So., 24. Feber 2019: BERLIN (Staatsoper Unter den Linden): Richard Strauss, Elektra
Evelyn Herlitzius als Elektra und ich - das scheint nicht zustandezukommen. Im Dezember 2017 war sie in Wien angesetzt und musste absagen, damals war Elena Pankratova die Ersatzfrau. Heute in Berlin war sie Ricarda Merbeth, die Gott-sei-bei-uns-Sopranistin großer Teile des Wiener Stammpublikums. Ich habe mich auf eine Katastrophe eingestellt und muss freudig bekannt geben: Es war eine wirklich gute Leistung! Freilich, eine "Hochdramatische" (copyright Werkeinführung) ist sie nicht, man hört, dass sie aus dem lyrischen Fach kommt und sich ihre Stimme zB als Daphne oder Jenůfa wohler fühlt. Aber sie kommt mit den Tücken der Partie erstaunlich gut zurande, ist gefordert, aber dank ihrer sehr guten Technik nicht überfordert. Nur zwei falsche Töne haben verhindert, dass ich mich zum Bravoschreien hinreißen lasse, aber das ist eine vernachlässigbare Kleinigkeit. Es wäre aber wünschenswert, dass sie diese Partie bloß als (gelungenen!) Ausflug ins hochdramatische Fach betrachtet und sich dann wieder leichteren Partien zuwendet, um nicht Raubbau an ihrem Material zu betreiben, aber ein Blick auf Operabase verrät, dass das nur ein frommer Wunsch ist (sie singt Isolde, Turandot etc.). Naja, heute war es jedenfalls wirklich gut, die Berliner Staatsoper ist für eine Staatsoper aber auch erstaunlich klein. Mit Vida Miknevičiūtė durfte ich eine mir vorher ganz unbekannte Chrysothemis kennenlernen. Es war eine sehr erfreuliche Begegnung. Ihre Stimme ist dramatisch, voluminös, dunkel timbriert und laut. An wenigen Stellen war zu merken, dass die junge Sängerin mit der Rolle an ihre Grenzen stößt, was aber durchaus verständlich ist (wer es nicht weiß: Die Chrysothemis ist auf gar keinen Fall leichter als die Elektra, vermutlich sogar schwieriger!). Ansonsten war alles in bester Ordnung, aber ich weiß nicht, ob es ihrer Stimme förderlich ist, jetzt schon eine so fordernde Rolle zu singen. Über die Klytämnestra des heutigen Abends kann man keine positiven Worte verlieren. Waltraud Meier ist eine verdiente Sängerin, aber das Schulbeispiel einer Fehlbesetzung. Die Klytämnestra-Szene kann wahnsinnig packend sein oder total langweilig, und heute war es in der Nähe von "total langweilig", dem Orchester ist zu verdanken, dass sie nicht völlig zum Einschlafen war. Frau Meier singt das alles ganz brav, aber es passt nicht, es ist mit einem Wort langweilig. "Das ist wahr, und das ist Lüge. Was die Wahrheit ist, das bringt kein Mensch heraus.", "Wenn einer etwas Angenehmes sagt, und wär es meine TOCHTER, wär es DIE DA, will ich von meiner Seele alle Hüllen abstreifen", "Ich will nicht länger träumen" etc. etc.: Die Klytämnestra hat unzählige packende Stellen, die muss man aber auch gestalten und darf sie nicht nur irgendwie mit einer halbwegs schönen Stimme singen. Das ist sonst einfach nix, in dieser Rolle ist bloßer Schöngesang kontraproduktiv. Dass ihre Stimme mittlerweile auch nicht mehr so klingt wie früher ist nach ihrem Lied-Jahr überhaupt keine Überraschung. Eine weitere fatale Fehlbesetzung war Stephan Rügamer, der mir letztes Jahr in Dresden als Oedipus Rex sehr gut gefallen hat. Aber für den Aegisth ist kein lyrischer Tenor vonnöten, sondern ein höhensicherer, etwas ausgeschrieener Heldentenor. Peter Seiffert müsste eine Idealbesetzung sein, in näherer Zukunft Andreas Schager. Rügamer war leider völlig fehl am Platze, das ist aber nicht seine Schuld, denn er hat merklich das Beste aus seiner Lage gemacht. Sehr gut hingegen René Pape in der ziemlich unwichtigen Rolle des Orest. Er verkörperte einen selbstbewussten Mann, dem man den Muttermord zutraut, und stimmlich war es, von manchen störenden Vokalverfärbungen abgesehen, erste Sahne, um Berlin-gemäß zu schreiben. Interessant besetzt waren manche Nebenrollen: Der 1924 (!!!) geborene Franz Mazura ist eine lebende Legende, er war nie ein Star, aber doch sehr solide. Freilich verwaltet er jetzt nur mehr Stimmreste, aber er setzt diese gut ein und lässt spüren, dass die Stimme einstmals gut war. Für den Pfleger des Orest ist das völlig ausreichend (er und Orest müssen ja auch "ein Alter und ein Junger" sein), außerdem macht er einen sehr agilen Eindruck. Ad multos annos! Unter den Mägden haben mir am besten Bonita Hyman (die ich morgen in Wien als Maria in Porgy and Bess hören werde) und Roberta Alexander (geboren 1949, keine taufrische Stimme, aber eine berührende und sauber geführte) als erste und fünfte Magd gefallen. In die Kategorie "rollendeckend" gehören Renate Behle (Vertraute+Aufseherin), Marina Prudenskaya (Schleppträgerin + zweite Magd), Katharina Kammerloher (dritte Magd) und Anna Samuil (vierte Magd). Eine einzige Peinlichkeit waren die beiden Diener, denn für den Jungen Diener braucht man nämlich einen wirklich guten Sänger! Herwig Pecoraro wäre ideal, übrigens ist das auch eine gute Rolle für Benedikt Kobel. Was aber Florian Hoffmann abgeliefert hat (viele Töne nicht erreicht, ohne Ausdruck), gereichte zum Fremdschämen, was auch für den Alten Diener von Olaf Bär gilt: Der Alte Diener hat zwar nur sechs Wörter, aber die muss man singen, nicht sprechen.
