Lied 175 „Nun laube Lindlein laube“ ist die Klage eines Mädchens, einer jungen Frau, um eine verlorene Liebe. Beide Lieder beinhalten letztlich alltägliche Umstände. Auch die im zweiten Satz eingeschobenen Motive des Liedes Nummer 167 „Der Gutzgauch auf dem Zaune“ deuten doch eher auf eine Deutung des Kuckucks als Frühlingsbote, statt als Sinnbild widerlicher, gefährlicher Dinge hin. Möglicherweise hat Hindemith gerade deshalb alte Volkslieder aufgenommen, um sich in seiner Überzeugung zu vergewissern, dass der Wert eines Volksliedes nicht nur im hinterlassenen musikalischen Eindruck besteht, sondern durch volkstümliche, landschaftliche und zeitliche Beziehungen besondere Empfindungen im Musiker erweckt. Es ist aber auch durchaus legitim, im zweiten Satz mit den Textzeilen „Nicht länger ich´s ertrag“ sowie „hab gar ein´ traurig´ Tag“ einen Ausdruck von Hindemiths Isolation vom deutschen Kulturleben sehen zu wollen. Dem widerspricht jedoch die Wahl des Gesanges Nummer 315 „Seid ihr nicht der Schwanendreher“, dem letztlich das Konzert seinen Namen verschaffte, deutlich. Deren Motive für die Variationen waren lediglich einem Neck- und Scherzlied entnommen, das die Popularität seiner Eignung als Tanzmusik zu verdanken hatte. Da steckte kein philosophischer Gedanke dahinter. Ich halte schon Böhmes Vermutung, dass mit dem Schwanendreher der Betreuer der Geflügelzucht eines mittelalterlichen Gutes verspottet wurde, für zweifelhaft. Dass der Spießdreher beim Braten eines. Schwanes gemeint war, dürfte absolut zu tief gedeutet sein. Und für völlig unzutreffend dürfte sein, dass sich Hindemith von Heuschwaden, die in einigen Gebieten als Schwanen bezeichnet und nach Regen gewendet werden müssen, wegen ihrer vermeintlichen Notenstruktur-Ähnlichkeit den Komponisten inspiriert haben könnten.

    Mithin: Hindemith sah sich als fröhlichen Musikanten und fand im „Schwanendreher-Begriff“ den zugkräftigen Titel für seine Komposition. Selbst als Wilhelm Furtwängler wegen einer Verteidigung des Schaffens Hindemiths im November 1934 Probleme mit der Kulturbürokratie der NSDAP bekam und Hindemiths Werke im Rundfunk nicht mehr gespielt wurden, blieb er gelassen. Erst als die jüdische Abstammung seiner Frau in der Öffentlichkeit thematisiert wurde, verließ das Ehepaar 1938 Deutschland und ging zunächst in die Schweiz und dann in die Vereinigten Staaten.

    Als „Capell-Virtuos“ hatte Antoine Tamestit dem Publikum der Sächsischen Staatskapelle mit seiner klangschönen Viola „Mahler“ von 1672 aus der Cremonenser Werkstatt Antonio Stradivaris (um 1644-1737) in der der Saison 2021/2022 die Möglichkeiten und die Pracht seines Instruments in einem breiteren Umfang vermittelt. Am Pariser Konservatorium, der Yale Universität und vor allem bei Tabea Zimmermann ausgebildet, hatte sich Antoine Tamestit innerhalb weniger Jahre zu einem der gefragtesten Bratschen-Virtuosen entwickelt. Für die Kompositionen Hindemiths hat sich Antoine Tamestit mehrfach engagiert und dabei als faszinierender Interpret dieser Musik erwiesen. Im „Schwanendreher“ kommt die Bratsche wegen des kleinen und bei den Streichern nur mit Celli und Kontrabässen gering besetzten Orchesters besonders zur Geltung. Bereits mit den einleitenden Passagen zog Antoine Tamestit die Zuhörenden in seinen Bann. Er demonstrierte, dass er einer der fähigsten Bratscher unserer Zeit ist und Hindemith in ihm seinen Meister gefunden hat. Seine Phrasierung und die Eleganz seines Spiels begeisterten. Für ihn ist der „Schwanendreher“ keine ruppige Neoklassik, sondern Musik, die sanfte Töne und eine feine Klangbalance erfordert. Selbst die teilweise kantig-schroffe Mehrstimmigkeit fächerte er mit charmanter Gelassenheit auf und nahm sich Hindemiths Volksliedtons an. Spieltechnisch zeigte er seine gewaltige Souveränität in den Doppelgriffen, aber auch Wärme und sanglichen Ausdruck in den Verarbeitungen des mittelalterlichen Liedgutes.

    Das in tiefer Instrumentation erklingende Orchester wirkte präsent als Partner des Solisten, ohne in seinen Klangraum einzugreifen. Christian Thielemann konzentrierte seine Orchesterbegleitung sensibel auf die rhythmische Diktion. Im zweiten Satz wurde der Bratscher über eine längere Passage sogar nur von der Harfe von Sophia Litzinger zart und empfindsam begleitet. Das dritte Lied lieferte nicht nur dem Konzert den Namen, sondern auch Stoff für einen fulminanten Variationssatz zum Schluss.

    Für den gewaltigen Applaus bedankte sich Antoine Tamestit mit einer rasanten Zugabe.

    Seit am 28. Oktober 1915 Richard Strauss (1864-1949) sein Opus 64 bei der Dresdner Hofkapelle zum ersten Mal dirigierte, gehört das Werk zum Standard Repertoire des Orchesters. Deshalb durfte es auch im Programm des Eröffnungs-Symphoniekonzerts der 475. Saison der Sächsischen Staatskapelle nicht fehlen. Das Opus 64 des Richard Strauss wird üblicherweise in den Konzerten unter der Bezeichnung „Eine Alpensymphonie“ aufgeführt und in den Programmheften ist von der Beschreibung der Erlebnisse einer Bergwanderung die Rede. In unseren jüngeren Jahren haben wir über Jahrzehnte die Berge der slowakischen „Hohen Tatra“ sowie die Höhen der bulgarischen Pirin-und Rilagebirge durchwandert, waren selbst begeisterte Bergwanderer. Wir kennen die Euphorie des Erreichens eines Bergzieles, aber auch die Schrecknisse eines Höhengewitters im kleinen Bergzelt und die Ungewissheiten im hochsommerlichen Schneesturm. Somit können durchaus nachvollziehen, dass man derartige Erlebnisse mit der Musik des Richard Strauss verbindet. Ein in ungutes Gefühl, dass da aber mit der Bezeichnung „Eine Alpensymphonie“ etwas nicht stimmt, hatte sich aber bei uns stets beim Hören des Schlusses der Komposition eingestellt. Den Abschluss der Musik des Richard Strauss konnten wir nicht mit Befindlichkeiten einer glücklichen, wenn auch erschöpften Heimkehr nach einer anstrengenden Bergtour in Übereinstimmung bringen. Für uns erscheint das Ende der Symphonie als eine der wundervollsten Beschreibung des Versterbens eines Menschen. Unterstützung finden wir bei der Komponistin und Songschreiberin Emily Green. Als Green sich, damals noch Flötistin in einem Orchester, auf ihre Mitwirkung in einer Aufführung des Strauss´schen op.64“ ziemlich intensiv vorbereitete, war sie zur Erkenntnis gekommen: „Doch jetzt mal realistisch: als vielgefragter und intensivbeschäftigter Komponist verschwendet man doch nicht vier Jahre seines Lebens, um einen Ausflug in die Alpen zu beschreiben- Da steckt doch mehr dahinter!“. Auch die Irritationen um den Titel, das Werk sollte ursprünglich „Antichrist“ heißen, hat zur Vermutung geführt, dass wir tatsächlich eine Vertonung der Künstlertragödie des aus der Schweiz stammenden Malers und Bildhauers Karl Stauffer-Bern (1857-1891) hörten. Inzwischen wissen wir, dass sich Richard Strauss bereits um 1900 mit der Tragödie Stauffers beschäftigt hatte und dessen schweres Schicksal mit der Philosophie Friedrich Nietzsches (1844-1900) verknüpfen wollte.

    Der aus der Schweiz stammende Karl Stauffer, der tatsächlich ein begeisterter Bergwanderer gewesen war, lebte als begrenzt begabter Portraitmaler, Radierer und Kupferstecher in Berlin, als ihn sein Schulfreund Friedrich Emil Welti (1825-1899) bat, seiner Gattin Lydia Welti-Escher (1858-1891) und ihm beim Aufbau einer Sammlung moderner Kunstwerke behilflich zu sein. Lydia war die Alleinerbin des Schweizer Eisenbahn-Pioniers Alfred Escher (1819-1882) und damit zu dieser Zeit die reichste Frau des Landes. Dank der finanziellen Unterstützung der Weltis, konnte Stauffer seiner Neigung zur Bildhauerei nachgehen und in Rom und Florenz unter anderem auch mit Max Klinger (1857-1920) arbeiten. Nachdem im Oktober 1889 auch das Ehepaar Welti nach Florenz übergesiedelt war, aber Emil unmittelbar auf Geschäftsreisen ging, riss die Begeisterung Lydias für Karls künstlerische Projekte diese aus dem tristen Eheleben heraus. Die 31-jährige Lydia und der 32-jährige Karl wurden ein Paar. Ihre Flucht nach Rom wurde mit den diplomatischen Beziehungen der Familie Welti zur Schweizer Gesandtschaft gestoppt und Stauffer wegen Diebstahls und der „Vergewaltigung einer Irrsinnigen“ eingesperrt. Lydia Welti-Escher wurde mit der Diagnose eines „systematisierten Wahnsinns“ zunächst in Rom interniert, konnte sich aber nach einem viermonatlichen Aufenthalt in einer Irrenanstalt mit ihrer Entschädigungszahlung in Höhe von 1,2 Millionen Franken aus der Ehe mit Welti lösen. Mit ihrem noch beträchtlichem Vermögen gründete sie 1890 die „Gottfried-Keller-Stiftung“, die der „Selbstständigmachung des weiblichen Geschlechts-wenigstens auf dem Gebiet des Kunstgewerbes, dienen sollte“.

    Nachdem Karl Stauffer mit einer Kaution frei gelassen worden war, hatte das Paar nicht die Kraft, wieder zusammen zu finden. Stauffer unternahm mehrere Suizidversuche bis ihm 1891 der Selbstmord gelang. Auch Lydia beendete ihr Leben im Dezember 1891 mit einer Gasvergiftung.

    Deshalb konnte ich mir im zweiten Teil des Konzertes durchaus, statt der üblichen Bezeichnungen der Teile der Komposition als Abschnitte einer Bergwanderung, die Entwicklung der Beziehung der Lydia Escher und des Karl Stauffer von der zarten Anbahnung bis zum tragischen Suizid-Ende der beiden vorstellen, zumal der Aufbau des Werkes dem klassischen Drama folgte. Aber das ist letztlich meine subjektive Auffassung, die ich hier nunmehr wiederholt postuliere.

    Dem Werk werden oft Effekthaschereien vorgeworfen. Dabei ist es mit einer deutlichen Abgründigkeit an Nietzsches „sittlicher Reinigung aus eigener Kraft“, dem Antichrist angelehnt und von Geradlinigkeit geprägt.

    Auch am Beginn seiner letzten Spielzeit als Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle war Christian Thielemanns Herangehen an das Strauss-Opus 64 von intensiver Kenntnis der Partitur gekennzeichnet. Kraftvoll zupackend, gestaltete er die Darbietung abwechslungsreich, durchdacht und dennoch höchst emotional, dabei in sich geschlossen. Ohne Scheu vor den Möglichkeiten des gewaltigen Orchesters wusste Christian Thielemann diese Klangmasse überlegt mit höchster Sorgfalt und Klangpracht zu formen. Die Streicher der Staatskapelle gaben mit ihrem phantastischen Klang in den filigranen und lyrischen Partien dem Gesamteindruck eine besondere Färbung. Momente wie diese sind an Zartheit der Wiedergabe kaum zu überbieten und ließen fast vergessen, dass hier ein Orchesterapparat mit weit über einhundert Musikern saß. Vor allem die Solisten und Instrumentengruppen bekamen Gelegenheit, bei diesem für die Musiker anspruchsvollen Werk zu zeigen, was in ihnen steckt.

    Die Präzision der hervorragenden Bläser war besonders beeindruckend: vom blitzsauberen Trompetensolo des Helmut Fuchs „auf dem Gipfel“, dem bewegendem Flötensolo der Rozália Szabó bis zur ausdrucksvollen Oboe von Bernd Schober nicht nur wegen der bestechenden Technik, sondern auch bezüglich des musikalischen Ausdrucks. Die dramatische Schilderung im letzten Drittel des Werkes mit einem höchst spannungsvoll aufgeladenen Zerfasern der Orchesterstimmen verschaffte der Situation zusätzliche Dynamik.

    Das Volumen des Semper-Zuschauerraumes ist für den symphonischen Koloss eigentlich zu klein. Aber man kann es dem Chefdirigenten am Beginn seiner letzten Saison nicht verübeln, dass er es noch einmal hat richtig krachen lassen wollen. Letztlich zügelte er sich und es gelang dem Dirigenten, in den dynamischen Höhepunkten die raffinierte Instrumentation des Werkes derart dosiert einzusetzen, dass ich bei meinem Vergleich des Konzerteindrucks mit früheren Konzert-Erlebnissen der „Alpensymphonie“, zunehmend mehr Thielemann, als Strauss zu hören glaubte. Die Tempi, die Pausen und die leisen Stellen sind kaum besser zu gestalten. Alle Instrumente klangen ausgewogen, waren deutlich wahrnehmbar und prachtvoll eingebettet in den Gesamtklang.

    Semperoper Dresden: Matinee zur Eröffnung der 475. Saison seit Orchesterstiftung

    3. September 2023

    Paul Hindemith: „Der Schwanendreher“

    Richard Strauss: „Eine Alpensymphonie“ op. 64

    Dirigent: Christian Thielemann

    Solist: Antoine Tamistit Viola

    Sächsische Staatskapelle Dresden


    Eröffnungskonzert des Festivals 2023 mit Werken von Frank Bridge; Cyril Scott, Edward Elgar am 26. August 2023 in der Friedenskirche :


    Für das Eröffnungskonzert des diesjährigen Festivals „Albrecht Menzel & Freunde“ in der Radebeuler Friedenskirche hatte der ortsverbundene und international erfolgreich aktive Musiker für sein kleines, feines Ensemble selten zu hörende Werke von drei englischen Komponisten ausgewählt:

    Der als Dirigent und Bratschist tätig gewesene Komponist Frank Bridge (1879-1941) hat neben seinem schmalen Kammermusik-Werk vor allem Bedeutung erlangt, dass er seinem Schüler Benjamin Britten (1913-1976) die Bekanntschaft mit der Musik von Ravel, Strawinsky, Berg und Schönberg vermittelte. Britten bedankte sich bei seinem Lehrer mit „Variationen über ein Thema von Frank Bridge op. 10“.

    Bis auf wenige Orgelstücke sind Brigdes Kompositionen inzwischen kaum im Repertoire zu finden. Deshalb war es erfreulich, dass im Radebeuler Konzert die Violinisten Albrecht Menzel, Sascha Maisky, die Bratschistin Natalie Loughran sowie der Cellist Bryan Cheng uns die „Drei Idylls H. 67“ aus dem Jahre 1906 des Frank Bridge auf eine jugendlich-erfrischende Weise vermittelten und an den fast vergessenen Musiker erinnerten.

    Der Nachlass des Komponisten Cyril Scott (1879-1970) verfügt dagegen über etwa 400 Werke. Er gilt als vom Impressionismus stark geprägter Spätromantiker. In der Darbietung der vier Sätzen seines 1899 entstandenen „Klavierquartett e-Moll op. 16“ ist allerdings der impressionistische Einfluss noch nicht zu spüren. Den ersten Satz „Allegro maestoso e con spirito“ spielten der Pianist Julien Quentin mit den vier Streichern betont frisch und beschwingt, dem ein ausgesprochen romantisches ausdrucksstarkes „Andante molto espressivo“ folgte.

    Das „Allegro amabile“ gehörte in erster Linie dem Pianisten, dem die Streichinstrumente weniger ausgeprägt und gedämpfter folgten. Mit einem lebhaft finalen „Allegro non troppo“ schlossen die Musiker das Klavierquartett.

    Edward Elgar (1857-1934) war seit Henry Purcell (1659-1695) der erste herausragende Komponist Englands und der bedeutende Vertreter der englischen spätromantischen Musik. Außerhalb Englands wird sein Schaffen oft auf seine patriotischen Orchestermärsche „Pomp and Circumstance“ op. 39 reduziert und seine andere Musik selten aufgeführt. In der Abgeschiedenheit seines Landsitzes begann Elgar 1917 trotz der Auswirkungen des Krieges und persönlicher Probleme mit der Arbeit an drei Kammermusikwerken. Bei der Komposition des „Klavierquintetts a-Moll“, seinem Opus 84, ließ er sich von „traurig enteigneten Bäumen, die wie spanische Mönche, die bei einer sakrilegischen Zeremonie vom Blitz getroffenen worden waren“ inspirieren. Ein unverhohlen spätromantisches Werk großer Tiefe und Eleganz, das die kompositorischen Trends der Zeit völlig ignorierte, war entstanden.

    Zunächst spielte der Pianist Julien Quentin in der Einleitung des „Moderato-allegro“ schlichte , dürftige pseudo-gregorianische Motive, gegen die von den Streichern nur nüchtern murmelnd, fast unheimlich angespielt wurde, bis der Cellist Bryan Cheng eine ansteigende, fast flehentliche Figur dagegen setzte. „Spanisch klingenden Elemente“, mit denen Elgar das Wiedererwachen der Mönche symbolisieren wollte, wurden in der Entwicklung des Satzes mehrfach wiederholt. Das Adagio im zweiten Satz gestalteten die Musiker zu einem grandiosen und erhabenen emotionalen Herzstück des Klavierquintetts. Die Bratschistin Natalie Loughran führte die vier Streicher homogen, während der Pianist Julien Quentin feinfühlig mit kräftigen Farben mitwirkte.

