Beiträge von Areios

    Mir gefällt halt der traditionelle gekürzte Alfano-Schluss überhaupt nicht - ich finde ihn nicht einmal stilistisch passend, Zeitgenosse hin oder her. Der originale Alfano-Schluss gefällt mir etwas besser, aber auch nicht wirklich gut. Berio gefällt mir teilweise ganz gut, v.a. dort, wo er sich direkt auf Puccinis Skizzen bezieht, insgesamt finde ich ihn aber auch nicht ideal. Jedenfalls verwendet Berio von allen Vervollständigern am meisten Skizzen von Puccini, deutlich mehr als Alfano, der sich da durchaus auch selbst verwirklichen wollte.

    Liebe Grüße,
    Areios

    So, dann stelle ich schon mal die Rolle für morgen ein, damit sie rechtzeitig am Start ist. Und zwar wähle ich die Turandot.

    Die höre ich lieber jugendlich-flexibel, deshalb bei den historischen Interpretinnen drei Mal Spinto:

    Anne Roselle war die deutsche Erstaufführungs-Turandot:

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    Walburga Wegner hat die Partie ebenfalls auf Deutsch gesungen (Köln 1960, live):

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    Und für die Originalsprache Montserrat Caballé (San Francisco 1977, live):

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    Die beste Studioaufnahme hat meiner Meinung nach Joan Sutherland hingelegt, aber die hat die Rolle ja nie auf der Bühne gesungen.

    Meine bisher live erlebten Turandots wurden der Rolle leider nicht gerecht. Ich hoffe aber, vielleicht im Juni nach Wien zu kommen und Asmik Grigorian in der Partie zu erleben.

    Liebe Grüße,
    Areios

    Gerade die Szenen im Frauenlager fand ich seinerzeit in Dresden am eindrucksvollsten.

    Sind sie auch; und sie waren sicherlich auch der Grund für Weinberg (dessen gesamte Familie im KZ umgekommen ist), diese Oper zu komponieren. Mich befremdet die Nonchalance, mit der ein deutscher Regisseur und ein russischer Dirigent da im Werk eines jüdischen Polen und mittelbaren Holocaustopfers herumstreichen und dafür von der deutschen Presse (nach den Kritiken, die ich bisher gelesen habe) auch noch bejubelt werden, weil "die Sangesfreude der KZ-Häftlinge" sowieso nur "peinlich berühren" würde (Münchner Abendzeitung). Holocaust muss offenbar so auf die Bühne gebracht werden, wie es den Deutschen passt, und nicht so, wie es die Opfer erzählen wollen.

    Liebe Grüße,
    Areios

    Über die Hintergründe der Münchner Strichfassung spricht Vladimir Jurowski hier recht ausführlich. Sein Hauptgrund für diese Bearbeitung ist das melodramatische 'holzschnittartige Libretto eines lang verstorbenen sowjetischen Schriftstellers'. Ich werde es mir übermorgen anschauen.

    Man sollte vielleicht nicht darüber urteilen, ehe man es nicht gesehen hat, aber auf mich wirkt das, was Vladimir Jurowski und Tobias Kratzer in den Medien über ihre eigene Bearbeitung erzählen, eher wie eine Verschlimmbesserung. Man darf z.B. die Internationalität und unterschiedlichen Hintergründe der KZ-Gefangenen auch als Symbol betrachten und nicht nur als historischen Fehler. Gerade in Deutschland sollte man es sich drei Mal überlegen, ob es gerechtfertigt ist, die Opferperspektive und die Screentime der Opfer "auf ein Minimum" zusammenzukürzen.

    Zitat von Vladimir Jurowski

    Richtig, das Stück dauert bei uns knappe zwei Stunden, da sind 20 bis 30 Minuten Musik weggefallen: Beispielsweise haben wir die Szenen im Frauenlager auf ein Minimum reduziert

    Liebe Grüße,

    Areios

    Die Wiederentdeckung der “Passagierin” nimmt jetzt anscheinend wirklich Fahrt auf: Ich habe die Oper in diesem Jahrzehnt in Graz und in Innsbruck gesehen - jetzt hab ich also auch in München die Chance. Es lohnt sich jedenfalls unbedingt! Nur schade, dass man in München eine eigens erstellte Strichfassung spielt, der die drittlängste Frauenrolle des Stücks, Katja, zum Opfer fällt.


