So., 9. Oktober 2022: WIEN (Staatsoper): Leoš Janáček, Její pastorkyňa / Jenůfa
Obzwar ich mich klar zum späten Janáček bekenne („Füchslein“, „Makropulos“ und „Totenhaus“ sind nicht nur meine drei Lieblings-Janáček-Opern, sondern meine drei Lieblingsopern generell!), finde ich „Jenůfa“ ganz wunderbar, das Stück besitzt von vorne bis hinten großartige Musik, kombiniert mit einem packenden Libretto. Meine beiden Lieblingsstellen sind das Geigensolo, als die Küsterin Jenůfas Kind wegbringt, und das „zweite“ Finale – aber nicht nur diese beiden Stellen sind von überirdischer Schönheit, die gesamte Oper ist großartig. Umso erfreulicher ist also nicht nur, dass dieses Stück heute nach mehreren Jahren endlich wieder an der Wiener Staatsoper zu hören war, sondern auch, dass die Vorstellung von hervorragender Qualität war.
Zuerst zur Inszenierung von David Pountney, deren Bühne (auf der sich von Akt zu Akt das Bühnenbild reduziert) von Robert Israel und deren Kostüme von Marie-Jeanne Lecca geschaffen wurden: Diese Produktion ist ganz wunderbar, sie erzählt die packende Geschichte ohne jede Art von Neudeutung (was aber vollkommen ausreicht) und besticht mit berührenden Bildern, sehr gut eingesetzten Lichteffekten (wie dass die Bühne im zweiten Akt beim Öffnen eines imaginären Fensters heller ausgeleuchtet wird), ausgezeichnet organisierten Massenszenen, toller Personenführung und guten Einfällen, wie dass Števa ganz am Ende des ersten Aktes auftaucht und sich sogleich nach dem Anblick von Jenůfas entstelltem Gesicht von ihr abwendet. Besonders gut gefällt mir, dass im zweiten Akt Jenůfas Kind (in Form einer Puppe) präsent ist, dadurch gewinnt die Szene, in der Števa auftritt, ordentlich an Brisanz. Kurz: Die Inszenierung ist ausgezeichnet, bitte unbedingt für alle Zeiten behalten.
Musikalisch fand DAS Ereignis in erster Linie im Orchestergraben statt: Das Staatsopernorchester unter Tomáš Hanus war in Bestform, hier stand ein ausgezeichneter Dirigent am Pult, der offenbar gut geprobt hat. Die Hausdebütantin Eliška Weissová (ursprünglich angekündigt war Violeta Urmana) singt, wie dem Internet zu entnehmen ist, derzeit Rollen überwiegend wie Isolde und Abigaille, womit eigentlich schon alles gesagt ist: Ihre Stimme ist in der Mittellage und Höhe sehr laut, durchschlagskräftig und scharf, was nicht in jeder Rolle angemessen wäre, aber für die Küsterin hervorragend passt. Lediglich in der tiefen Lage ist nicht viel vorhanden, das fällt aber kaum auf (störend ist es nur ganz am Ende des zweiten Aktes bei „Jako by sem smrt načuhovala!“) – insgesamt eine wunderbare Gesamtleistung; es war höchste Zeit, dass diese Sängerin in Wien debütiert. Der zweite Hausdebüt David Butt Philip gestaltete einen sehr guten Laca: Im Dezember wird man hören, ob es für den Stolzing reicht, als Laca gefiel er mit mit seiner eher dunkel timbrierten und durchschlagskräftigen Stimme jedenfalls ausgezeichnet. Ebenfalls ausgezeichnet war Michael Laurenz als Števa, der (mit Ausnahme des Pedrillo) bisher nur in kleinen bzw. kleineren Rollen zu hören war und heute einmal zeigen konnte, was in ihm steckt. Die Sängerin der Jenůfa konnte mit diesen drei hervorragenden Besetzungen leider nicht mithalten: Asmik Grigorian besitzt eine passable Stimme, mit der ihr imposante Höhen gelingen (wenngleich da manches nach Raubbau an der Stimme klingt), somit konnte sie einen guten Eindruck hinterlassen – aber wenn man daran denkt, wie wunderschön Angela Denoke weiland die Jenůfa gesungen hat, wird man mit Grigorian (die obendrein extrem textunverständlich unterwegs war) nicht glücklich. Margarita Nekrasova war eine wohltönende Großmutter, selbiges ist über Dan Paul Dumitrescu als Dorfrichter zu sagen; die anderen Mitwirkenden waren „rollendeckend“ bis auf Stephanie Houtzeel, die als Frau des Dorfrichters mit kleiner, brüchiger Stimme unangenehm auffiel.
Insgesamt trübten die (wenigen) genannten Mängel keinesfalls den großartigen, überwältigenden Gesamteindruck. Sehr ärgerlich finde ich jedoch, dass man sich 2016 auf den fatalen Irrweg der tschechischen Originalsprache begeben hat, der seitdem fortgesetzt wird, OBWOHL sich der Regisseur klar dagegen ausgesprochen hatte: „Man sollte generell alle Werke von Janáček in der Sprache des Publikums bringen, da es sich ja nicht um typische Opern, sondern viel eher um Theaterstücke mit Musik handelt. Die unnötige Barriere einer komplett fremden Sprache erschwert in diesem Fall die Aufnahme ungemein.“ (Diese Stellungnahme ist einem im „Jenůfa“-Programmheft der Saison 2001/02 befindlichen Interview entnommen, Seite 12.) Ich stimme hier vollkommen zu, nur die Muttersprache geht ins Herz, Untertitel hin oder her. Von 2011 habe ich noch im Ohr, wie Števa die „apfelglatten Wangen“ Jenůfas, der „Allerallerschönsten“, besingt – und die deutsche Übersetzung würde deutschsprachigem Publikum diese großartige Oper noch unmittelbarer näherbringen.
Übrigens ergab sich durch verschiedene Umstände, dass ich „Jenůfa“ an verschiedenen anderen Häusern teils mehrfach gehört habe (nämlich im Theater an der Wien und in München, Prag, Brünn und Pressburg), heute jedoch erst das zweitemal an der Wiener Staatsoper. Und hierhin gehört dieses Stück, denn der Orchesterklang braucht einen großen Saal und ein erstklassiges Orchester, im kleinen Theater an der Wien „zündet“ das Stück einfach nicht. Daher werde ich von den folgenden vier Aufführungen noch drei besuchen (nur deshalb nicht vier, weil am 15. Oktober gleichzeitig das „Füchslein“ im Theater an der Wien gespielt wird, was für eine total idiotische Planung seitens der Verantwortlichen!) und kann jedem nur dringend raten, sich die Gelegenheit eines Besuchs nach Möglichkeit keinesfalls entgehen zu lassen.