    Der Final-Satz nahm zunächst Themen des ersten Satzes wieder auf. Das Melodische wurde aber zunehmend zerrissen und Fragmente zwischen dem Klavier und den Streichern gekonnt ausgetauscht. Unvermittelt tauchte auch die Kopfsatzmelodie des Klaviers wieder auf und leitete über ein hochemotionales Duett der beiden Violinen von Albrecht Menzel und Sascha Maisky in das scharf charakterisierte packende Finale über.

    Das war brillant gebotene Kammermusik auf höchstem Niveau. Der geringe Bekanntheitsgrad der Musik wurde mit Neugier angegangen und kreativ sowie professionell zu Gehör gebracht. Interessant war, wie phantasievoll die bizarren Aspekte der Werke bewältigt wurden. Mit Albrecht Menzel ist zweifelsfrei aus dem Initiator ein künstlerischer Leiter des Festivals von Format herausgewachsen.

    Nicht zu vergessen, dass wir Streichinstrumente von besonderem Klangwerthören durften:

    Albrecht Menzel spielte eine Violine aus der Werkstatt Antonio Stradivaris (um 1644-1737). Im Jahre 1709 in dessen Werkstatt in Cremona gebaut, hatte der britische Sammler Sir Andrew Fountaine (1808-1874) das Instrument nach einem Konzert spontan dem Geiger Heinrich Wilhelm Ernst (1814-1865) geschenkt. Ernst, der als einer der besten Solisten seiner Zeit galt, spielte das Instrument bis zu seinem Tode. Im Jahre 1902 gelangte die Violine zu der berühmten Geigerin Wilhelmine Neruda (1839-1911), der früheren Duo-Partnerin und Witwe des Pianisten Charles Hallé (1819-1895). Einige Jahre nach dem Tode der Wilma Neruda war das Instrument nach Zwischenstationen sogar in das Instrumenten-Bau-Unternehmen Rudolph Wurlitzer & Co in den USA gelangt. Der Ursprung der Gesellschaft geht auf Auswanderer aus dem sächsischen Schöneck im vogtländischen Musikviertel zurück. Dem Vernehmen nach seien durch die Hände des Violinspezialisten des Unternehmens Rembert Rudolph Wurlitzer (1904-1963) die Hälfte der etwa 600 weltweit bekannten Stradivari-Instrumente gegangen, die er systematisch authentifizierte und zum Teil restaurierte. Die „Strad Lady Hallé/Ernst“ spielt Albrecht Menzel seit über zehn Jahren.

    Die von Sascha Maisky präsentierte Geige wurde im Jahre 1666 in der Werkstatt von Nicola Amati (1596-1684) in Cremona gefertigt. Der Weg des Instrumentes ist bis nach Paris zum bedeutendsten Geigenbauer der Moderne Jean-Baptiste Vuillaume (1798-1875) zurück zu verfolgen, der die Violine 1870 der Familie Saint-Exupéry verkaufte. Da das Instrument bis 1977 im Familienbesitz verblieb, dürfen wir unterstellen, dass auch der Schriftsteller und legendäre Pilot Antoine de Saint-Exupèry die Geige gespielt hatte.

    Die Viola der Natalie Loughran ist 1978 in der Werkstatt von Sergio Peression (1913-1991) gefertigt worden. Der im italienischen Udine geborene gelernte Geigenbauer war 1947 nach Venezuela übersiedelt um da neben Reparaturarbeiten im bescheidenen Umfang auch neue Instrumente zu fertigen. Im Jahre 1963 ging Peresson nach Philadelphia zu „William Moennig and Son“, wo er die besten Streichinstrumente der Vergangenheit kennen lernen und in der Folge auch nachbauen konnte. In einer eigenen Werkstatt fertigte er von der Mitte der 1970-er bis Anfang der 1980-er Jahre Streichinstrumente, die weitgehend wie Stradivarius- oder Guarneriusprodukte klingen. Ihr kraftvoller, schöner und satter Klang verleugnet aber einen ausgeprägten Peression-Sound nicht, so dass seine Instrumente im internationalen Spitzen-Musikbetrieb durchaus ihren Platz behaupten.

    Da Bryan Cheng das für drei Jahre zugesprochene Stradivari-Cello „Bonjour“ der Stiftung zurück geben musste, stellte er im Konzert ein Violoncello aus der Werkstatt von Mira Gruszow und Gideon Baumblatt vor. Beide, sie in Belgien und er in Berlin aufgewachsen, hatten zunächst ihre Instrumentenbauer-Ausbildung in Cremona begonnen, dann aber auf unterschiedlichem Wege vervollkommnet. In ihrer Werkstatt im brandenburgischen Werder fertigt das Paar in Gemeinschaftsarbeit inzwischen auch international preisgekrönte Streichinstrumente. Dabei lassen sich beide nicht nur von Stradivaris und Guarneris Fertigkeiten inspirieren, sondern schauen auch auf Michel Angelo Bergonzi, Giovanni Battista Rogeri und Gasparo da Salò. Das von Bryan Cheng vorgestelltes Violoncello konnte mit seiner Durchschlagskraft schon begeistern.

    Das Konzert wurde von „Deutschlandfunk Kultur“ mitgeschnitten und wird am 26. September 2023 ab 20 Uhr 03 ausgestrahlt.

    Credits:

    Friedenskirche Radebeul-26. August 2023

    Eröffnungskonzert der Festivals „Albrecht Menzel und Freunde“

    Frank Bridge: Drei Idylls H 67 für Streichquartett

    Cyril Scott: Klavierquartett e-Moll Op. 16

    Edward Elgar: Klavierquintett a-Moll Op. 84

    Albrecht Menzel, Violine

    Sascha Maisky, Violine

    Natalie Loughran, Viola

    Bryan Cheng, Violoncello

    Julien Quentin, Klavier

    Künstlerische Leitung: Albrecht Menzel

    Das Gustav-Mahler-Jugendorchester mit Mahlers 9. Symphonie zum Saisonauftakt 2023/2024

    Das Gustav-Mahler-Jugendorchester ist seit Jahren für die Karriere-Entwicklung vieler junger Orchestermusiker eine wichtige Station. Wer es schafft, sich im jährlichen Auswahlverfahren gegen etwa 1500 Bewerber zu behaupten, kann sich der Aufmerksamkeit von Orchesterdirektoren mit Vakanzen sicher sein. In jedem Jahr formiert ein Spitzen-Dirigent aus den Geeignetsten der Bewerber das „Gustav-Mahler-Jugendorchester des Jahres“, studiert mit ihm ein professionelles Konzertprogramm ein und begleitet es auf einer Tournee. Dank eines Partnervertrags mit der Sächsischen Staatskapelle eröffnet seit dem Jahre 2012 wenige Tage vor dem Spielbeginn der „Dresdner“ das Mahler-Jugendorchester mit seinem Gastspiel die örtliche Konzertsaison.

    In diesem Jahr hatte der aus Tschechien stammende Dirigent Jakub Hrůša übernommen, mit den jungen Musikern in der Residenz „Teatro Verdi in Pordenone“ Gustav Mahlers letzte vollendete Symphonie Nr. 9 zu gestalten.

    Offenbar ist Hrůša das Wagnis bewusst eingegangen, mit nahezu Anfängern der Orchester-Praxis ausgerechnet jene Mahler-Symphonie einzustudieren, die selbst erfahrenen Praktikern Probleme machen kann. Bekanntlich ist die „Neunte“ ein Werk des Abschieds, mit dem Mahler fast leidenschaftslos und mit geistiger Kühle die Schönheiten seiner Komposition ausbreitete. Seine Humanistischen Anliegen hatte Mahler bereits zur Seite gelegt.

    Uns ist aber Jakub Hrůša als ein Musiker bekannt, der auch schwierige Aufgaben beherzt angeht. Er versuchte den Knoten zu lösen, indem er den ersten Satz zunächst mit ruhigem Atem begann, dann die Dynamik des jungen Orchesters plötzlich heftig aufbäumen ließ um seinen Klang umgehend zu verdüstern. Und eh man es erwartete, ließ er das Ensemble fast schmerzlich singen. Da vermied Hrůša, Stimmungen oder Zerrissenheiten zu glätten, um den jungen Musikern vom Beginn an seine Freude an Mahlers sarkastischen Kunstgriffen zu vermitteln. Er verdeutlichte die Situation seines böhmischen Landsmanns, der ausgezogen war, gegenüber der verdorbenen Welt eine symphonische Gegenwelt aufzubauen, aber seine Grenzen fand. So wie Mahler nichts schönte, so unterließ auch Hrůša das polieren.

    Die Herangehensweise von Jakub Hrůša an die nicht unproblematische Kombination des jungen Orchesters mit Mahlers „Neunter“, war vielleicht extrem und uneinheitlich, aber dennoch nachvollziehbar und sicherlich mutig. Sein Wagnis, die Grenzen der Möglichkeiten des Orchesters mit den daraus resultierenden Risiken auszuloten verdient allen Respekt.

    Die Verdeutlichung aller Phrasen, die Betonung jedes Stilelements und die Akzentuierung ihrer Kontraste, Deformationen oder Feinheiten sicherten eine denkwürdige Interpretation des Mahler-Jugendorchesters.

    Das Orchester, war wie in jedem Jahr neu besetzt. Aber wie von Jahr zu Jahr in der Dichte und Wärme seines Klangs, immer großartig, vital, dabei immer hochkonzentriert und in der Musik versunken. Wenn es ein Orchester gibt, bei dem wir zwischen so vielen Höhen und doch weniger gelungenen Tönen noch nie einen einzigen Takt gehört haben, der nach Routine riecht, dann ist es das Mahler Jugendorchester. Im dritten Satz der 9. Symphonie Mahlers, dem „Rondo Burleske“, wurden die Zuhörer in einen wahren Strudel aus Tönen und Klängen geworfen.

    Versöhnend wuchsen Hrůša und das Orchester über sich hinaus, als der Dirigent im abschließenden Adagio den Streichern regelrecht die Seele aus dem Leib zog und, eingebettet von einer sphärischen Antwort des Solohornisten, sie zu einem herzzerreißenden Abschluss formte.


    Das nicht völlig ausverkaufte Auditorium feierte die Leistung des Orchesters. Der nicht-zu-stoppende Zwischen-Satz-Beifall dürfte in der Ticket-Aktion zur Auffüllung des Parketts seine Ursache finden. Das war nicht schlimm, auch wenn das Orchester offenbar irritiert war. Aber es wäre den trotzdem Veranstaltern zu empfehlen, so wie Aufsteller an den Aufgängen zur Abgabe der Rucksäcke und Jacken an den Garderoben auffordern, den Neu-Besuchern einen diskreten Hinweis zu geben.

    Credits:

    Konzertsaal im Kulturpalast Dresden

    22. August 2023

    Gustav Mahler: Symphonie Nr. 9

    Gustav-Mahler-Jugendorchester

    Dirigent: Jakub Hrůša

    Abschlusskonzert des Moritzburg-Festivals 2023 am 20. August

    Kammermusik von Igor Strawinsky, Josef Suk und Felix Mendelssohn Bartholdy beschließt in der Kirche Moritzburg das Festival 2023

    Während sich in Europa der Erste Weltkrieg zusammenbraute, hielt sich der mit seinen Ballett-Musiken erfolgreiche, aber auch von Skandalen begleitete Igor Strawinsky (1882-1971) am Genfer See auf. Von der allgemeinen Stimmung angesteckt, schrieb er drei Klavierstücke, die er zunächst als Grotesken bezeichnete, denn für jedes Stück schwebte ihm eine absurde Situation vor. Diese Entwürfe, im Zeitraum bis 1918 für Streich-Quartett eingerichtet, stellten Chad Hoopes und Mira Wang (Violine), Ulrich Eichenauer (Viola) gemeinsam mit Andrei Ioniţă (Violoncello) zu Beginn des Festival-Abschlusskonzertes vor.

    Das Stück an den Konzertanfang zu setzen und ihm Josef Suks Opus 1 folgen zu lassen war aber ein Wagnis. Das rhythmische Vertrackte führte, zumindest mich, in eine Stimmung, die das Melodisch folgende kaum aufzunehmen vermag. Strawinsky hatte primitive Klangbilder, ein erbärmlich klingendes Geigenspiel zum Stilmittel erhoben und durch unregelmäßig überlagerte Motivwiederholungen in ein irritierendes Chaos gestürzt, dass eigentlich die Konzertpause an dieser Stelle angebracht gewesen wäre.

    Der Sohn des Krecovicer Dorfmusikers und Schulmeisters Josef Suk (1874-1935) gelangte schon im Alter von elf Jahren in das Prager Konservatorium und begann früh Kammermusik zu schreiben. Viele dieser Werke sind verschollen oder ohne Opus-Zuordnung überliefert.

    Erst das 1891 komponierte „Klavierquartett Nr. 1 a-Moll“ wurde von ihm als gelungen gefunden, dass es als Examensarbeit am Prager Konservatorium einreichte und es als Josef Suks „op. 1“ in die Musikgeschichte eingehen konnte. Das Spätromantische Werk wurde von dem Pianisten Illia Ovcharenko, dem Geiger Kai Vogler, dem Bratscher Paul Neubauer und dem Cellisten Andreas Brantelid in einer großartigen Interpretation zu Gehör gebracht. Die Musiker betonten bei ihrem Spiel das Opulente der Komposition ohne dabei zu viel Gefühl zu zulassen. Bei aller Romantik blieb die Spannung aufrecht und der Charakter der wunderbaren Aufführung geradlinig.

    Leider brauchte ich tatsächlich nahezu das „Allegro appassionato“ um mich in Suks Musik hinein zu finden. Dazu kam, dass sich eine Dame vor mir unbedingt Luft zufächeln musste, so dass die wunderbare Suk-Darbietung für mich eingeschränkt blieb.

    Eigentlich nur weil es zu einer umfassenden humanistischen Ausbildung gehörte, wurden den vier Kindern der Hamburg-Berliner Bankiersfamilie Mendelssohn Musikinstrumente gelehrt und Grundlagen der Musiktheorie beigebracht. Und da es sich Abraham Mendelssohn (1776-1835) leisten konnte, wurden dazu elitäre Musikpädagogen wie der damals bekannteste Pianist Ludwig Berger (1777-1839) engagiert. Obwohl der Bankier für seine Kinder eine bürgerliche Zukunft anstrebte, war nicht zu vermeiden, dass recht früh die besonderen musikalischen Begabungen der ältesten Tochter Fanny (1805-1847) und des ersten Sohnes Felix erkennbar wurden. Das Familienoberhaupt sah mit gerunzelter Stirn, wenn die musikalischen Talente der Kinder im gesellschaftlichen Umfeld zur Schau gebracht wurden und missbilligte eine aufstrebende Musiker-Karriere des jungen Felix. Erst die massive Intervention Luigi Cherubinis (1760-1842), als Felix anlässlich des gemeinsamen Paris-Aufenthalts dem betagten Komponisten vorgespielt hatte, ließen den Vater einlenken.

    Im Oktober 1825 komponierte der sechzehnjährige Felix Mendelssohn (1809-1847) als Huldigung für seine Musiklehrer ein „Streichoktett Es-Dur“. Wegen des 23. Geburtstags von Eduard Rietz (1802-1832) war diesem Freund und Violen-Lehrer die erste Geigenstimme zugeordnet worden.

    Das Streichoktett Es-Dur ist neben der Sommernachtstraum-Ouvertüre die erste ganz große Kompositionsleistung des jungen Genies. Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass das Werk inzwischen nahezu ausschließlich, wie auch in unserem Konzert, in einer von Felix im Jahre 1832 vorgenommenen Überarbeitung geboten wird. Dabei sei nicht unterschlagen, dass mit der Überarbeitung mancher jugendliche Schnörkel geopfert wurde.

    Der Tradition des Festivals folgend war eine für das Festival charakteristische Kombination von jüngeren und erfahreneren Musikern aus fünf Ländern mit einer noch deutlich breiteren kulturellen Herkunft auf das Podium gekommen, um das diesjährige Moritzburg-Festspiele mit einem Höhepunkt abzuschließen. Die vier Violinen wurden von Paul Huang, Stella Chen, Kai Vogler und Mira Wang gespielt. Als Bratscher war Ulrich Eichenauer aktiv, während Andreas Brantelid sowie von Andrei Ioniţă mit ihren die Violoncelli musizierten.

    Bereits mit dem wuchtigen Kopfsatz gelang es den Musikern, mit kühnen Kontrasten und markanten Akzentuierungen die Spannkraft aufzubauen. Ein betont deutliches und rhythmisch akzentuiertes Spiel kompensierte das Mendelssohn´sche Problem, dass die Themen nicht sonderlich voneinander abgesetzt wirkten und erhielten die jugendlich vordrängenden scharfen Linienprofile und plastischen Auffächerungen des Werkes.

    Paul Huang betonte mit seiner wundervollen Guarnerie del Gesu den Geist des Werkes und spielte mit jugendlicher Vitalität, musikalischer Mühelosigkeit und Leichtigkeit. Die hervorragende Kontrolle der Dynamik vereint mit der Vielfalt der Klangfarben drückte die große Leidenschaft, Kraft und Inspiration des Ensemble aus. Das lyrische Andante als auch das hauchdünne Scherzo sicherten dieses Drängen mit tief empfundenen Emotionen und viel Temperament, gleichzeitig geschliffen und ungemein präziser Transparenz bis zum Schluss.

