Ein paar Gedanken zu Haydns fünfter seiner sechs späten Messen, komponiert 1801 und uraufgeführt im selben Jahr in der Bergkirche Eisenstadt.
Der Beiname kommt aus der Verwendung eines Themas aus seiner "Schöpfung" am Ende des ersten Teils des Glorias. Wie in vielen seiner Kompositionen wollte er damit die Erwartungshaltung seines Publikums konterkarieren. Der Text lautet "Qui tollis peccata mundi" und leitet üblicherweise einen neuen Abschnitt ein. Das klingt dann z.B. so:
https://youtu.be/7EiefC0eesc?t=474 (Nelsonmesse)
oder so:
https://youtu.be/J7PDLor8NrI?t=322 (Theresienmesse)
In der Schöpfungsmesse dagegen:
Der Hörer "weiß", dass nach dem "Domine Deus, Agnus Dei, Filius Patris" ein neuer Abschnitt beginnt. Aber der Sänger hat offensichtlich die falschen Noten bekommen. Die Melodie aus der "Schöpfung" war damals natürlich bekannt:
https://youtu.be/stKZXSS3GAE?t=234 ("Der tauende Morgen, o wie ermuntert er")
In der Schöpfungsmesse nimmt erst der Chor die "richtige" Haltung an: "miserere, miserere nobis". Haydn musste angeblich auf Anweisung von Maria Theresia diese Stelle entschärfen. Die heutigen Aufnahmen verwenden natürlich immer das Original. Wir sehen daran einmal mehr, dass sich der gläubige Haydn niemals von irgendwelchen "Experten" vorschreiben ließ, auf welche Weise er mit seinem Gott zu kommunizieren hatte.
Apropos:
Bei Haydns Messen ist es immer wieder interessant, wie er im Credo das "Et incarnatus est", das "Crucifixus" und das "Et resurrexit" gestaltet. "Crucifixus" müsste ja traurig sein, "Et resurrexit" jubelnd. Zumindest letzteres steht bei Haydn oft in Moll, was man dann als "dramatisch" interpretieren könnte. In der Schöpfungsmesse ist alles in Dur. Hier der gesamte Abschnitt:
Das "Et incarnatus est" (G-Dur) klingt sehr intim, mit delikatem Orgelsolo. Beim "Crucifixus" (inzwischen in D-Dur) bleibt die intime Grundstimmung unverändert, als ob Menschwerdung und Kreuzigung irgendwie zusammengehörten. Dann aber haut der Chor auf die Pauke: "sub Pontio Pilato". Er wird dann gleich wieder leiser: "passus et sepultus est". Das war also nur ein Weckruf. Nicht dass da jemand einschlafen sollte, beim zentralen Thema des christlichen Glaubens. Der Abschnitt endet in D-Dur.
Das "Et resurrexit" steht dann in der Haupttonart B-Dur und beginnt mit einem B-Dur-Dreiklang aufwärts: b-d-f-f-d. Es kann also in der Tat als "jubelnd" interpretiert werden. Es ist die gleiche Tonfolge wie ganz am Anfang der Messe (Kyrie).
Das Werk wird noch durch eine weitere charakteristische Tonfolge zusammengehalten: b-c-d. Besonders deutlich am Anfang des Glorias:
Weniger klar, aber vorhanden am Anfang des Credos:
Dann wieder klar bei der Einleitung zum "Et vitam venturi saeculi":
Schließlich beim "Dona nobis pacem":
Das Sanctus erinnert an einen Satz aus den "Sieben letzten Worten" (V: Mich dürstet):
Der Beginn des Benedictus erinnert an "Ombre insepolte" aus dem "Orlando Paladino":
https://youtu.be/jZYa_so2Z6Y?t=185 (Benedictus)
https://www.youtube.com/watch?v=64HrfQrM3g4 (Ombre insepolte)
Man sieht: Haydn konnte mit seinen 69 Jahren aus dem Vollen schöpfen...