    Liebe Grüße,

    Areios

    Ich reiche noch die Tatjanas nach. Das ist eine Rolle, die man irgendwie selten wirklich schlecht gesungen hört, aber auch selten so, dass wirklich keine Wünsche offenbleiben.

    Historisch:
    Galina Vishnevskaya / Khaikin
    Nuccia Focile / Bychkov
    Mirella Freni / Levine

    Live:
    Tamar Iveri (Graz 2001; das war eine ganz hervorragende Aufführung; ihr Onegin war damals Mariusz Kwiecien)
    Sandra Janusaite (Graz 2018)

    Leider noch kein drittes Live-Erlebnis Schlecht2

    Liebe Grüße,
    Areios

    Gerade was das oft beklagte Fehlen herausragender dramatischer Stimmen betrifft, gibt es in den letzten Jahren meiner Wahrnehmung nach eine Gegenbewegung: Ich habe in letzter Zeit Manuela Uhl, Aile Asszonyi und Magdalena Hinterdobler live gehört, Catherine Foster, Lise Davidsen und mehrfach Asmik Grigorian in Liveübertragungen - alles wirkliche Spitzenleistungen im dramatischen Fach, mit strahlenden Höhen, leuchtender Mittellage, herausragender Diktion, kein Wobble, keine Ermüdungserscheinungen, keine Intonationsschwierigkeiten. Auch den 1960ern hätte das gefallen. (Ich hab letzthin auch Ausrine Stundyté live gehört, über die man solches Lob an diesem Abend nicht ausgießen kann, aber Ausnahmen bestätigen ja die Regel.)


    Und dann findet sich bei mir im Harnoncourt-Regal seit kurzem also doch auch eine Aufnahme mit Nikolaus Harnoncourt. Im September 2022 veröffentlichte das Concertgebouw Orkest auf seinem Eigenlabel eine CD-Box mit Harnoncourt-Radio-Liveaufnahmen von 1981 bis 2012. Darin enthalten ist die „Hirsch“-Konzertaufnahme aus dem Concertgebouw vom 26.4.2009, mit dem Netherlands Chamber Choir und der Sopransolistin Julia Kleiter. Diese Aufnahme habe ich ganz intensiv als Harnoncourts typische "Musik als Klangrede" gehört, also noch "opernhafter" als die zweite Herreweghe-Aufnahme.

    Danke, du hast mich gerade sehr glücklich gemacht! Ich habe mir nämlich mehrfach gedacht, dass ich gerne Harnoncourt mit dem Psalm hören würde, da mir die gängigen Interpretationen (außer Herreweghe) oft zu zahm und zu langsam erscheinen. Bei aller Verklärtheit und Gottvertrauen, die Mendelssohn hier einkomponiert hat - man muss die Kontraste, die auch explizit in den Noten stehen, nicht so nivellieren wie etwa Rilling. Harnoncourt steht also auf der Bestellliste.

    Unter „komplex“ verstehe ich auch so etwas wie ein Streichquartett von Haydn. Jetzt kommt von Dir wahrscheinlich das Zitat mit der „ganzen Welt“. :)

    Genau das ist der angesprochene Popanz. Wieso muss man überhaupt irgendwas von Haydn mit dem Distinktionsetikett „komplex“ versehen? Was ist der Mehrwert? Und wenn Haydns Streichquartette „komplex“ sind, ist dann die Rockmusik der 70er und 80er „hyperkomplex“?

    Ich bin der festen Überzeugung, dass gute Musik intuitiv rezipiert werden kann. Es spricht vielleicht aufgrund verschiedener Faktoren nicht jederzeit jede Musik in jeder Aufführung zu jedem, aber das grundsätzliche Potential ist da.