    Für den frenetischen Beifall der Zuhörer bedankten sich die Musiker mit einer Wiederholung des Finalsatzes des Mendelssohn´schen Es-Dur –Streicher-Oktetts. Unter den stehenden Ovationen verabschiedeten sich die Musiker, Helfer und Organisatoren des erfolgreichen Festivals 2023.

    Hochemotionales Kammerkonzert mit Reinhold Glièrs "Streichsextett Nr. 3 op. 11", Bach und Schumann

    Der sich als russisch-sowjetischer Komponist bekennende Reinhold Glièr (1875-1956) entstammte einer im Vogtländischen Klingental-Untersachsenberg ansässischen Blechbläsermacher Dynastie „Glier“. Sein Vater Ernst Moritz Glier (1834-1896) war 1854 nach Russland übersiedelt und hatte mit seinem späteren Schwiegervater Vincenz Kortschak eine Musikinstrumentenfertigung betrieben. Im Jahre 1900 russifizierte die Familie ihren Namen in „Глиэр“, was bei der Transliteration ins Lateinische zu „Glière“ führte, also keinen Hinweis auf eine französische oder belgische Abkunft darstellt.

    Gegen Ende seiner musikalischen Ausbildung in Kiew, Moskau sowie in Berlin begann Reinhold mit dem Komponieren von Kammermusik und Symphonien. Seine Musik war auf Anhieb erfolgreich. Seine Virtuosität sowie die Beherrschung der Möglichkeiten der Komposition und des musikalischen Ausdrucks wurden besonders gelobt. Sein Wissen um die Potentiale der Instrumente, die Nutzung deren Resonanz sowie seine Meisterschaft der Formen führten zu erstaunlich reichhaltigen Kammermusikwerken.

    Nach den Wirrnissen der Revolution kümmerte er sich intensiv um das Volkstum der Sowjetrepubliken und sammelte russische, ukrainische, usbekische und aserbaidschanische Folklore. Dabei streifte er seine deutsche Herkunft regelrecht ab, konnte eine musikgenetische Abkunft von böhmischen Musikanten aber nie verbergen. Mit der konventionellen breit fließenden Melodik, der farbigen Harmonik und dem hellen Orchesterkolorit fand seine Musik Anklang bei der sowjetischen Kulturpolitik. Auch sei Engagement im Komponistenverband ermöglichte ihm ein ungestörtes umfangreiches Schaffen ohne Repressionen, so dass er zum „Hofkomponisten“ stilisiert wurde. Für mich zweifelhaft, ob die in seinem Werkverzeichnis mit „Jubeltiteln“ zu allen möglichen politischen Anlässen aufgeführten Kompositionen tatsächlich Auftragswerke waren, oder ob Reinhold Glière bei Bedarf lediglich in die Fülle seiner Entwürfe gegriffen hat.

    Unser „Schönewolf-Konzertbuch“ aus den 1950-er Jahren widmete Glière lediglich zwei Seiten, obwohl der russischen und sowjetischen Musik ansonsten ein breiter Raum gegeben war. Neben seiner „Ilja Muromez“- Symphonie Nr. 3 ist mir in meinem musikalischen Gedächtnis lediglich seine Konzertouvertüre „Freundschaft der Völker op. 79“ aus dem Jahre 1941 in Erinnerung, die damals allerdings bei Estradenkonzerten hoch und runter gespielt worden war. Als ich bei YouTube nach Einspielungen von Glière-Musik suchte, gab es zunächst nur wenige Angebote. Aber auf meine Hartnäckigkeit purzelten derartig viele Einspielungen, dass ich an meinem Überblick der gegenwärtigen Musikwelt zu zweifeln begann.

    Gliéres „Streichsextett Nr. 3 op. 11“ komponierte er im Jahre 1905, als seine Musik auch bereits in Deutschland erfolgreich konzertiert wurde. Sechs international erfolgreiche Musiker hatten sich am 15. August 2023 mit ihren wunderbaren Instrumenten für ein Konzert in der Kirche Moritzburg zum Spiel des Streichsextetts zusammengefunden.

    Aus den Vereinigten Staaten war der Geiger Paul Huang mit jener Violine des Jahres 1742 aus der Werkstatt des Giuseppe Guarneri del Gesú (1698-1744) gekommen, die in früheren Jahren der Virtuose Henryk Wieniawski gespielt hatte. Ihm zur Seite stand als zweiter Violinist der US-Amerikaner Kevin Zhu, der die Violine aus der Stradivariwerkstatt des Jahres 1722 „Ex-Lord Wandsworth“spielte, die Nathan Melzer nutzte, bis er das Instrument gegen die 35-Jahre verschwundene legendäre „Ex-Ames/Totenberg“-Stradivari aus dem Jahre 1734 tauschte. Die Viola-Partien wurden von Ulrich Eichenauer, der in Dresden als Solo-Bratscher der Philharmonie tätig war, und von Matthew Lipmann gespielt, wobei der US-Amerikaner eine Bratsche aus der Venezianischen Werkstatt des Matteo Goffriller (1659-1742) von 1700 zum Einsatz brachte. Der aus Rumänien stammende Cellist Andrei Ioniţă ist uns als der Preisträger des Tschaikowski-Wettbewerbs 2015 seit dem Kissinger Sommer 2016 und seiner Intendanz der Schwarzenberger Alpenarte auch persönlich bekannt. Mit seinem Violoncello des Jahres 1671 aus der Brescienser Werkstatt von Giovanni Battista Rogeri (um 1642-1710) ist Andrei weltweit als Solist unterwegs. Die aus Norwegen stammende Sandra Lied Haga komplettierte mit ihrem Cello aus der Werkstatt des Joannes Florenus Guidantus (1687-1760) aus dem Jahre 1730 das Sextett.

    Die Musiker verstanden es, Glières Fülle kraftvoller musikalischer Ideen auf das Eindrucksvollste darzubieten. so dass die Intensität der Interpretation der sechs Virtuosen nahezu Orchestercharakter erreichte. Die lockeren Themen des eröffnenden Allegro schöpften mit ihren reichen Klangfarben aus der russischen Volksmusik. Mit dem lyrisch-elegischem Larghetto erreichten die Streicher mit ihrem hochemotionalen Spiel einem der menschlichen Stimme nahekommenden Duktus. Mit dem anschließenden Allegro-Intermezzo überschütteten uns die glänzend aufgelegten Musiker mit einer unverkennbar russischen Flut von Melodien, die dann in einer beeindruckenden Steigerungswelle vom Allegro vivace zum Abschluss gebracht wurden.

    Mit frenetischem Beifall dankten die Zuhörer für die packende Darbietung des für die meisten Anwesenden kaum bekannten Werkes.

    Das Sextett Glièrs war, stilistisch nicht besonders passend, von „Präludien und Fugen“ aus Johann Sebastian Bachs (1685-1750) „Das wohltemperierte Klavier“ eingeleitet worden. Möglicherweise Gelegenheits- und Übungskompositionen, hatte Bach im Jahre 1722 Präludien und Fugen in allen 24 Dur- und Moll-Tonarten „ zum Nutzen der lernwilligen musikalischen Jugend und insbesondere zum Zeitvertreib derjenigen, die bereits in der Studie erfahren sind“ „für Solo-Clavier“ zusammengestellt. Bach bündelte unter dem Clavier-Begriff unterschiedlich entwickelte Tasteninstrumente, ohne dabei die Orgel auszuschließen. Dem folgte zwanzig Jahre später ein „Zweyter Teil“.

    Kevi Zhu, Ulrich Eichenauer brachte mit dem dänisch-schwedischen Cellisten Andreas Brantelid die „Präludien mit Fuge „ BWV 854 E-Dur; BWV 873 C-Moll und BWV 881 f-Moll in Bearbeitungen für Streicher zu Gehör. Brantelids Instrument, 1707 bei Stradivari gefertigt, hat wahrscheinlich dem Komponisten Gaetano Boni (1686-1741) gehört, bis es zum Cellisten Friedrich Hegar (1841-1927) gelangt war.

    Die Musik Robert Schumanns im dritten Konzert-Teil war uns schon ob seiner Verbindung zu Leipzig und Dresden näher, und auch geläufiger.

    Schumann (1810-1856) beschäftigte sich erst mit 32 Jahren ernsthaft mit der Komposition von Kammermusik. Ursprünglich komponierte er fast ausschließlich für das Klavier, wandte sich dann der Vertonung zahlreicher Dichtungen zu und schrieb 138 Lieder, um 1841 seine erste B-Dur Symphonie fertigzustellen. Im folgenden Jahr begann seine intensive Beschäftigung mit der Kammermusik. Entsprechend seinem Naturell entstanden innerhalb kurzer Zeit drei Streichquartette op. 41, im Spätsommer das Klavierquartett op. 47 und „unser“ Klavierquintett op. 44. Dabei immer von der ängstlichen Erwartung begleitet, ob seine Arbeiten einem Vergleich mit Mendelssohns oder gar Beethovens Kompositionen standhalten könnten. Ob er überhaupt sein Potential als Erneuerer erkannte, können wir lediglich aus Äußerungen seiner Frau Clara vermuten.

    Schumanns nervöse Unruhe, sein Drängen war mit einer beklemmenden Intensität bei der Darbietung im Moritzburger Konzert durchaus zu spüren. Der für Schumann so kennzeichnende Kontrast zwischen opulentem Ausdehnen und Melancholie auf der einen und schroffer Melodik auf der anderen Seite war einfach nicht zu unterdrücken. Das reizten die Musiker auch stilsicher aus. Sie strichen die Melodien ganz dicht und füllten die Räume zwischen den Tönen mit ihren frischen Klängen. Die Akzente in den raschen Sätzen waren auffallend spitz und geschärft gespielt. Die gelegentlich aufblitzende Volkstümlichkeit in der Komposition nahm der Darbietung ein wenig die Steifheit.

    Das Quartett und sein Pianist, der 1979 in Helsinki geborene Antti Aleksi Siirala, hatten es gerade darauf abgesehen, dass man sich mit dem Stück auseinandersetzte und verleiteten zum Mitdenken und Nachhören.

    Jeder der Streicher vermag mit seinem Instrument seinen Beitrag zur Gesamtwirkung beizutragen. Den ersten Violinpart spielte der aus Florida stammende hochtalentierte Chad Hoopes auf einer Replik-Geige von Samuel Zygmuntowicz. Der New Yorker Geigenbauer hatte das Instrument, für die Sammlung des Isaak Stern (1920-2001) wahrscheinlich nach der berühmten Guarneri „Ex Ysaÿe (Cozio 40064)“ aus dem Jahre 1740 angefertigt. Chad Hoopes ist zur Meinung gelangt, dass dieser Nachbau seinen Anforderungen näher kommt, als jede ihm verfügbare „alte Italienerin“. Den zweiten Violinenpart spielte die amerikanische Geigerin Stella Chen, der als ersten Preisträgerin des Königin-Elisabeth-Wettbewerbs 2019 jene Stradivarius aus dem Jahre 1708 zur Verfügung gestellt worden ist, die in den 1880-er Jahren von dem britischen Astronomen Sir William Huggins etwa 30 Jahre in einem Tressor aufbewahrt worden war und danach, nahezu unspielbar, erst wieder zum Klangleben erweckt werden musste. Der Senior des Quintetts war der häufig als “Meistermusiker“ bezeichnete 1962 in Los Angeles geborene Bratscher Paul Neubauer, der auch über eine ausgeprägte solistische Tätigkeit verfügte.

    Der 23-jährige in Amerika in einer bulgarisch-chinesischen Familie aufgewachsene Zlatomir Fung spielte ein Violoncello aus dem Jahre 1717 aus der Werkstatt des Begründers der römischen Geigenbauer-Tradition David Tecchler ( um 1666-etwa 1747). Fung war der jüngste Gewinner des Tschaikowski-Wettbewerbs für Cellisten gewesen.

    Das Zusammenspiel der fünf Musiker war vorbildlich. Da war jede uns bekannte Note beachtet und nichts verschleppt worden. Ihr Spiel war dynamisch aber nicht gewaltig und man hörte, was man hören sollte Nichts drängt zu symphonischer Dichte, alles blieb filigran kammermusikalisch. Chancen für großes Solo gab es nicht. Schumanns spätere Verachtung des Virtuosentums schimmert bereits durch. Die Interpretation fesselte, sie hatte Seele, Herz und Biss, vor allem das richtige Temperament.


    Die Häufung ausgezeichneter Streichinstrumente, die wir im Konzert hören durften, hatte in mir den Wunsch geweckt, derartige Ergebnisse der Instrumentenmacher-Handwerkskunst auch einmal in ihrer Individualität hören zu können:

    Im Jahre 1963 hatte der italienisch-amerikanische Geiger Ruggerie Ricci (1918-2012) in einer LP-Einspielung „The Glory of Cremona“ 15 Violinen aus den Cremonaer Werkstätten von Andrea Amati (um 1505-1577), Gasparo da Salo (1540-1609), Nicola Amati (1596-1684), Antonio Stradivari (1648-1737), Carlo Bergonzi (1683-1747) und Guiseppe Guarneri del Gesù (1698-1744) mit Tonbeispielen, die er für die jeweiligen Instrumente für besonders geeignet hielt, vereinigt. Diese Besonderheit ergänzte Rucci mit kurzen Solo-Anspielungen des 1. Violinkonzertes von Max Bruch.

    So etwas im kleinen Umfang wäre doch eine Besonderheit für die Moritzburger Musikfestspiele.


    Wegen einer Unwetterwarnung war das Konzert von der Nordterrasse des Schlosses in die aber durchaus den akustischen Anforderungen entsprechende Moritzburger Kirche verlegt worden.

    Christian Thielemann erprobt den Kissinger Max-Littmann-Saal

    Bruckners 5. Symphonie beim Gastspiel des Symphonieorchesters des Bay­erischen Rundfunks


    Im November des Jahres 1875 ernannte die Wiener Universität den Komponis­ten Anton Bruckner (1824-1896) zum Lektor für Harmonielehre und Kontrapunkt. Mit seiner fünften Symphonie wollte Bruckner, wie in einem Lehrbuch, jenes zusammenfassen, was er seinen Studenten vermitteln möchte und schuf so sein kontrapunktisches Meisterwerk.

    Um die Fülle der in der Symphonie verpackten Klangkombinationen wirksam zum Hörenden zu bringen, bedarf es drei Voraussetzungen: ein qualifiziertes Orchester, einen Perfektionisten, der das Orchester zur Erzeugung der Töne in richtigem Zeitmaß und notwendiger Intensität anregt sowie einen Klangraum, in dem sich die Tonkombinationen auch diszipliniert bis zum Ohr des Besuchers bewegen.

    Mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, dem Dirigenten Christian Thielemann und vor allem mit dem Max-Littmann-Saal waren alle diese Bedingungen am 9. Juli 2023 beim Konzert des Kissinger Sommers auf das Vollkommenste erfüllt.

    Bereits bei unserem ersten Besuch des Festivals „Kissinger Sommer“ im Jahre 1996 hatte uns der Saal im Regentbau fasziniert. Die Kirschbaumholzvertäfelung mit den Ebenholzintarsien der 36 Meter langen Seitenwände und die -Kassettenabdeckung des 16 Meter hohen Raumes vermittelten bereits beim Betreten ein Gefühl der Beherbergung. Da uns auch die Klangentwicklung im „Schuhkarton“ mit seinen 660 Parkett- und 500 Balkonplätzen auf Anhieb überzeugte, sind wir seit dieser Zeit ständige Gäste der Festspiele gewesen. Bei der Vielzahl unserer Konzertbesuche war auch aufgefallen, wie „demokratisch“ sich die Akustik gegenüber Besuchern der unterschiedlichsten Platzbereiche zeigte.

    Die Pläne für den im Zeitraum von 1910 bis 1913 errichteten Regentbau, in dem sich der Konzertsaal befindet, stammen von dem in Chemnitz geborenen und in Dresden ausgebildeten Architekten Max Littmann (1862-1931).

    Littmann hatte, nachdem er mit Wohnhaus- und Gewerbebauten, unter anderem mit dem Münchner Hofbrauhaus am Platzl, Erfahrungen sammelte, sich weitgehend mit einer Revolutionierung des deutschen Theaterbaus beschäftigt. Mit dem Bau des Münchner Prinzregenten-Theaters schuf er 1900 bis 1901 einen regelrechten Affront zum Bayreuther Festspielhaus. In Kissingen wurde nach seinen Plänen 1904 bis 1905 das Kurtheater errichtet.


    Nun haben wir als Dresdner intensiv und aufmerksam alle Konzerte des Maestros in der Stadt und zum Teil in Salzburg besucht und glauben eine gewisse Fähigkeit entwickelt zu haben, zu erkennen, wann und wie Christian Thielemann seine Pausen setzt. Wir lieben seine Tempo- und Dynamikgestaltung, sowie seine weichen Übergänge. Wie er die Partitur seziert und die Segmente meisterhaft wieder zusammenfügt, durften wir bereits oft erleben. So konzentrierten wir uns auf die Interpretation der Bruckner-Symphonie mit einem uns unbekannten Orchester und auf den Umgang des Maestros mit dem tollen Konzertraum.


    Wir konnten genießen, wie die Klangphysik des Max-Littmann-Saales mit der Unmenge unterschiedlichster Tonsequenzen Bruckners umgeht und wie sauber die Töne beim Hörer ankommen.

    Da war bereits im Kopfsatz beim Buchstabieren von Einzelnoten die messerscharfe Trennung der Einzeltöne zu konstatieren. Die Pianissimo schienen sich, wie an Ketten gezogen durch den Raum zu bewegen, um unbeschadet von Brechungen ihr Ziel zu erreichen. Der Flötenklang schwebte schwerelos durch den Raum und das sanfte Zupfen der Celli war differenziert bis ins Kleinste. Die schrillen Blechsequenzen hingegen wurden bei aller Lautheit von den Brechungen der Kassettendecke auf das Angenehmste ab gedröhnt, ohne ihre Konturen zu verlieren. Selbst wenn im Scherzo sich die Klänge regelrecht überstürzten, hielt der Saal das Klangbild transparent und bis in das feinste Detail erkennbar.