Dass die bis jetzt mittelmäßig besprochene Vorstellung zum Ereignis wurde, für das sich der Aufwand von einem Tag und die Gesamtkosten von 50 Euro gelohnt haben, ist dem Orchester und der Inszenierung zu verdanken. Es war die letzte Regiearbeit von Patrice Chéreau (Bühnenbild von Richard Peduzzi, Kostüme von Caroline de Vivaise), sie hatte 2013 in Aix-en-Provence Premiere und wurde seitdem in zahlreichen Städten gezeigt, seit 2016 auch in Berlin. Das akustikfreundliche Bühnenbild stellt einen Hinterhof mit hoch aufragenden Mauern dar, und innerhalb dieser Szenerie findet großartige Personenführung statt. Keine Sekunde hatte ich das Gefühl, die Sänger würden einfach so durch die Szenerie stolpern. Nein, jeder Schritt hat Sinn, alles wirkt überlegt und geprobt, aber nie ungelenk. Man merkt, dass Chéreau wahrhaft ein Vollprofi ersten Ranges war. Erstaunlich, wie perfekt der Bühnenraum auf das Libretto abgestimmt ist (bei "Hier die Stufen, dass du nicht fällst!" waren auch wirklich Stufen auf der Bühne), und so manche Abweichung von der gewöhnlichen Praxis stört überhaupt nicht, zum Beispiel dass Aegisth vom Pfleger erstochen wird und nicht von Orest und dass der Junge Diener über die Fünfte Magd stolpert anstatt über Elektra. Jede Szene ist super gelöst, besonders gut gefällt mir der Auftritt Klytämnestras (Dienerinnen legen einen roten Teppich auf, alle verbeugen sich bei ihrer Ankunft, nur Elektra entbietet keinen Gruß, sondern stellt ihr euch aufrecht entgegen, und Chrysothemis steht abseits) und die Wiedererkennung Orest/Elektra (das alte, Agamemnon-treue Personal - Alter Diener Vertraute/Aufseherin und Fünfte Magd - findet sich auf der Bühne ein und begrüßt Orest bei "Die Hunde auf dem Hof erkennen mich, und meine Schwester nicht?!"), aber ausnahmslos jede Stelle ist gut in Szene gesetzt. Wenn ich da an unseren Laufenberg-Blödsinn in Wien denke, für den die modellhafte Inszenierung von Harry Kupfer geopfert wurde... Der hauptverantwortliche Erfolgsgarant saß aber im Graben: Was die Staatskapelle Berlin heute geboten hat, war Weltklasse allerersten Ranges, einfach grandios. Wer behauptet, die Wiener Philharmoniker seien das beste Orchester der Welt, möge sofort nach Berlin fahren und sich von der Unrichtigkeit seiner Behauptung überzeugen. Welch eine Dramatik, welch gewaltige Ausbrüche, aber auch welch einfühlsamer Lyrismus an den richtigen Stellen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine solch grandiose Orchesterleistung gehört zu haben, schon gar nicht in einer Elektra. Daniel Barenboim stand am Pult, am Anfang klang sein Dirigat noch etwas unausgewogen (zu konturlos in der Mägdeszene), aber spätestens ab der Klytämnestra-Szene war seine Leistung hervorragend. Dass die Staatskapelle ein so ausgezeichneter Klangkörper ist, ist in erster Linie sein Verdienst, der nicht genug bedankt werden kann. Die Aufführung ist schon seit einigen Stunden aus, aber ich bin noch immer ganz durch den Wind von dieser überwältigenden Orchesterleistung. Da können sich die angeblich so tollen Wiener Philharmoniker hinten anstellen!
Ein Wermutstropfen ist, dass zwar einige Striche aufgemacht wurden (zB die Szene, die Inzest zwischen Elektra und Chrysothemis andeutet, was auf der Bühne auch entsprechend realisiert wurde), aber genau die entscheidende Szene fehlt. Die üblichen Striche in der Elektra haben sich im Unterschied zu den Strichen in der Frau ohne Schatten nicht etwa deswegen eingebürgert, weil sie eine entscheidende Erleichterung für die Sänger bringen. Nein, die Striche sind deshalb üblich, weil sie sexuellen Inhalt enthalten, und in einer ungekürzten Fassung erfährt man, dass die Ursache für Elektras krankhafte Anbetung des toten Vaters sexueller Missbrauch ist ("Diese süssen Schauder hab ich dem Vater opfern müssen. Meinst du, wenn ich an meinem Leib mich freute, drangen seine Seufzer, drang nicht sein Stöhnen an mein Bette? Eifersüchtig sind die Toten"). Diese Zeilen haben auch heute gefehlt, und das ist einfach nur peinlich. Langsam sollten wir alle im 21. Jahrhundert angekommen sein und kapiert haben, dass diese Zeilen im Libretto enthalten sind und entscheidende Informationen für das Verständnis desselben enthalten. Nichtsdestoweniger: Diese Elektra ist anständig "eingefahren". Lange Zeit war die Elektra meine Lieblingsoper, bis ich gemerkt hab, dass Janáček viel besser ist als der Spießer und Selbstdarsteller Strauss. Aber Salome ist genauso wie Elektra ein Meilenstein. Für tolle Aufführungen wie heute nehme ich gerne Reisen in Kauf, die Kosten-Nutzen-Rechnung stimmt.