    Der detailversessene Bruckner hatte tatsächlich für jede Instrumentengruppe Motive unterschiedlichster Dynamik und Tempi in die Symphonie eingebaut, die vom Littmann-Saal ohne Ausnahme sauber „verarbeitet“ wurden.

    Die Darbietung der fünften Symphonie Anton Bruckners durch das Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks mit dem Dirigat Christian Thielemanns ermöglichte uns, den außergewöhnlichen Umgang des Max-Littmann-Saales mit den letztlich aus Luftbewegungen resultierenden Klängen auf das Eindrucksvollste auszukosten.

    Leider gelang es dem Dirigenten trotz Verharren in einer nicht zu übersehenden Schluss-Pose den sofort ausbrechenden Beifallsorkan pausieren zu lassen. Dafür erlebten wir in Bad Kissingen wieder einmal stehende Ovationen.

    Bleibt für uns der Wunsch, dass Christian Thielemann im Littmann-Saal ein Bruckner-Konzert mit der Sächsischen Staatskapelle und deren weicheren Dresdner Klang zelebrieren möge, kommen doch die Münchner bei aller Qualität etwas bestimmter und härter daher.


    Sämtliche von uns besuchte Konzerte waren bis auf einige Randplätze ausverkauft, so dass das Festival im Mittel von Konzerten, Kammermusikveranstaltungen und einigen experimentalen Untewrnehmungen eine Gesamtauslastung von etwas über 80 Prozent verzeichnen konnte.

    Tschechische Philharmonie beim Kissinger Sommer 2023

    Petr Altrichter dirigiert und Bertrand Chamayou spielt Dvořák und Mendelssohn


    Die beiden Konzerte der Tschechischen Philharmonie hatten wir gebucht, um uns eine Wiederbegegnung des langjährigen Chefdirigenten der Dresdner Semperoper Semyon Bychkov zu ermöglichen. Wegen eines Unfalls Bychkovs übernahm aber der langjährige Gastdirigent des Klangkörpers Petr Altrichter die Leitung der Konzerte.


    Die Tschechische Philharmonie gehört zu den Gastorchestern der „ersten Stunden“ des Kissinger Sommers und erfreut sich beim Stammpublikum größter Beliebtheit. Auch im Festivalprogramm des Jahres 2023 waren am 7. und 8. Juli je ein Konzert vorgesehen.

    Im Mittelpunkt des ersten Abends stand Antonin Dvořáks (1841-1904) selten aufgeführtes „Konzert für Klavier und Orchester g-Moll op. 43“ mit dem Französischen Pianisten Bertrand Chamayou.

    Wann Dvořák die Anregung des Pianisten Karel von Slavkovsky (1846-1919), ein tschechisches Klavierkonzert zu komponieren, aufnahm und die ersten Skizzen aufzeichnete, ist nicht bekannt. Den Angaben in Dvořáks handschriftlicher Partitur nach, stellte er die drei Sätze im knappen Zeitraum von zwei Monaten im späten Sommer des Jahres 1876 fertig. Seine handschriftlichen Eintragungen mit Korrekturen sowie Änderungen in der ursprünglichen Niederschrift, zum Teil mit Überklebungen, reichen aber über sieben Jahre und zeugen von mässiger Zufriedenheit mit der Arbeit. In den beiden ersten Sätzen reflektieren sich noch die Einflüsse der deutschen Romantiker. während im Finalsatz Allegro con fuoco das Streben Dvořáks nach Weltläufigkeit zu erkennen ist. Trotz seiner einzigartigen musikalischen Qualitäten kann das Werk nicht verleugnen, dass der Komponist selbst kein Pianist war, so dass virtuose Anforderungen an den Solisten weitgehend fehlen, das Symphonische betont ist und die Unterhaltung zwischen Klavier und Orchester unterbleibt.

    Der 1981 in Toulouse geborene Bertrand Chamayou ist für seine Neugier auf Werke bekannt, die jenseits des Repertoire-Mainstreams liegen. Auch verfügt er über die zielgenaue Intelligenz, die zugleich die Komplexität schwieriger Werke erfasst, so dass er sich dem Dvořák-Klavierkonzert widmen konnte, ohne im Orchesterrausch unterzugehen. Er betonte deshalb die eher kleine Kadenz des Kopfsatzes mit seiner Perfektion, seinem klanglichen sowie formalen Balancegefühl, baute sie aus und entzog dem Orchesterspiel regelrecht Farbe. Petr Altrichter ist es zu danken, dass er auch in der Folge auf die Ambitionen des Solisten einging und ihm dort Raum gab, wo der Komponist einen Spalt gelassen hatte.

    Mit einer Liszt-Zugabe konnte Bertrand Chamayou seine mühelose Virtuosität des Spitzen-Pianisten demonstrieren und auch den letzten Zweifler von seinem Können überzeugen.

    Das Klavierkonzert war von Felix Mendelssohn Bartholdys (1809-1847) „Symphonie Nr. 4 A-Dur op. 90“, die italienische, und Guiseppe Verdis (1813-1901) Ouvertüre zur Oper „La forza del destino“ umrahmt.

    Das zweite Konzert der Tschechische Philharmonie am 8. Juli gehörte ausschließlich den Werken Antonin Dvořáks, einer der Kernkompetenzen des Orchesters. Bereits mit dem ersten Programm-Teil, den Konzertouvertüren „In der Natur“, „Othello“ und „Karneval“ demonstrierte das Orchester seine Spitzenklasse.

    Im zweiten Konzertteil hatte Semyon Bychkov Dvořáks böhmischste „Symphonie Nr. 7 d-Moll op. 70“ ins Programm gesetzt. Diese prachtvolle Verquickung von Volksmusik seiner Heimat als Ausdruck des Wunsches nach einem Nationalstaat und der Bestrebungen des Komponisten zu internationaler Wirkung wurde vom Orchester publikumswirksam umgesetzt.

    Die präzise Orchesterführung durch Petr Altrichter und seine deutliche Ansprache an die Musiker sicherten glanzvolle Dynamik und Modulationen. Die Vielfalt der Emotionen und Charaktere, der Wechsel dunkler Passagen mit versöhnenden oder auch gemütlichen Stellen, waren beeindruckend herausgearbeitet. Schattierungen und Phrasen hat man selten mit der Klarheit des Petr Altrichter gehört. Beim poco Adagio gelangen mit der Gestaltung der Übergänge besondere Klangeindrücke. Das Scherzo und das Finale wurden mit einer ausgewogenen Orchesterführung absolviert.

    Der körperbetonter Dirigierstil mit den weitgreifenden Armbewegungen des böhmischen Ur-Musikanten Petr Altrichter wird zwar oft belächelt, wurde aber offenbar von den Musikern verstanden und begeistert umgesetzt.

    Mit einer Slawischen-Tanz-Zugabe beendeten Dirigent und Orchester ihren mit reichlich Beifall bedachten schönen Konzerterfolg.

    Seit wir uns im Jahre 1996 im Förderverein des Festivals "Kissinger Sommer" beteiligt hatten, besuchen wir, wenn irgend möglich, zumindest einige Veranstaltungen der jährlichen Veranstaltungsreihe.

    So waren wir in diesem Jahr vom 6. bis zum 11. Juli in der Kurstadt, um Konzerte im für uns besten Konzertsaal Deutschlands zu geniessen:


    Bad Kissingen Konzert: Grigory Sokolov spielt Purcell und Mozart

    Max-Littmann-Saal im Regentbau Bad Kissingen

    6. Juli 2023

    Henry Purcell: Neun ausgewählte Klavierstücke

    Wolfgang Amadeus Mozart: Sonate Nr. 13 B-Dur KV 333

    Adagio h.Moll KV 540


    Seit vielen Jahren ist der 1950 in Leningrad geborene Grigory Sokolov einer der erfolgreichsten Gäste beim „Kissinger Sommer“. Nach meiner Erinnerung war er der erste Solo-Musiker, der den Sprung aus dem kleineren Rossini-Saal auf die Bühne des Max-Littmann-Saales schaffte und auch im großen Raum ständig für ausverkaufte Konzerte sorgt. Zum „Kissinger Sommer 2023“ hatte Sokolov ein Programm mit Kompositionen von Henry Purcell (1659-1695) und Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) mitgebracht.

    Von Purcells Kompositionen haben vor allem seine geistlichen Werke die Zeiten überdauert. Für seine Schüler hat der Klavierlehrer eine Vielzahl von Übungsstücken und für seine Mitmenschen eine Unmenge von Gebrauchsmusik komponiert. Er experimentierte mit Folklore, Tänzerischem, Suiten und Kreiselbewegungen. Die meisten wurden erst nach Purcell Versterben erschlossen und von der Witwe Purcells als Übungsbuch veröffentlicht.

    Es brauchte eine gehörige Portion Selbstbewusstsein und man musste sich seines Publikums sicher sein, aus diesem Kosmos neun Stücke herauszugreifen und damit den ersten Teil eines Klavier-Soloabends zu gestalten. Es waren keine Stücke: Suiten, burleske Piecen, eine Chaconne. Das meiste waren Übungsstücke, die Purcell für seine Schüler vorbereitete oder Variationen von Themen, Tänze, die er in entspannter Laune komponierte. Nur ein großer Pianist kann es sich leisten, zu einem Klavierabend mit diesem Programm anzutreten und nur einem besonderen Meister konnte es gelingen, ein Publikum mit diesem Programm zu begeistern. Das Wunder des Kontrapunkts wurde von Sokolov geruhsam probiert und gefeiert. Wie der Pianist die triller- und verzierungsreichen rhythmisch charaktervollen und kraftvoll melodischen Suiten und Einzelstücke Purcells vortrug, war schon bezwingend. Die englische Barockmusik wurde allein durch die einzigartige Weise seines Spiels zum Ereignis.

    Dazu kam dieser unfassbare leichte, dabei glasklare Anschlag des gewichtigen Menschen. Viele Pianisten der Welt beneiden ihn um die Perfektion seiner Verzierungen, das Prickelnde und der Zerbrechlichkeit seines Spiels.

    Man blieb vom ersten bis zum letzten Ton gefesselt.

    Nach der Pause spielte Sokolov Mozarts Sonate Nr. 13 B-Dur KV 333 und das Adagio h-Moll KV 540 weicher und eloquenter. Die Welt hatte sich auch kompositorisch zwischen den beiden Genie-Komponisten verändert.

    Beklemmend war Sokolovs Mozart-Spiel, wenn er im Kopfsatz der B-Dur- Klaviersonate das Tempo dimmte und jede Note regelrecht buchstabierte, obwohl er ansonsten jedem Gedanken seine Zeit gab und die Musik atmen ließ. Besonders das Andante cantabile der „Sonate Nr. 13 KV 333 in B-Dur“ gelang denkwürdig. Eine beklemmende Stellungnahme zur Zeit war offenbar die Wahl, mit der weit in die Romantik vorgreifenden Todesbetrachtung des h-Moll-Adagios KV 540 das Programm zu schließen. Die Abgründe des Mozartischen h-Moll Adagios vermag wohl keiner so bedingungslos zu ergründen, wie Sokolov.

    Von seiner Person macht Grigory Sokolov wahrlich wenig von sich her. Es erklimmt der Pianist die Bühne des Kissinger Max-Littmann-Saales, verbeugt sich kurz, nimmt Platz und spielt fünfzig Minuten.

    Ein Bann scheint über dem Publikum zu liegen, denn dem Solisten umweht die Aura geheimnisvollen Wissens um die Musik, der er näher scheint als allen anderen im Saal. Sein Streben nach Vollkommenheit lässt ihn in seinen Konzerten auf die Begleitung seines Spieles durch ein Orchester verzichten.


    Für die heftigen Ovationen seines Kissinger Stammpublikums dankte Grigory Sokolov mit sieben Zugaben. Erbarmungslos ließen die begeisterten Besucher den zunehmend erschöpften Meister immer wieder die Stiege zum Podest des Littmann-Saales hochklettern, bis sich ein Techniker seiner erbarmte und das Licht nicht wieder dimmte.

    Marek Janowski verabschiedet sich von der Dresdner Philharmonie

    Der 1939 in Warschau geborene Marek Janowski war 2001 mit dem Versprechen nach Dresden gelockt worden, dass es zeitnah einen Konzertsaalneubau geben werde. Als sich die Neubaupläne zerschlugen, verließ er 2003 ziemlich verärgert die Dresdner Philharmoniker, weil er die Nutzung des Mehrzweckraumes des Kulturpalastes für unzumutbar erachtete. Dabei verband ihn mit der Stadt einer seiner großen Erfolge, als der am Anfang seines vierten Lebensjahrzehnt Stehende von 1980 bis 1983 mit der Sächsischen Staatskapelle und einem hochkarätigen Solistenensemble den „Ring des Nibelungen“ im Studio Lukaskirche Dresden als Co-Produktion des VEB Deutsche Schallplatten mit Ariola-Euro Disk erstmals digital einspielte.

    Nachdem statt des Neubaus im zwischenzeitlich ausgekernten denkmalgeschütztem Kulturpalast 2017 ein akustisch gelungener Konzertsaal eingebaut worden war, kam Janowski 2019 als Chefdirigent zur Dresdner Philharmonie zurück. Da Janowski Kontraste liebt, wählte er für sein neuerliches Abschiedskonzert neben Anton Bruckners (1824-181896) fünfter Symphonie B-Dur Benjamin Brittens „Les illuminations“ für hohe Stimme und Streicher.

    Benjamin Britten (1913-1976) war 25 Jahre alt, als er 1939 zehn Prosagedichte aus der epochalen Sammlung Arthur Rimbauds (1854-1891) zur Vertonung auswählte. Sowohl Britten als auch Rimbaud waren zur Zeit der Entstehung sowohl der Gedichte als auch der Kompositionen etwa gleich alt und beide verband ihre prekäre Lebensform. Dazwischen lagen aber über sechzig Jahre gesellschaftlicher Fehlentwicklung. Die Texte sind inhaltlich kaum miteinander verbunden und stellen klangsinnliche Wortmalereien in den Vordergrund. Das Rätsel der Hintergründe der visionär-kryptischen Prosagedichte konnte bisher nicht aufgelöst werden, was ihrer Faszination aber keinen Abbruch verschafft. Brittens Kompositionen sind wie Rimbauds Lyrik von mystischen und surrealen Aspekten geprägt, die mit ihrer rauen Musik die traditionellen Schönheitsvorstellungen aufbrechen sollen. So wurden in der einleitenden Fanfare Streichinstrumente mit gebrochenen Akkordfolgen maskiert, so dass sie sich wie Blechblasinstrumente anhören sollen.

    Die Sopranistin Mirjam Mesak bewies, dass die Moderne durchaus zu ihren Stärken gehört. So kompliziert eine Musik sein mag, sie gestaltete mit ihrer Begeisterung und den mit Unterstatement gebotenen Darbietungen ein faszinierendes Hörerlebnis. Ihr gelang es, unterschiedliche Stimmungen auszuleuchten und eine große Bandbreite an Schattierungen und Farben erklingen zu lassen. Mit Sensibilität und unangestrengter Intensität stellte sie den Kernsatz Rimbauds „Ich allein habe den Schlüssel zu diesem Possenspiel“ in den Mittelpunkt ihrer Darbietung. Mit strahlender Höhe wird ein Stadtleben beschrieben, dramatisch die aufgewühlte See artikuliert und mit lyrischen Tönen der mit Blumen bekränzte Pan gewürdigt. Marek Janowski legte einen dünnen und herben Streicherklang unter die Stimme der estnischen Sopranistin, so dass die sinnliche Schönheit der Komposition unterstrichen wurde.


    Anton Bruckner (1824-1896) war im November 1875 zum Lektor für Harmonielehre und Kontrapunkt an der Wiener Universität ernannt worden. Mit seiner fünften Symphonie wollte er sein „kontrapunktisches Meisterwerk“ schaffen. Aber, abgesehen dass ihm das bis zum Mai 1876 komponierte Werk endgültig die Feindschaft Eduard Hanslicks (1825-1904) sicherte, war jene seiner Symphonien entstanden, die sich die umfangreichsten Eingriffe hat gefallen lassen müssen. Wegen der Länge und der Schwierigkeiten der Partitur stand eine Aufführung lange in Frage, bis Bruckners Freund, der Komponist Josef Schalk (1857-1900), die Symphonie 1877 mit einer Umarbeitung einem breiteren Publikum schmackhaft gemacht zu haben glaubte. Aber bis 1887 hat auch Schalk an seiner Bearbeitung gewerkelt. Bruckner ließ ihn gewähren und hat selbst die Tondichtung nur einmal in einer Fassung für zwei Klaviere gehört. Zögerlich gab ein schwerkranker Anton Bruckner seine Zustimmung zu einer Uraufführung der inzwischen gültigen Fassung im April 1894.

    Marek Janowski brachte mit der Dresdner Philharmonie eine Interpretation der kraftvollen Musik zu Gehör, mit der sich Bruckner „der Schwäche der gegenwärtigen Weltlage“ seiner Zeit entgegengestellt hatte. Mit einer Verbindung aus gestalterischer Kraft und Freude am Musizieren konnte Janowski jene Motive hervorheben, die uns Bruckners Intensionen heute so besonders wertvoll und bedeutsam machen. Das Hauptmotiv des Kopfsatzes ließ er in Balance und Klarheit in der Schwebe, bis dem Thema nach gefühlten vierzehn Minuten die Festigkeit zugewachsen war und der Kulminationspunkt erreicht werden konnte. Im Adagio war der lange Atem zu bewundern, wie Janowski das Orchester die schier unerschöpfliche Melodie des zweiten Themas mit langsamem Schreiten auskosten ließ. Die vertrackten rhythmischen Motive des Scherzos ließ Janowski die Orchestergruppen regelrecht aufeinander hetzen und trieb sie, ihre hohe Virtuosität auszuspielen. Im Finalsatz konnte Janowski mit einem edlen Orchesterklang die Vereinigung der drei Themen zu einer eindrucksvollen Verdichtung führen. Dank seiner Vertrautheit mit dem Orchester genügten kleine Bewegungen des Dirigenten, um im Choral des Finales die prachtvollen Basstöne hervortreten zu lassen und damit sein Engagement in der Stadt zu krönen.

    Stehende Ovationen dankten dem Maestro für den Konzertabend und vor allem für seine Leistungen in der Stadt.

    Konzert im Kulturpalast Dresden

    2. Juli 2023

    Abschiedskonzert Marek Janowski

    -Benjamin Britten: „Les illuminations“ für hohe Stimme und Streicher (1939)

    -Anton Bruckner: Symphonie Nr. 5 B-Dur (1873-1878)

    Dirigent: Marek Janowski

    Solistin: Mirjam Mesak Sopran

    Dresdner Philharmonie

    "Pique Dame"- Tschaikowskis Oper als letzte Premiere der Semperoper der Saison 2022/23

    Die Erzählung „Pique Dame“ gehört nicht zu den beeindruckenden Werken Alexander Puschkins (1799-1837), ist aber wegen ihrer skurrilen Quellenlage mit der Bezugnahme auf eine zur Entstehungszeit der Erzählung noch lebende Person interessant: die Prinzessin Natalja Petrowna Golitsyna (1741-1838) war eine der Trauzeuginnen der Katharina der Großen (1729-1796), erfolgreiche Gutsverwalterin, Botschafterin und vor allem Hofdame. Einem Großneffen, der viel Geld beim Spiel verloren hatte, habe sie das Geheimnis der drei Zauberkarten verraten, so dass dieser tatsächlich sein Vermögen wieder gewann. Böse Zungen behaupteten, sie habe das Geheimnis der „drei-Gewinnkarten“ als Gegenleistung einer Liebesnacht vom Grafen von St. Germain erhalten. Ein Mitglied der Familie Golitsyn habe die Geschichte 1833 Puschkin erzählt, der die Story der Golitsyna mit Elementen des Lebens der Großtante seiner Frau Natalja verquickte. Am Petersburger Hof fielen die Ähnlichkeiten trotzdem auf, was der 93-Jährigen den Spitznamen „Pik-Königin“ einbrachte und die alte Dame höchst amüsiert haben soll.


    Im Jahre 1885 erhielt der Dramatiker Modest Tschaikowski (1850-1916) vom kaiserlichen Theater von Sankt Petersburg den Auftrag, nach Puschkins Erzählung das Libretto für eine Oper des künftigen Dirigenten des staatlichen Akademieorchesters Nikolai Klenowski (1857-1915) zu schreiben. Modest verschob die Zeitlinien und nahm wesentliche Änderungen der Personen vor, gestaltete aus der Erzählung Puschkins, die voller selbstzerstörerischer Zwangshandlungen war, eine melodramatische Operntragödie. Wegen dieser eklatanten Abweichungen von der literarischen Vorlage gab es Streit zwischen dem Librettisten und dem Komponisten. Klenowski gab den Opern-Auftrag zurück. Auch der Musikpädagoge Nikolai Solowjow (1846-1916) lehnte eine Vertonung ab, so dass der Text zunächst unverarbeitet blieb. Bis 1890 der Bruder des Librettisten Peter Tschaikowski im Manuskript große Vorzüge zu entdecken glaubte und sich sofort an die Arbeit machte. Er glättete Textstellen, schuf ergänzende Segmente und änderte zwecks Erhöhung der Bühnenwirksamkeit den dramaturgischen Aufbau. Innerhalb vierundvierzig Tagen hatte Peter Tschaikowski den Entwurf der gesamten Oper geschaffen. Zügig erfolgte die Instrumentierung, so dass bereits am 19. Dezember 1890 im Mariinski-Theater die Uraufführung erfolgen konnte.


    Der bürgerliche Offizier Hermann ist nicht wohlhabend genug, um die adlige Lisa aus einer Verlobung mit dem Fürsten Jelezkij „herauszukaufen“. Nacht für Nacht versucht er dem Geheimnis des Erfolgs beim Kartenspiels „Pharo“ auf die Spur zu kommen. Als ihm sein Offiziersfreund Tomskij die Geschichte der „Moskauer Venus“ und deren Wissen um die Erfolgskombination erzählte, begann er zu handeln. Statt Lisa zu entführen, bedrängte er die inzwischen neunzigjährige Gräfin derart robust, dass sie stirbt. In einer traumatischen Vision verrät ihm die Verblichene die Gewinnkarten-Kombination „Drei, Sieben, As“. Mit den zwei ersten Karten gewinnt Hermann tatsächlich eine beträchtliche Summe, die er mit dem dritten Spiel ausgerechnet von seinem Rivalen Jelezkij vervielfachen möchte. Als die Karten aufgedeckt wurden, erschien beim Pharo-Spiel auf mysteriöse Weise statt des „As“ die Karte „Pique Dame“.

    Diesen überschaubaren Handlungsfaden hatte Peter Tschaikowski mit hochemotionalen psychologisch aufgeladenen Arien und Duetten ausgestattet sowie mit üppigen Chorszenen versehen.

    Obwohl Tschaikowski mit seinem Libretto die Drastik der Textvorlage Puschkins weitgehend geglättet hatte, versuchte Andreas Dresen mit seiner Regiearbeit ohne großartige Verrenkungen, analog zu seinen Filmarbeiten, die Verhältnisse der Individuen zum gesellschaftlichen Umfeld sichtbar zu machen. Statt eines Erzählstranges rückte er die Bedeutung des Unbewussten und der Obsession der einzelnen Figuren in den Vordergrund.

    Das minimalistische Bühnenbild von Mathias Fischer-Dieskau ordnete sich den Anforderungen des geradlinigen Bühnengeschehens kompromisslos unter. Drei übereinander angeordnete Drehbühnen, auf denen klobige Raumteiler standen, erlaubten mit sinnvollen Gegeneinander-Drehungen innerhalb kürzester Zeit Kammerspielräume im Vordergrund aufzubauen und große Spielflächen für die gewaltigen Chorszenen zu errichten oder voneinander abzugrenzen. Zugleich zwang das Abstrakte der Räume den Zuschauer, sich auf jenes zu konzentrieren, was die Protagonisten mit ihrem Gesang von sich preisgaben. Der Besucher wurde regelrecht auf die Musik fixiert, wurde vor allem zum Zuhörer. Die Chöre waren von Michael Tucker mit dem Bühnenbild regelrecht verwachsen worden. Uniformiert in einheitlichem grau, agierten sie statisch. Die Gruppenprozesse bildeten sich musikalisch in den vielgestaltigen Chorszenen ab, die großartig vom Staatsopernchor und vom Kinderchor bewältigt werden. Hier haben Claudia Sebastian-Bertsch und André Kellinghaus Beachtliches geleistet. Aus den Gruppenprozessen entwickelten sich einzelne Charaktere, denen die Regie scharfe Profile verschaffte.

    Die Kostüme von Judith Adam orientierten sich am zaristischen Petersburg und teilten die Agierenden ihren Positionen in der Gesellschaft zu.


    Musikalisch bewegte sich die Aufführung auf einem außergewöhnlich hohen Niveau. Mikhail Tatarnikov tauchte bei seinem Kapellen-Debüt zusammen mit den Musikern der Staatskapelle in die Erzählung der Gefühlsausbrüche, der lyrischen und mörderischen Momente der emotionsgeladene Musik Tschaikowskis mit höchster Klangqualität ein. Vom Dirigentenpult aus ließ Mikhail Tatarnikov den großen Chor und Orchesterapparat vielfarbig aufblühen. Die Dramatik tönte mit gewaltiger Wucht aus dem Orchestergraben. Besonders die Bläser gaben alles für russischen Opernzauber, Dynamik und spannungsreiche Bögen. Zugleich blieb Tatarnikov mit nüchterner Klarheit der Partitur und der Modernität der Tonsprache Tschaikowskis auf der Spur. Prägnant und kompakt, fern jeder Kitschanfälligkeit wurde musiziert, ohne dass etwas vom Spektrum der hochemotionalen Musik zwischen melancholischem Leid und dramatischer Leidenschaft gefehlt hätte. Nach der drastischen Schluss-Szene gelang Mikhail Tatarnikov das Finale wie ein zart-jenseitiges Requiem.


    Die Figur des Ingenieur-Offiziers Hermann, der mit seiner inneren Zerrissenheit zu heldenhaftem Auftrumpfen ebenso fähig war, wie zu verinnerlichten Nuancen, entwickelte Sergey Polyakov mit erstaunlicher Bühnenpräsenz. So lässt man sich, nicht anders als Lisa, am Anfang von ihm blenden und musste im Verlauf mit Beklemmung zusehen, wie er in sein Verderben rennt. Dabei erfreute Sergey Polyakov bei seinem Hausdebüt mit einem robusten, heldenhaften, höhensicheren Tenor und glänzenden Spitzentönen. Bleibt die Frage, wieviel von der Persönlichkeit des Komponisten in der Figur reflektiert worden war.

    Auch die von Vida Miknevičiütė selbstbewusst gestaltete Lisa passte mit ihrer Außenseiterrolle nicht ins gesellschaftliche System. Sie verband das Mädchenhafte ihrer Erscheinung passend mit der Weiträumigkeit ihrer geschmeidigen Stimme. Voller Fülle ließ Vida Miknevičiütė im Liebesduett mit Hermann ihren Sopran golden glänzen, spielte und sang aber auch Lisas Wut samt rasender Verzweiflung mit großem dramatischem Sopran. Ihre Spitzentöne waren von enormer Durchschlagskraft. Folgerichtig stürzt sie sich nicht, wie von Tschaikowski vorgesehen, in den Newa-Fluss. Sie nahm den Fluchtkoffer, hielt sich bereit und konnte im Schlussbild nicht verhindern, dass sich der Geliebte erschießt.

    Für die Partie der Gräfin war Evelyn Herlitzius mit ihrer enormen Bühnenpräsenz verpflichtet worden. Mit der Aura einer unnahbaren geheimnisvollen Gräfin beherrschte sie die Szene beliebig. Oft waren es nur Blicke und kleine Gesten die sie wirksam einsetzte. Ihre wandlungsfähige Stimme und ihr bestechendes Timing ließen besonders das Morbide ihres Charakters lebendig werden. Mit der großen Arie im vierten Bild gewährleistete sie ausdrucksstärkstes Musiktheater. Bewegend das kleine französische Lied im zweiten Akt, das sie gedankenverloren beim Übergang zum Schlaf sang. Diabolisch trat sie als Geist auf, verriet Hermann das Geheimnis der „Karten“ und stachelte ihn an, in sein Verderben zu rennen.

    John Lundgren begeisterte als Graf Tomski mit kräftigem Bariton und ließ seine Erzählung im ersten Akt von der „Moskauer Venus“ und vom Geheimnis der drei Karten zu musikalischen Höhepunkten aufrücken. Auch mit seinem klangvollen Vogelast-Lied im Schlussbild baute er zart und leise die Erzählung am Ende aus. Im Anbetracht seiner Leistungen, hielt ich es nicht für erforderlich, dass er sich ansagen ließ.

    Christoph Pohl stattete den Fürsten Jelezkij mit dunklem Bariton aus. Für einen Mann des 19. Jahrhunderts reagierte er merkwürdig verständnisvoll und zeigte balsamische Wärme in seiner hingebungsvollen Entsagungsarie, lieferte dafür massives Metall im Kartenduell. Die Mezzosopranistin vom Hausensemble Michal Doron bestach als Paulina im Duett mit Lisa und einem Russischen Volkslied. Mit ihrer strahlenden tiefgoldenen Stimme glänzte sie im Duett. Im Lied klang sie warm, nuancenreich und erschütternd reif. Von den Offizierskollegen Hermanns agierten der Bariton Martin-Jan Nijhof als ein nachdrücklicher Surin und der Tenor Aaron Pegram als markanter Čekalinskij. Aaron Pegram war noch als Zeremonienmeister aktiv. Am Spieltisch waren Simeon Esper als Spieler Čaplitzkij und Rupert Grössinger als Spieler Narumof tätig, um den Hermann endgültig zu ruinieren. Nicht vergessen werden sollten die Auftritte der Mezzosopranistin Nicole Chirka als Gouvernante und der Ofeliya Pogosyan als Mascha in der dritten Szene des ersten Aktes.

    Fast überflüssig zu erwähnen, dass die moderne und schlüssige Inszenierung und das musikalisch Gebotene von den Besuchern mit ausgiebigen Ovationen gewürdigt wurden.

    Credits:

    Pique Dame – Peter Tschaikowski

    Premiere am 1. Juli 2023- Semperoper Dresden

    Inszenierung: Andreas Dresen

    Regie: Frauke Meyer

    Bühne: Mathias Fischer-Dieskau

    Kostüme: Judith Adam

    Choreografie: Michael Tucker

    Chor: André Kellinghaus

    Kinderchor: Claudia Sebastian-Bertsch

    Musikalische Leitung: Mikhail Tatarnikov

    Sächsische Staatskapelle Dresden

    Sächsischer Staatsopernchor

    Kinderchor der Sächsischen Staatskapelle

    Mieczyslaw Weinberg und Dmitri Schostakowitsch am Vorabend der Gohrischer Schostakowitsch-Tage 2023


    Die Sächsische Staatskapelle erinnerte am 21. Juni 2023 mit Andrés Orozco-Estrada an die Aufenthalte Schostakowitschs im sächsischen Kurort

    Der in Warschau als Sohn eines jüdischen Theaterkomponisten geborene Mieczyslaw Weinberg (1919-1996) war 1939 vor der deutschen Invasion Polens zunächst nach Minsk geflohen. Nachdem Überfall auf die UdSSR im Jahre 1941 und der Besetzung der Westgebiete ging er nach Taschkent. Als er 1943 seine 1. Symphonie Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) zur Begutachtung geschickt hatte, veranlasste dieser seine Übersiedlung nach Moskau und verschaffte ihm Unterkunft in seiner Nähe. Als Fast-Nachbarn trafen sie sich häufig, um sich über musikalische Ideen auszutauschen und sich gegenseitig das Geschaffene als gelungen abzusegnen. Das hatte zwar durchaus gegenseitige Auswirkungen auf ihre Kompositionen zur Folge, Weinberg deshalb als den „kleinen Schostakowitsch“ zu bezeichnen wäre aber grundfalsch. Natürlich haben sich beide gegenseitig beeinflusst und den Erbsenzählern unter den Musikwissenschaftlern bleibt überlassen, wer bei welchem Stück Wirkung auf den anderen Freund genommen habe. Beide waren durchaus eigenständige Komponisten: die kompositorische Leichtigkeit, stilistische Zuspitzung und deren Vollendung auf der einen Seite und die hörbar mühevolle Arbeit, das Ringen um die beste Kompositorische Lösung, das oft nicht bis zum Ende Gebrachte, auf der anderen Seite, unterschieden die Komponisten. Die Genialität, die in scheinbar banalen Stücken durchscheint, war Beiden zu Eigen. Weinbergs Komposition zu Kalatosows meisterhaftem Film „Die Kraniche ziehen“ wird uns für immer in Erinnerung bleiben.

    Wie Schostakowitsch bewegte sich Weinberg in dem verhängnisvollen Dreieck von großzügiger staatlicher Alimentierung, künstlerischer Anerkennung seiner Arbeiten und persönlicher Repression durch die offizielle Kulturpolitik. Es wäre grundfalsch, Mieczyslaw Weinberg als moralische Institution oder Feind des Sowjetsystems zu bezeichnen. Er war weder Kommunist noch Antikommunist, sondern allenfalls Antifaschist. Immerhin musste er zweimal vor den Faschisten fliehen, Deutsche hatten seine übrige Familie ausgelöscht und er verdankte dem Gastland, dass er überleben konnte. Er selbst bezeichnete die 1960-er Jahre als seine „Goldene Ära“, als er sich als einer der wichtigsten sowjetischen Komponisten etablierte. Die Spitzen der reproduzierenden Sowjetkultur David Oistrach (1908-1974), Emil Gilels (1916-1985), Mstislaw Rostropowitsch (1927-2007), Leonid Kogan (1924-1982), Kirill Kondraschin (1914-1981) und das Borodin-Quartett spielten seine Werke. In Westeuropa passte er nicht in die Schubladen der Avantgarde, galt als Schostakowitsch-Epigone und Systemkonform. Die westeuropäische Kulturpolitik belegte nahezu alle nicht eindeutig „dissidenten“ Musiker der Sowjetunion mit einem Bannfluch. Nach Schostakowitschs Tod verließ er kaum noch seine Wohnung und kümmerte sich nicht um die Aufführungen seiner Kompositionen. Damit wurden die Werke des bescheidenen und etwas lebensuntüchtigen Weinbergs immer weniger gespielt und er verschwand aus dem Musikleben. Nach dem Zerfall der UdSSR waren im Musikleben Debütanten wie Schnittke und Gubaidulina gefragt. Erst kurz vor seinem 100-sten Geburtstag wurde seine Oper „Die Passagierin“ in Bregenz aufgeführt und einige seiner etwa 300 Kompositionen ausgegraben.

    Das „Konzert für Trompete und Orchester“ op. 94 komponierte Weinberg in seiner produktivsten Schaffensperiode 1966/67 für den russischen Virtuosen Timofei Dokschizer (1921-2005), der es auch im Januar 1968 mit Kyrill Kondraschin uraufführte. Obwohl die etwas unernsten Satzbezeichnungen Weinbergs lediglich Fingerübungen versprechen, wird deren Flapsigkeit durch die enorme Spannung der Komposition widerlegt.

    Im Vorabend-Konzert der „Gohrischer Schostakowitsch-Tage 2023“ wurde das interessante Werk von Håkan Hardenberger mit der Sächsischen Staatskapelle und dem Dirigat von Andrés Orozco-Estrada geboten.

    Der erste Satz „Etudes“ begann für Hardenberger mit tonleiterartigen Passagen, die von Streichern und Schlagzeug begleitet wurden. Bissig und grimassenhaft entwickelte der Trompeter mit seiner faszinierenden Virtuosität das Thema bis Orozco-Estrada den Satzanfang mit dem Orchester wieder einfangen konnte.

    Der zweite Satz „Episoden“ entwickelte sich zu einer enormen Herausforderung für den Solisten, die Håkan Hardenberger mit großer Gelassenheit absolvierte. Besonders die lange Kadenz mit gestopfter Trompete, bei der ihm nur die Soloflöte assistierte, ließ die Stimmung zwischen ernst und gespenstisch wechseln. Düstere Stimmungen und zerklüftete thematische Ideen mit schnellen Tempowechseln behinderten den Aufbau von Strukturlinien, die sich erst mit energischen Antworten des Orchesters entwickeln konnten. Nur begrenzt konnte der Schwedische Meister-Trompeter die lyrische Entfaltung des farbenfrohen Satzes gegen das Orchester durchsetzen.

    Der Finalsatz „Fanfaren“ zitiert Ohrwürmer anderer Komponisten: Mendelssohns Sommernachtstraum, Rimski-Korsakows „Goldener Hahn“ sowie sein „Märchen vom Zaren Saltan“, Bizets Carmen und Strawinskys „Petruschka“ waren zu identifizieren. Mit einer zweiten Kadenz, begleitet vom Schlagzeug und anderen Soloinstrumenten, führte die Trompete zum Eingangsthema zurück. Mit Konsequenz hatte uns Hardenberger die postmoderne Offenheit Weinbergs mit ihrer inneren Struktur versucht nahezubringen.

    Mit einer Zugabe, die den Hörgewohnheiten der meisten Besucher näher kam, bedankte sich der Solist für den herzlichen Applaus.

    Schostakowitschs Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ nach Nikolai Leskov (1831-1895) wurde seit dem Januar 1934 mit wechselndem Erfolg zunächst in Leningrad und später auch im Moskauer Bolschoi-Theater aufgeführt, bis am 29. Januar 1936 Josef Stalin (1878-1953) mit seiner Entourage eine Vorstellung besuchte. Was dem Diktator an der Oper tatsächlich missfallen hat, ist nicht geklärt. Ein Mitarbeiter der Regierungszeitung „ISWESTIJA“ will aber eine Äußerung „Das ist Wirrwarr und keine Musik“ aufgeschnappt haben. Nachdem zwei Tage später in der Parteizeitung „PRAWDA“ in einem Beitrag „Chaos statt Musik“ auf Schostakowitschs Oper Bezug genommen wurde und auf die Absetzung der Inszenierungen gedrungen worden war, hat der 30-jährige Komponist seine Arbeit an der avantgardistischen vierten Symphonie zunächst abgebrochen. Auch nach der von Freunden befeuerten Fertigstellung der Vierten zog Schostakowitsch das Werk kurz vor der Uraufführung als ungenügend zurück. Das war aber erst im Dezember 1936. Dem Vernehmen nach sei er vom Komponisten verband aufgefordert worden, eine Symphonie im Stile des „sowjetischen Klassizismus“ zu schreiben: genial und heroisch wie Beethoven, aber den Geist der aktuellen Epoche zum Ausdruck bringend, sollte das Werk sein.

    In diesem Spannungsfeld komponierte Dmitri Schostakowitsch mit seiner d-Moll-Symphonie ein Meisterwerk, ein Spiegelbild der Welt, die ihn umgab. Er selbst nannte seine Fünfte „eine praktische Antwort eines Sowjetkünstlers auf gerechte Kritik“. Das Werden des Menschen, seine Selbstverwirklichung sei der eigentliche Gegenstand der Symphonie. Nun war „Mitja“ bei aller Vorsicht ein Schelm, so dass die unterschiedlich gefärbten Äußerungen zu seiner Arbeit nicht unbedingt das Ende der Deutung der „Fünften“ darstellen müssen, zumal die überlieferten Zitate nicht unbedingt authentisch sind. Genauso wenig müssen die in den Konzertprogrammen postulierten Deutungen, dass Schostakowitsch mit der Symphonie eine Verhöhnung der Machtstrukturen und eine Absage an die Kulturpolitik der 1930-er Jahre verbunden habe, richtig sein. Möglicherweise muss man irgendwo zwischen Solomon Wolkow (* 1944) und Richard Taruskin (1945-1922) oder ganz woanders suchen. Denn in Taruskins Bonmot, der mit Blick auf Schostakowitsch lästerte „die russische Musik sei ein Fest für Semiotiker und die Hölle für Kritiker“ steckt viel Wahres.

    Ich war deshalb von der Interpretation Andrés Orozco-Estrades bei seinem Gastkonzert bei der Sächsischen Staatskapelle angetan, als er die d-Moll-Symphonie am Vorabend der Gohrischer Schostakowitsch-Tage 2023 auf seine Art dirigierte.

    Der 1977 in Kolumbien geborene Wahlwiener gestaltete Schostakowitschs doppelte Böden mit kluger Dramaturgie, intensiver Konzentration und wunderbar geformten Schlüssen. Andrés Orozco-Estrade löste Schostakowitschs Musik aus dem historischen Kontext und verstand die Musik als allgemeingültige, eher zeitlose menschliche Botschaft und setzt mit seinem Dirigat auf eindeutige starke Gefühle. Das Moderato ging er gemächlich mit Ruhe an, baute die Kontraste sorgfältig auf und gestaltete Spannungen wechselnd mit Entspannung in größeren Schritten. Den scharf punktierten Rhythmen des Hauptthemas stellte er die lyrischen Nebenthemen eher nachdenklich gegenüber.

    Mit ironischen Variationen des Themas des Kopfsatzes betonte Orozco-Estrade im Allegretto den Scherzo-Charakter und verleugnete die Mahler-Anklänge nicht.

    Der langsame Satz „Largo“ ist für viele mit seinen langen einnehmenden Melodien die Seele der Komposition. Hier gelang es Andrés Orozco-Estrade der Musik eine tief empfundene Würde, eine Sehnsucht und Nachdenklichkeit zu verleihen. Das führte im atmosphärisch ungemein dichten Orchesterspiel zu wunderschönen Ergebnissen.

    Mit dem marschartigen Finalsatz hatte Schostakowitsch seinen Nachschöpfern die größten Freiheiten angeboten. Andrés Orozco-Estrade erfreute mit seinem direkten lebensbejahenden, fröhlichen Dirigat, so als ob er eine ausgelassene Stimmung Schostakowitschs in unsere schwierige Zeit tragen wollte.

    Die Profi-Musiker der Sächsischen Staatskapelle gingen aufgeschlossen auf die Wünsche des seltenen Gastdirigenten ein, obwohl sie in der Vergangenheit auch kriegerische und hektisch-zynische Interpretationen der D-Moll-Symphonie Schostakowitschs, so im Juli 2013 mit Andris Nelsons, zu spielen hatten.

    Spontan stehende Ovationen des hoch „Schostakowitsch-affinen“ Publikums dankten.

    Am 22. Juni 2023 findet in der „Gohrischer Scheune“ das Eröffnungskonzert statt.

    Das Rheingold-Versuch einer Rekonstruktion der historischen Aufführungspraxis

    Im Rahmen der Dresdner Musikfestspiele wurde am 14. Juni 2023 versucht, mit einer konzertanten Aufführung von Richard Wagners „Das Rheingold“ die historische Aufführungspraxis der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachzubilden.

    Als der 30-Jährige Hofkapellmeister Richard Wagner und seine Frau Minna in der Dresdner Ostra-Allee eine Wohnung einrichteten, gehörte zu den wenigen Stücken des Hausstandes das Titelblatt zu den Stichen des Peter von Cornelius (1783-1867) „Nibelungen“ in einem schönen Rahmen. In der Bibliothek der Wagners befand sich eine Fülle von Veröffentlichungen Deutscher Heldensagen. Als im Jahre 1844 die aus Meißen stammende Dichterin Luise Otto (1819-1895) dem von ihr verehrten Hofkapellmeister vorschlug, ihm einen Text für eine Nibelungen-Oper zu schreiben, lehnte Wagner brüsk ab: wenn er je eine Nibelungen-Oper komponieren werde, wolle er auch den Text selbst verfassen. Aber bereits im Folgejahr gab es erste Beschäftigung Wagners mit dem Nibelungenstoff. Galt das zunächst den Umständen von „Siegfrieds Tod“, so folgten bald „Der junge Siegfried“ und „Die Walküre“. Bereits in der Züricher Emigration entstand 1852 der Rheingold-Text zunächst in Prosa und dann in Form der Dichtung. Im Sommer des Jahres 1853 war der Text des „Ringes“ komplettiert und Wagner begann mit der Komposition des Rheingoldes. Zu seinem Ärger wurde das Vorspiel zum „Ring des Nibelungen“ auf Weisung des Bayerischen Königs Ludwig II. im Jahre 1869 in München vorab uraufgeführt.


    Seit fast sechs Jahren versucht eine Gruppe um den Musikwissenschaftler Kai Hinrich Müller sich den Aufführungspraktiken der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu nähern. In einem Konzert im Rahmen der Dresdner Musikfestspiele 2023 stellte Kent Nagano mit Musikern des „Dresdner Festspielorchesters“ und des „Concerto Köln“ die bisherigen Ergebnisse in Sachen „Das Rheingold“ von Richard Wagner (1813-1883) in einer konzertanten Aufführung vor.

    Bedingt durch die Positionierung der Musiker auf dem Podest war der Orchesterklang gegenüber einer Anordnung im Graben direkter. Das Spiel der historischen Instrumente des 19. Jahrhunderts verfügte allerdings nicht über die Durchschlagskraft moderner Instrumente. Beim Hören der Streicher war der Unterschied der mit Darmsaiten bestückten Instrumente gegenüber den heutigen mit verdrehten Stahlbündeln- beziehungsweise mit komplexen synthetischen Kunststoffkernsaiten bespannten Klangwerkzeugen deutlich. Da fehlten einfach das Runde, Klare und die Fülle im Obertonbereich. Auch die Holzblasinstrumente verfügten nicht über die gewohnten hellen Klangcharaktere, wobei bei den Klarinetten der Unterschied größer erschien, als bei den Oboen. Die Blechblasinstrumente der Wagnerzeit schienen dagegen mit einem höheren Anteil von Obertönen aufwarten zu können. Dabei galt das Interesse besonders den Wagner-Tuben, die wir beim Spiel nicht nur hören, sondern auch sehen konnten. Eine der eingesetzten Wagnertuben stammte sogar aus dem Jahre 1884.

    Letztlich war aber das Orchester des 19. Jahrhunderts durchaus mit seinem zurückhaltenden Klangbild sängerfreundlicher. Andererseits war den Orchestermusikern auf dem Podium vergönnt, die Sänger auch einmal zu hören.

    Vieles, was wir glauben, anders gehört zu haben, mag subjektiv sein und wir müssen uns auch auf die Umsetzung der Forschungsergebnisse verlassen, ob wir der Orchesterpraxis der Wagner-Zeit näher gekommen sind. Auf jeden Fall waren die unterschiedlichen Höreindrücke bei dem auf 435 Hz eingestimmten Orchester interessant.

    Bei der Zusammenstellung der umfangreichen Sängerriege des Rheingoldes hatte man bewusst auf eine einseitige Konzentration auf den Einsatz von „gestandenen Wagner-Sängern“ verzichtet und Wert auf eine Mischung von Wagnererfahrung mit Sängern, die vor allem mit Mozartkompositionen oder mit Werken aus der Zeit Johann Sebastian Bachs bekannt sind, gelegt. Damit war der Abend mit einer Reihe von Rollen- sogar von „Wagnerdebüts“ gekennzeichnet.

    Mit ihren gut aufeinander abgestimmten Stimmfarben intonierten die Rheintöchtern Ania Vegry, Ida Aldrian und Eva Vogel klangprächtig und textverständlich, dabei mit einer ersten Besonderheit des Gesangs der Wagnerzeit, als Frau Vogel eine Floskel ihres Textes sprach.

    Der vokal standfeste Australier Derek Welton sang mit seiner tiefen, kernigen Stimme den Göttervater Wotan. Souverän, differenziert im Ausdruck: jovial herablassend gegenüber Fricka, arrogant gegenüber den Riesen und infam, wie er den Loge benutzt.

    Die Mezzosopranistin Katrin Wundsam agierte als Fricka mit ihren Einforderungen ehelicher Treue mit schöner Stimme, etwas milde. Dabei hatte sie durchaus Aggressivität zu bieten, als sie mit einem gesprochenen Satz Wotan regelrecht anging.

    Eine ergreifende Charakterstudie ihrer Hilflosigkeit zeigte Nadja Mchantaf als eine hervorragend singende Freia.

    Mit seiner Alberich-Interpretation sicherte der Bariton Daniel Schmutzhard ein Glanzstück ausdrucksvoller Rollengestaltung. Sowohl als verhaltensgestörter geiler Laffe beim Liebesverlust, als auch als Machthaber über das Arbeitsvolk der Nibelungen sowie mit seinem markerschütterndem Fluch, nachdem ihm der Ring entrissen worden war, bot er die Versagerfigur des Alberich stimmlich und darstellerisch auf höchstem Niveau.

    Der vor Angst schlotternde Mime des aus Kärnten stammenden Tenors Thomas Ebenstein brachte mit seiner Figur Aspekte in den Ring ein, die spätere Entwicklungen wesentlich bestimmen werden.

    Als einen erfrischenden Wagner-Debütanten erlebten wir den aus Luzern stammenden Mauro Peter. Unbekümmert, mit sichtlicher Spielfreude und augenzwinkerndem Humor beherrschte er das Podest, wenn er, auch mit leichtem Skrupel, Wotans Wünsche sowie dessen Anforderungen erfüllte.

    Das Riesenpaar, der aus Belgien stammende Tijl Faveyts als Fasold und der aus Magdeburg gekommene Tilmann Rönnebeck als Fafner, beide mit beeindruckenden Bassstimmen ausgestattet, sicherten mit Präsenz ihre Ansprüche. Fafner, grob-gieriger Machtmensch, während Fasold den in Freia vernarrten Ausgleicher zeigte.

    Die Götterbrüder Dominik Köninger als Donner und Tansel Akzeybek als Froh agierten zunächst recht feige. Erst als die Situation sich entspannte, schmetterten sie ihre Beiträge stimmgewaltig und klangschön.

    Gerhild Romberger konnte der Erda auch konzertant die notwendige Mystik verleihen und die notwendige Warnung artikulieren. Mit volltönendem Mezzosopran ließ die uns ausschließlich als Konzertsängerin bekannte, ihre nachdenklichen Momente in die Handlung einfließen, bevor Maestro Nagano den Einzug der Götter nach Walhall in seinem vollem Glanz entfaltete.

    Die aus guter Absicht aus anderen Genres in die Aufführung einbezogenen Sänger hatten sich um eine Integration ins Wagnerfach bemüht. Ansätze einer Wagner-Abstinenz waren eigentlich nur bei Mauro Peter zu entdecken. Nach dem Erlebnis der opulenten und letztlich modernen Aufführung ergab sich für uns die Frage, ob die Bezugnahme auf die an die Aufführungspraxis der Zeit Richard Wagners vor allem auf die instrumentale Ausstattung des Orchesters und auf die Veranstaltungen im Rahmenprogramm begrenzt geblieben ist?

    Credits:

    Konzertsaal im Kulturpalast Dresden-14. Juni 2023

    Richard Wagner: Das Rheingold-konzertant


    Musikalische Leitung: Kent Nagano

    Dresdner Festspielorchester

    Concerto Köln

    Myung-Whun Chung dirigiert Auszüge aus Ravels „Daphnis et Chloé“ und Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ in der Orchesterfassung von Ravel im 11. Saisonkonzert der Staatskapelle


    Einer der großen und wichtigsten Musiker der Neuzeit war zweifelsfrei der Impressionist Maurice Ravel (1875-1937). Zugleich war der Sohn eines Schweizer Ingenieurs und eines baskischen Mannequins einer der seltsamsten Charaktere seiner Zeit. Kleinwüchsig mit großem Kopf und einem eigentümlichen Zug zur Kindlichkeit blieb er lebenslang distanziert und gefühlsscheu. Dabei lebte er dandyhaft-elegant und gab sich immer ironisch. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass seine Kompositionen scheinbar leidenschaftslos mit einem Hang zum dämonisch-hintergründigen daher kamen. Auf Bitten des legendären in Paris wirkenden „Ballets russes“ vertonte er im Jahre 1909 den Stoff eines doppelbödigen Romans des spätantiken Dichters Longos von Lesbos zu einer Ballett-Musik. Obwohl über drei Jahre an der Komposition und an der Choreographie nachgebessert wurde, war dem Ballett nur mäßiger Erfolg vergönnt. Die fließende, improvisatorisch anmutende Rhythmik und die prachtvolle Instrumentation des Werkes gingen regelrecht unter, weil die Tänzer mit der vertrackten Musik nicht klar kamen. Letztlich verursachte die erotische Schlussszene der Choreographie noch einen regelrechten Theaterskandal. Der verärgerte Ravel hatte bereits vor der Uraufführung des Balletts mit der Auskoppelung einer Suite für eine Rehabilitation seiner Arbeit gesorgt. Ob des Zuspruchs der Satzfolge folgte nach der Uraufführung des Balletts eine Suite Nummer zwei. Die beiden Suiten „Daphnis et Chloé“ werden seit dem auf den Konzertpodien häufig und erfolgreich aufgeführt.

    Die Konzertgestalter des 11. Symphoniekonzertes stellten für den Ersten Gastdirigenten der Staatskapelle Myung-Whun Chung die von den frühen Suiten nicht berührte Szenen der Ballettmusik zusammen: Chloé ist bei einer Huldigungsfeier für Pan von Piraten entführt und in deren Versteck verschleppt worden; der bei der Entführung ohnmächtig gewordener Daphnis hat die Vision, dass drei Nymphen die Hilfe des Gottes Pan für Chloés Befreiung einfordern; In der Piratenbucht wird Chloe gezwungen für den Hauptmann zu tanzen; während über dem Festplatz die Sonne aufgeht, wird dort in Form einer Pantomime an die Liebe des Gottes Pan zur Nymphe Syrinx erinnert, so dass Pan auch tätig wird;die Liebenden sind wieder vereint, schwören einander ewige Treue, so dass das Geschehen in einem Bacchanal enden konnte.

    Nachdem wir dank der Musikfestspiele innerhalb kurzer Zeit gehäuft Orchester mit unterschiedlichsten Klangbildern hören durften, waren für das Konzert unsere Erwartungen, den wunderbaren „Dresdner Klang“ der Wunderharfe wieder hören zu dürfen, besonders hoch, aber eventuell doch zu hoch. Irgendwie waren meine Erinnerungen an das Spiel des Orchesters mit den „Daphnis et Chloé-Suiten“ höher gesteckt. Ich fand auch das Dirigat Chungs etwas zurückhaltend. Die fordernden Soli der Bläser hatten das bekannte Niveau, die Klangschönheit und die strukturelle Übersicht waren durchaus zu spüren. Bei dem Beginn der Morgendämmerung, der Entfaltung des großen Ravelschen Klangfrescos, hätte ich dennoch mehr Spielfreude und Engagement gewünscht.

    Modest Petrowitsch Mussorgski (1839-1881) war ein wichtiges Glied der Gruppe jener fünf russischen, von Wladimir Stassow (1824-1906) als „Mächtigstes Häuflein“ benannten Komponisten, die sich um die Entwicklung einer nationalen russischen Musik bemühten. Neben Mili Balakirew (1836-1910), Alexander Borodin (1833-1887), César Cui (1835-1918), Nikolai Rimski-Korsakow (1844-1908), die nur im Nebenberuf komponierten, wurde der als Maler, Buchillustration, Architekt, Bildhauer und Bühnenbildner tätige Wiktor Hartmann (1834-1873) von Stassow in die Gruppe eingeführt. Hartmann und Mussorgski fühlten sich besonders verbunden. Nach Hartmanns frühem Tode wurden im Februar des Jahres 1874 in der Petersburger Akademie der Künste über vierhundert Exponaten des kreativen Kunstschaffenden im Rahmen einer Gedenkausstellung präsentiert. Der Überlieferung nach sei Mussorgski mehrfach wie ein Betrunkener, vielleicht war er es auch, besonders in den Bilderreihen zu finden gewesen. In einem Schaffensrausch komponierte er innerhalb von drei Monaten dem Freund ein musikalisches Denkmal zu zehn seiner Objekte, die Klaviersuite „Bilder einer Ausstellung“. Eine „Promenade“, die Eingangspforte der Ausstellung, steht für jeden seiner Aufenthalte in der Ausstellung und der Charakter der Wiederholungen weist auf die veränderten Stimmungen des Besuchers. Mussorgski gestaltete die zehn „Bilder“ der Vorlagen nach seinen Eindrücken. Zwei Zeichnungen polnischer Juden, ein Ballettkostüm-Entwurf, Nussknacker artiger Weihnachtsschmuck, Marktweiber in Limoges, ein alter Schlosshof, Hartmann in den Pariser Katakomben und schlüpfende Küchleins hatten den Komponisten gefesselt. Eine Uhr veränderte sich visuell bei Mussorgski zu Baba Jagas Haus auf Hühnerbeinen. Für den Abschluss regte der Entwurf des Architekten Hartmann für ein „Großes Tor in Kiew“ den Komponisten zu einem monumentalen Schlussgemälde an. Zu Mussorgskis Lebzeiten wurde die Suite nahezu ignoriert. Es bedurfte des Überblicks des legendären Dirigenten des Bostoner Symphony Orchestras Sergej Kussewitzky (1874-1951), der 1922 Maurice Ravel den Auftrag zur Orchestrierung der genialen Klavier-Suite Mussorgskis gab. Noch im gleichen Jahr uraufgeführt, wurde die Orchesterfassung schnell zu einer der berühmtesten Orchesterbearbeitungen. Inzwischen gibt es eine Vielzahl von Bearbeitungen der „Bilder einer Ausstellung“ unterschiedlichsten Genres. Prog-Rock Versionen bis hin zu ganz obskuren plakativen Spielarten lassen das Werk Mussorgskis als scheinbar unendlich belastbar erscheinen.

    Imposant interpretierte uns Myung-Whun Chung mit den Musikern der Staatskapelle in der Matinee des 11. Saisonkonzertes Ravels impressionistische Passagen. Die harten Kontraste, die ausgefallene Harmonik und die außergewöhnliche Struktur mit den durchaus groben Klangfarben vermittelten dem Hörer zumindest einen Eindruck von Mussorgskis Stimmungslagen; dass hier kein Vorbeilaufen an zehn Exponaten stattgefunden haben konnte. Chung gelang es, aus den dissonanten Akkorden überraschend Klänge hervortreten zu lassen und mit dem Opern-haften Finale einen imponierenden Konzertschluss zu gestalten.

    Gastkonzert-Filarmonica Arturo Toscanini mit Wellber und Pletnev

    9. Juni 2023 Konzertsaal im Kulturpalast Dresden


    Der 1981 in Israel geborene Komponist Omer Meir Wellber war vom Beginn der Saison 2018/2019 bis zum Jahre 2022 Erster Gastdirigent der Dresdner Semperoper. Seine Dirigate der Gastkonzerte der „Filarmonica Arturo Toscanini“ bei den Musikfestspielen 2023 waren ein weiterer Nachweis, dass man den hochkreativen Dirigenten hätte unbedingt in der Stadt halten sollen.Im Konzert bot uns Michail Pletnev seinen individuellen „Tschaikowski“. Das begann damit, dass er den für ihn gebauten Flügel des japanischen Klavierbauers Shigeru Kawai mitgebracht hatte. Nach Auffassung des Pianisten ist der hervorragende Sound des Kawai-Flügels gegenüber den Steinway-Instrumenten dunkler, nicht so hochgetunt und damit Pletnews persönlichem Klangempfinden näher.

    Im Konzert spielte Pletnev die Erstfassung Tschaikowskis aus dem Jahre 1874, die wesentlich lyrischer, langsamer daherkommt, als die uns seit Jahren geläufige Version. Die geringeren Anforderungen der Erstfassung an Pletnews Virtuosität ermöglichte ihm mehr Entfaltungsmöglichkeiten und Feinheiten der Komposition zu betonen. Deshalb wollte Pletnev auch nicht mit dem üblichen Tastendonner bei dem wohl berühmtesten Auftakt eines Klavierkonzertes dienen. Nach der von Wellber ungewohnt zurückhaltend gestalteten Introduktion richtete sich der auf einem Stühlchen sitzende Nachdenkliche auf, griff nach den Tasten des Kawai-Flügels, sezierte mit sanft perlenden Tönen den Kopfsatz „allegro non troppo“ und macht jede Note hörbar. Da war im Spiel nichts ausgelassen oder verwischt. Sein phantastischer Anschlag sicherte insbesondere in den leisen, melodiösen Passagen die Wirkung und ließ alles leichter und farbiger erscheinen.

    Aber er konnte durchaus in den schnelleren Partiturabschnitten heftiger agieren, allerdings ohne sich zu verausgaben. Pletnev blieb immer beherrscht, sein Stilgefühl bewahrte ihn, es mit Lautstärke zu übertreiben.

    Im Zusammenwirken mit dem Orchester war die Übersicht des dirigierenden Interpreten erkennbar, so dass eine geschlossene Mischung von kühler Analyse und Pletnews subjektiver Werkauffassung zu erleben gewesen war. Das aus überwiegend jüngeren Musikern bestehende Orchesters folgte den Intensionen des Solisten und sicherte die Wirkung dieser von Altersweisheit geprägten Tschaikowski-Deutung.

    Für den reichen, herzlichen Beifall bedankte sich Michail Pletnev mit Mili Balakirows (1836-1910) Bearbeitung der Glinka Miniatur „die Lerche“, mit der die Besucher nochmals die Möglichkeiten seines phantastischen Anschlags auskosten konnten.

    Das Klavierkonzert wurde von zwei Ouvertüren eingerahmt. Mit dem Vorspiel zu Giuseppe Verdis (1813-1901) „I vespri siciliani“ als einer Demonstration der Kernkompetenz der italienischen Musiker und mit Richard Wagners (1813-1883) „Tannhäuser-Ouvertüre“ als Verbeugung vor der Gastgeberstadt, erlebten wir Omer Meir Wellber so, wie wir ihn über Jahre im Graben hören durften.

    Zur Komplettierung des Abends dirigierte Omer Meir Wellber die „Filarmonica Arturo Toscanini“ mit den „Metamorphoseon Modi XII“ von Ottorino Respighi (1879-1936) ein seltener gespieltes Werk. Obwohl Respighi zu den bedeutenden italienischen Komponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörte, werden eigentlich nur seine Symphonischen Dichtungen der „Trilogia Roma“ häufiger aufgeführt. Die „Metamorphoseon Modi XII“ gehört zur Gruppe jener Kompositionen, die Serge Koussevitzky (1874-1951) anlässlich des 50. Jahrestags des Bestehens des Bostoner Symphonieorchesters in Auftrag gegeben hatte. Neben Kompositionen von Ravel, Strawinsky, Hindemith sollte auch ein Werk Respighis ein Repräsentant Neuer Musik im Festspielreigen werden. Und so wie Strawinsky seine „Psalmensymphonie“ ohne rechten Bezug zum Auftrag nach Boston schickte, hat Respighi eine Arbeit, die er zufällig fertig gestellt hatte, an den großzügigen Koussevitzky zur Uraufführung übergeben. Dem Vernehmen nach sei Respighis Phantasie von Rimsky-Korsakov zu den „zwölf Variationen über ein Thema: Andante moderato“ angeregt worden, wobei die zwölf Transformationen in ein überwältigendes finales „Vivo non troppo“ mündete. Neben dem geschlossenen Können des Orchesters beeindruckten solistische Leistung und dabei besonders die Kadenz des VII.Modus der Kapellmeisterin Mihaela Costea.

    Zwei Opernzugaben, der Toreromarsch aus Carmen und das „Intermezzo sinfonico“ aus Cavalleria rusticana, erzeugten jene stehenden Ovationen beim Publikum, die ich mir auch für das Tschaikowski-Klavierkonzert gewünscht hätte.

    Martin Grubingers Abschied von den Dresdner Musikfestspielen

    Bremer Kammerphilharmonie mit Tarmo Peltokoski zum ersten Mal im Konzertsaal des Kulturpalastes


    Seit den Musikfestspielen des Jahres 2012 war Martin Grubinger eine feste Größe im Festival- Programm. Besonders gern erinnert man sich in der Stadt an seine Uraufführung des „Konzertes für Schlagzeug und Orchester“ des türkischen Komponisten und Pianisten Fazil Say mit der Philharmonie im März 2019.

    Der Ausnahme-Perkussionist, der vor wenigen Tagen seinen vierzigsten Geburtstag begangen hatte, wird mit dem Ende der Saison seine Podiumskarriere beenden. Zum Abschied von seinen Dresdner Anhängern war er mit seiner gewaltigen Ausrüstung sowie fünf weiteren Schlagzeugern am 6. Juni 2023 in den Kulturpalast gekommen. Beginnend mit den „Speaking Drums“ des Peter Eötvös zu den Marimba-Boobams aus Fazil Says Opus 77 bis zu den „The Bells“ von Daníel Bjarnason hatte er für das Konzert ein Kaleidoskop seines Repertoires vorbereitet, ohne dass er dabei einen besonderen Spannungsbogen aufspannen wollte.

    Für den von Bruckner und Mahler Gestählten war es ein ungewohntes Bild auf dem Podium des Dresdner Kulturpalastes. Vor der uns seit ihrer Residenzorchesterzeit beim „Kissinger Sommer“ vertrauten Truppe der Bremer Kammerphilharmonie war eine regelrechte „Schießbude“ aufgebaut.

    Auf der Bühne entwickelte sich eine begeisternde Percussions-Party. Grubinger mit seinen Partnern, Tarmo Peltokoski und die Bremer Philharmoniker ließen durch ihre sichtbare Spielfreude die Funken überspringen. Was die Konzertbesucher als einen Klangstrom ineinander greifenden Rhythmen wahrnahmen, forderte von den Schlagzeugern präzises Zusammenspiel und immense Energie. Die Musiker des Orchesters lösten die für sie ungewohnte Aufgabe hervorragend, harmonierten phantastisch mit dem Dirigenten und vor allem mit dem hin und her hetzenden Solisten. Wie eine Naturgewalt sprang Grubinger von den Bongos zur Marimba, zu den Glocken und bewegte mit Kraft, Präzision beziehungsweise Sensibilität seine Instrumente, entfaltete einen überwältigenden Klang und Assoziationsreichtum. Die Zusammenstellung des Konzertes bot hervorragende Möglichkeiten für Grubingers virtuose Extremleistungen, begeisterte aber auch mit seiner Kombination von Rhythmik und Melodiösem. Scheinbar mühelos reihten sich atemberaubende Soli-Trommelgewitter aneinander und erzeugten bei aller Unterschiedlichkeit der Kompositionen einen geschlossenen Eindruck.

    Beim Einhören vor dem Konzertbesuch hatte uns YouTube zu einer der Kompositionen die Partitur eingeblendet, so dass wir zumindest ansatzweise eine Vorstellung von der Entwicklung der faszinierenden Wirkung Grubingers erhielten.

    Martin Grubinger wird in den kommenden Jahren mit Sicherheit bei den Musikfestspielen vermisst werden.

    Zu einer Erstbegegnung im Konzert kam es für uns mit dem 23-jährigen ersten Gastdirigenten der Bremer Kammerphilharmonie Tarmo Peltokoski. Nach den Vorabinformationen aus dem Orchester war keine Überraschung mehr, was der junge Finne auf dem Podium zauberte, als er als Zwischenspiele, mit seinen Bremern Zoltán Kodálys (1882-1967) „Tänze aus Galanta“ und Claude Debussys (1862-1918) Vorspiel zu „Nachmittag eines Fauns“ aufführte. Seine akzentuierte Zeichengebungen, seine Hinwendung zu den Musikern war faszinierend.

    Robert Schumanns spröde Schöne

    Halbszenische Aufführung von Schumanns einzigen Oper „Genoveva“am 4. Juni 2023 im Konzertsaal im Kulturpalast Dresden.

    Nach unserem heutigen Bild wurde das musikalische Leben des Dresdens der 1840-er Jahre von zwei Mehrfachbegabungen bestimmt. Beide waren vor allem noch mit ihren „Brotberufen“ befasst, so dass sie nur nebenbei komponierten, obwohl wir sie inzwischen vor allem ob ihres kompositorischen Schaffens wahrnehmen. Während der Hofkapellmeister Richard Wagner (1813-1883) mit seiner Frau Minna in der Ostra-Allee lebte und von 1841 bis 1843 am „Tannhäuser“ und vorwiegend in den Theaterferien der Jahre 1845 bis 1848 am „Lohengrin“ arbeitete, textete und komponierte der Musikzeitungsredakteur Robert Schumann (1810-1856) in der wenige Gangminuten entfernten Reitbahnstraße in den Jahren 1847 bis 1848 an seiner Oper „Genoveva“. Obwohl sich beide auf Carl Maria von Weber (1786-1826) beriefen, ihre Musiktheaterwerke durchkomponierten, sich der Leitmotivtechnik bedienten und auch ansonsten neue Wege im Opernbetrieb anstrebten, gab es zwischen ihnen nur wenig Gedankenaustausch. Während sich Wagner vorwiegend in der Theaterszene der Stadt bewegte und viel politisierte, dominierte das Ehepaar Schumann die Kammermusik-Aktivitäten der Dresdner Bürgergesellschaft.

    Fast fünfzig Konzepte der unterschiedlichsten Sujets, unter anderem von Goethe (1749-1832), Hoffmann von Fallersleben (1798-1874) sowie Eduard Mörike (1804-1875) soll Robert Schumann über Jahre hinweg abgewogen und wieder verworfen haben. Im Frühjahr 1847 entschied er sich endlich für die „Legende der heiligen Genoveva von Brabant“, einem Ereignis, das sich in den Jahren 732 bis 739 in der Gegend um Trier zugetragen haben soll. Ihm schwebte eine Synthese aus einer romantischen Deutschen Oper mit einer französischen Grand Opera vor. Eine „Deutsche Nationaloper“ sollte es werden. Zur Entstehung der Textvorlage der Oper gibt es noch immer vielfältige Unklarheiten. Unbestritten ist, dass Friedrich Hebbels (1813—1863) Tragödie „Genoveva“ von 1843 und Ludwig Tiecks (1773-1853) Trauerspiel „Leben und Tod der heiligen Genoveva“ des Jahres 1799 als Quellen dienten. Vermutlich bat Schumann, seinen poetisch begabten Freund und Maler Robert Reinick (1805-1852) die Erarbeitung des Librettos vorzunehmen. Der mit Hebbels Handlungsführung und Tiecks Legendencharakter gestaltete Entwurf behagte Schumann nicht und er versuchte, Hebbel für die Erarbeitung des Librettos zu gewinnen. Aber außer einem Briefwechsel und Hebbels Kurzbesuch bei den Schumanns bei seiner Durchreise im Juni 1847, gab es keine Zusammenarbeit. Hebbel hatte bei seinem Besuch einen „verstockten Schweiger“, der um seinen kurz vorher verstorbenen Sohn Emil trauerte, angetroffen.

    Ob Schumanns Idee mit „Margarethas Zauberspiegel“, sein Wunsch nach einer biedermeierlich-spießigen Ehebefriedung oder die Verschiebung der Konturen vom Opfer zum Täter zum Zerwürfnis mit Reinick führten, ist nicht belegt. Letztlich schuf Schumann in der Folge einen Text, der eigentlich an Banalitäten kaum zu überbieten ist. Bei den Katastrophen der duldenden Pfalzgräfin kann man nicht ansatzweise mitfiebern. Schumann verwendete aber immerhin etwa 200 Verse Reinicks, sowie auch Textbestandteile Hebbels.

    Die Musik schrieb Robert Schumann mit der ihm eigenen Rastlosigkeit in der Zeit vom zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1847 bis zur Jahresmitte 1848, nicht ohne in dieser Zeit mehrere Nervenzusammenbrüche überwinden zu müssen. War das Libretto der Oper bei dem in seinen Liedern ansonsten so sprachlich empfindlichen Schumann fragwürdig, so kam bei der kompositorischen Gestaltung der Chormusiker durch. Trotzdem sollte man der „Genoveva“ ihre Daseinsberechtigung nicht absprechen. Dem Werk mit seiner surrealen Kombination aus Oper und Oratorium fehlt der theatralische Realismus, die musikalische Charakterisierung der Protagonisten. Der von Schumann konzipierte „neue Opernstil“ konnte sich weder zu seiner Zeit, noch heute auf der Opernbühne etablieren. Die Musik bekam in der „Genoveva“ eine höhere Bedeutung als die dramatische Handlung. Mit seinem Talent zur musikalischen Seelenmalerei der Geschichte um die Gräfin von Brabant, die durch Standhaftigkeit ihr Leben, ihre Ehe und ihre Ehre rettete, hat uns Schumann eine faszinierende Fundgrube wunderbarer Musik hinterlassen.

    Deshalb war verdienstvoll, dass die „Dresdner Musikfestspiele 2023“ das „Helsinki Barockorchester“, seinen künstlerischen Leiter Aapo Häkkinen mit einer Gruppe hervorragender Sänger sowie den von Erwin Ortner geleiteten Wiener Arnold –Schönberg-Chor zu einer halbszenischen Aufführung der Rarität in den Kulturpalast eingeladen hatte.

    Mit ihrer Darbietung konnten die Gastmusiker alles das bestätigen, was wir am Symphoniker Robert Schumann, aber auch am Lieder- und Oratoriums Komponisten schätzen und lieben.

    Was geschieht:

    Die tugendhafte Titelheldin, die Gattin des Pfalzgrafen Siegfried, wiedersteht den Verführungsversuchen des hoffnungslos verliebten Statthalters Golo. Mit Unterstützung der Hexe Margaretha wird Genoveva dennoch der Untreue bezichtigt und soll deshalb sterben. Erst im letzten Moment kommt die Wahrheit ans Licht.

    Mit seinem Dirigat am Pult des Helsinki-Barockorchesters schärfte Aapo Häkkinen die Kontraste, die Brüche und Abgründe einer Partitur, die voller schöner Melodien steckt. Mit packender Intensität spielte das Orchester die grellen Dissonanzen und extremen Stimmführungen mit ihrer kühnen Instrumentation. Schwärmerische Heiterkeit und eitel Freude wäre bei Schumann ohnehin fehl am Platze, wenn der Blick auf das Inneren der handelnden Personen gerichtet ist. Mit seinen Instrumenten des 19. Jahrhunderts, die nicht über die Durchschlagskraft moderner Klangwerkzeuge verfügen, entfaltete das Orchester ein inspirierendes musikalisches Kaleidoskop und brachte uns mit seinem Klangbild einen ungewohnten Robert Schumann nahe.

    Das beeindruckende Wirkung der Aufführung wurde durch den tadellos von Erwin Ortner vorbereiten Arnold Schönberg Chor gestützt. Seine Sänger, mit mittelalterlichen Kopfbedeckungen ausgerüstet, hatten mehrere Auftritte als Jubelstatisterie, feierndes Gesinde und empörte Moralisten.

    Konzentriert folgen die Solisten den besonderen Anforderungen dieser außergewöhnlichen Aufführung. Abgestuft kostümiert, stellten sie ihre Darbietungen in kleinen Szenen, aber ziemlich steif dar.

    Die US-amerikanische Sopranistin Carolyn Sampson sang die Titelheldin mit eigenartig reservierter Leidensintensität, erfasste beklemmend die Zwischentöne und konnte in den liedhaft-schlichten Melodien Klarheit, in lyrischen Momenten anrührende Innigkeit und wo nötig strahlende Leuchtkraft bieten. Glaubwürdig wirkte ihr zerbrechlicher Sopran und ihre sparsame Gestik, mit der sie die schicksalhaft verlorene Frau präsentierte, die von der Männerwelt verachtet und um deren Moralvorstellungen und Egomanie willen fast geopfert wurde, dabei aber innerlich bereits gestorben war. Die sogar von ihrem Schöpfer Schumann im Stich gelassene Schönheit steigerte sich in eine Schicksalsergebenheit.

    Der gescheiterte Verführer und Verräter Golo, von Marcel Beekman mit edler Tenorstimme gesungen, beeindruckte mit seinem Gespür für Dramatik und Stimmungswechsel. Sein andächtiges Begehren, die innere Zerrissenheit der Figur schlug bei der Abfuhr durch die schöne Seele in Hass um. Die Stimme Marcel Beekmans verfügt über eine warme und sensible Tongebung sowie ausdrucksstarke, differenzierte Schattierungen und Farben.

    Die Stimme des aus Norwegen stammenden Baritons Johannes Weisser als Pfalzgraf Siegfried hat einen leuchtenden Klang sowie dramatisches Feuer. Sein Gesang konnte sich machtvoll erheben, aber auch seidig glänzen. Sein Siegfried war von der seine Kriegswunden pflegenden Margaretha durchaus angetan und ließ sich willig auf ihre Intrigen ein. Fragwürdig blieb es, dass man weder beim mit elegischem Schmelz singenden Golo noch bei dem lyrischen Heroismus des Siegfrieds die von Kirche und Gesellschaft kultivierte Frauenverächtlichkeit heraushörte.

    Das großartige Trio wurde durch die zwielichtige Amme Margaretha der Marie Seidler stimmlich furios und boshaft dunkel ergänzt. Die junge Mezzosopranistin glänzte mit einem volltönigen Stimmenumfang von zweieinhalb Oktaven mit kraftvoller Tiefe und klarem Timbre.

    Geradezu leuchtend sang der frühere Kruzianer und jetzige Bassist Cornelius Uhle den Haushofmeister und vermeintlichen Ehebrecher und Verführer Drago. Als Bauernopfer der Intrige konnte er als Stimme aus dem Jenseits die Sachlage klären und damit Genoveva retten.

    Der präsente ungarische Bassist Marcell Attila Krokovay als Diener Bathasar und der Diener Caspar des Baritons Zacharias Galaviz Guerra boten auf hohem Niveau ein beklemmendes Duo von Schergen und Folterknechten.

    Den Aufmerksamkeit einfordernden stimmgewaltigen Bischof von Trier verkörperte der aus Kiel stammende Bassist Yorck Felix Speer.

    Der dramaturgisch durchdachte Einsatz von Video-Technik verstärkte den Eindruck des Konzertes. Schumanns Einführung des Zauberspiegels nutzte die finnische Opernregisseurin Kristiina Helin um eine andere Form poetischer Realität darzustellen. Mit ihrem visuellen Konzept gestaltete Helin sowohl eine Kulisse, als auch bewegte Landschaft oder Reflexionen von Befindlichkeiten der Titelfigur. Mit den vom Künstler-Duo IC-98 Patrick Söderlund und Visa Suonpää eingerichteten Video-Animationen schuf sie eine beeindruckende Parallele zu Schumanns raffiniertem Leitmotivgeflecht.

    Es wurde berichtet, dass Schumann sein Libretto Richard Wagner gezeigt habe, der ihm eine gründliche Überarbeitung anempfohlen haben soll. Leider war aber der halsstarrige Komponist der Empfehlung des bereits Erfahreneren nicht gefolgt.

    Mendelssohn Bartholdy bei den Musikfestspielen

    Matinee am 28. Mai 2023

    Wenn Herbert Blomstedt das Chamber Orchestra of Europe mit der Geigerin María Dueñas dirigiert, dann trifft Altersweisheit auf jugendliche Unbekümmertheit.

    Zu den reizvollen Aspekten der Dresdner Musikfestspiele gehört, dass wir mehrfach Konzerte von uns bekannten Dirigenten mit häufig gehörten Werken aber selten oder bisher noch nie wahrgenommen Orchestern erleben können. Das „Chamber Orchestra of Europe“ war 1981 aus der Gruppe der 140 jungen Musiker des Europäischen Jugendorchesters auf Anregung Claudio Abbados entstanden, um den die die Altersgrenze von 26 Jahren überschreitenden Musikern eine Gelegenheit zu geben, in einer freien Formation weiter gemeinsam musizieren zu können. Etwa 60 professionelle Musiker, die überwiegend aus Spitzenorchestern Europas kommen, treten mit erfahrenen Dirigenten bevorzugt bei Festivals auf. Im vergangenen Jahr war das Kammerorchester mit Simon Rattle in Dresden. In diesem Jahr treffen die Musiker mit Werken von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) auf den Doyen der Orchesterleiter Herbert Blomstedt.

    Das Mendelssohn-Violinkonzert konnten wir zuletzt im vergangenen Herbst von der erfahrenen Julia Fischer mit der Sächsischen Staatskapelle hören, so dass ein fast unmittelbarer Vergleich anstand. Als Solistin des e-Moll-Violinkonzertes war die inzwischen im Konzertbetrieb etablierte spanische Geigerin María Dueñas nach Dresden gekommen. Blomstedt gab der jungen Solistin allen Raum, um ihr virtuoses Können unbekümmert ausbreiten zu können. Er überließ ihr die Tempogestaltung des Konzertes, begnügte sich mit Eingriffen in die Dynamik des Orchesterparts und sicherte aber in jeder Phase eine ausgewogene Balance des Orchesters zum Solopart. Die Dynamik des das Orchester blieb stets elegant und präzise. María Dueñas spielte ihr Können von Anfang an aus. Sie brachte ihre außerordentliche Technik zur Geltung und meisterte die Hürden der Partitur spielend. Gestützt wurde der großartige Eindruck von dem in hohen Lagen strahlend klaren Ton und dem wunderbar warmen in der Tiefe weichen Timbre ihrer Violine „Herzog von Camposelice“. Der Klang des 1710 in der Cremonenser Werkstatt des Antonio Stradivari (um 1644-1737) gebauten Instruments war bei aller Fülle immer transparent und klar geblieben. Die ausladenden Melodiebögen Mendelssohns nutzte die Solistin zur Entfaltung ihrer gekonnten Spielfertigkeiten und bot die überleitenden Passagen mit erlesener Eleganz. Die lyrischen Passagen ließ María Dueñas ruhig angehen, so dass die Spannung etwas abfiel, wenn sie mit ihrem silbrigen, weichen Ton ins Schwelgen geriet. Stets blieb der Eindruck eines eleganten Fließens.

    In Mendelssohn Kopfsatz-„Molto appassionato“ war Dueñas über jeden Zweifel erhabene Technik stabil, auch in den ruhig absteigenden Sequenzen vor der eher langsam genommenen Kadenz differenziert ausgeformt. Die Darbietung der Kadenz ließ bereits María Dueñas künstlerische Reife durchscheinen. Ein zart, mit beseelter Innigkeit gestalteter zweiter Satz, der in den subtilen Übergang zum „Allegretto non troppo“ führte. Im Finalsatz meisterte sie die virtuose Komponente des rasenden Passagenwerkes ebenso mühelos, wie den stilsicher beschwingten Abschluss.

    Beeindruckend gelang ihr, den schwierigen Spagat, die solistische Rolle selbstbewusst, aber nicht selbstdarstellerisch auszufüllen. Die bereits vor der Pause gespendeten stehenden Ovationen dürften nicht nur der Solistin, sondern vor allem dem in Dresden besonders geschätztem Phänomen Herbert Blomstedt gegolten haben.

    Während Mendelssohn Bartholdys Violinkonzert e-Moll op. 64 eine Freundschaftsgeste zu Ferdinand David (1810-1873), damit letztlich ein Auftragswerk an sich selbst gewesen war, ist die Entstehung der a-Moll-Symphonie „Schottische“ zunächst auf die emotionalen Reiseerlebnisse des zwanzigjährigen Felix durch das schottische Hochland zurückzuführen. Noch auf der Reise notierte er 1829 eine Klavierfassung des Andantes. Aber andere Projekte, so die Wiederaufführung der „Matthäuspassion“ Johann Sebastian Bachs in Berlin, schienen ihm wichtiger. Auch die Verarbeitung der Eindrücke des Besuchs einer Schottischen Untertage-Bleimine, die bei dem konvertierten Juden den Wunsch zu einem musikalischen Glaubensbekenntnis zum Protestantismus geweckte hatte, schienen dringlicher und mündete in die „Reformations-Symphonie“. Dann gab es noch die unbeschwerte Reise 1830 und 1831 in den Süden, die zur Symphonie A-Dur „Italienische“ führte. Es ist wenig bekannt, wann Felix die Edinburgher Klaviernotizen wieder herausholte, in welchen Zeiten und unter welchen Umständen er die vier Sätze im Verlaufe der Jahre bis 1842 komplettierte. Die Reihung der Sätze, die Entwicklung der düsteren Musik von den Schottischen Ruinen in die lebhafteren Eindrücke in Leipzig und Berlin, lassen schon vermuten, dass da im Verlaufe der dreizehn Jahre spätere Inspirationen eingeflossen sind. Selbst Felix bekundete, dass er sich nicht mehr recht in die schottische Nebelstimmung habe versetzen können. Keinem Geringeren als dem Kritiker Robert Schumann unterlief, dass er in einer Rezension die „Schottische“ mit der „Italienischen“ verwechselte. Aber dass Felix Mendelssohn Bartholdy am 3. März 1842 das Werk im Gewandhaus zu Leipzig ohne Satzpausen „attacca“ dirigierte, dürfte weniger inhaltliche Gründe finden. Er ärgerte sich nur über den gelegentlichen Satzbeifall einiger Leipziger Banausen.

    Auch bei der „Schottischen-Symphonie“ stand der zeitnahe Vergleich mit David Afkhams Einstand bei der Staatskapelle im 4. Symphoniekonzert zur Verfügung. Bereits mit den ersten Takten war der gestalterische Wille Herbert Blomstedts zu spüren. Seine sparsamen Bewegungen vermittelten den Musikern alles für eine ausdrucksstarke Aufführung Notwendige. Der Einsatz des Themas des Kopfsatzes und die Führung zum „Allegro un poco agitato“ hatten schon erwarten lassen, dass uns der Zauberer am Pult wieder einmal oft Überhörtes erschließen werde und dass es lohnte, die Ohren auf konzentrierten Empfang zu schalten. Nach dem Kopfsatz, der mit seiner Sprödigkeit andeutete, dass der Klassizist Mendelssohn durchaus romantisch daher kommen konnte, ließ Blomstedt den zweiten Satz „Vivace non troppo“ perlend, wenig tänzerisch aufführen. Während sich im dritten langsamen Satz zwischen Orchester und Dirigent ein prachtvolles mehrstimmiges Zusammenwirken entwickelt hatte, wurde der Finalsatz impulsiv-brisant knisternd und voller Leuchtkraft gespielt. Nur im Allegro vivacissimo gewährte Herbert Blomstedt dem Orchester den Klang hochdramatisch aufblitzen zu lassen. Das satte Spiel der Streicher des Chambers Orchestra, das große Potential der Blechbläser und vor allem die virtuos musizierenden Holzbläser bildeten das sichere Fundament für das fesselnde Hörerlebnis. Vor allem das hervorragende Klarinetten-Solo begeisterte. Blomstedts fortwährende Änderungen der Dynamik mit mehr mezzo-piano als forte sicherte bis ins Pianissimo einen tragfähigen Klang. Selbst kleine Anpassungen der Klangfarbe, die behutsam gesetzten Farbtupfer ließen die Interpretation mit ihren mehrfachen Wiederholungen hochkomplex und verflochten wirken lassen. Die Transparenz im Orchesterklang und die volle Nutzung der Breite des Klangspektrums ermöglichten dem Dirigenten mit dem Orchester zur Tiefe der Komposition vorzudringen. Gerade in der vordergründigen Leichtigkeit und Einfachheit der Musik Mendelssohns ihre Substanz zu finden, war die hohe Kunst Blomstedts zu erleben.

    Musikfestspiele 2023 Dresden

    28. Mai 2023-Konzertsaal des Kulturpalastes

    Felix Mendelssohn Bartholdy: Konzert für Violine und Orchester e-Moll op.64

    Felix Mendelssohn Bartholdy: Symphonie Nr. 3 a-Moll op. 56 „Schottische“

    Musikalische Leitung: Herbert Blomstedt

    Violinsolo: María Dueñas

    Chamber Orchestra of Europe