    Der Komplexitäts-Popanz ist meiner Meinung nach wirklich eine Legende, erfunden wahrscheinlich von Komponisten, die keine gute Musik schreiben konnten, weswegen sie komplexe schrieben. So wie der sprichwörtliche Koch, weil er es nicht gut machen konnte, machte er es teuer.

    Gute Musik kann natürlich komplex sein, aber sie erschöpft sich weder darin, noch ist Komplexität bei ihr a priori ein Rezeptionshindernis. Es gibt genügend Klassikhörer, die vom „Ring“ angefixt wurden, und umgekehrt ist Chopin gute Musik, auch in Hotellobbies.

    Eine meiner liebsten Psalmvertonungen!

    Ich nehme den Eröffnungschor nur sehr bedingt als heiter und freundlich wahr, sondern vor allem als Ausdruck von Demut und Sehnsucht und insofern passend zum Sinn des Textes, auch wenn das Bild vom schreienden Hirsch weitgehend außen vor bleibt. Wenn dann später, v. a. Takt 50 bis 65, eine gewisse Schärfe und ein Drängen dazukommt (und am ehesten dem Bild entspricht), finde ich das umso wirkungsvoller, ein wirklicher Gänsehautmoment.

    Ganz undramatisch würde ich das Werk nicht nennen, aber es meidet offensichtlich die Tonmalerei, die Darstellung von Naturgewalten und scharfe Kontraste, wofür gerade das zweite Rezitativ mit seinen Fluten und Wellen sich angeboten hätte. Das unterscheidet sich fraglos von der Haltung des 18. Jahrhunderts und Mendelssohns eigener z. B. im Elias, aber ein Psalm wie dieser ist auch etwas anderes als ein dramatisches Oratorium. Ich würde es nicht unbedingt am „am Text vorbeikomponiert" nennen, eher einen Verzicht auf musikalische Verdopplung der Bilder des Textes und eine Konzentration auf seine allgemeine Aussage.

    Vielen Dank, ich dachte schon, ich bin mit meiner Wahrnehmung ganz alleine. Ein bisschen liegt es auch an den Interpretationen, man kann den Eröffnungschor schon schärfer oder milder ausführen, vor allem der Mittelteil mit dem langen Crescendo, das dann ins Fortissimo mündet, noch verstärkt durch Sforzati. Es gibt schon Aufnahmen, auf denen man davon nicht viel hört.

    Was die Haltung des 18. Jahrhunderts betrifft: Händel hat den 42. Psalm auch vertont, als Nr. 6 der Chandos Anthems "As Pants the Hart". Ich kann nicht finden, dass das kontrastreicher als Mendelssohn ist.

    Schuberts Messen? Süßmayrs Missa solemnis? Webers "Freischütz-Messe"? E.T.A. Hoffmanns Miserere mei? Otto Nicolais Kirchenmusik? Rossinis Messen? Donizettis Messen? Cherubini? Johann Simon Mayr? Jakub Jan Ryba? Ob die Musik bekannt ist oder nicht, spielt ja für den Vergleich keine Rolle

    Aber es spielt schon eine Rolle, inwiefern diese Musik im Deutschland Mendelssohns rezipiert wurde. Abgesehen davon, dass diese Werke, so weit ich das überblicke, alle der katholischen Sphäre angehören und Mendelssohn Protestant war (er schrieb allerdings einiges an katholischer Musik wie die Lauda Sion Sequenz), dürfte er auch nur einen Bruchteil davon wirklich gekannt haben. Ich frage mich auch, ob diese Musik in Preußen eine Rolle spielte. Tatsächlich wurde er von König Friedrich Wilhelm IV damit beauftragt, eine neue protestantische Kirchenmusik zu entwickeln, was er in den 1840er Jahren auch tat. Ich denke, man muss Mendelssohn hier - wie auch in der Orgelmusik - eine gewisse Pionierrolle zugestehen.

    E.T.A. Hoffmann und Otto Nicolai waren Protestanten und mit Preußen verbunden; Nicolai war mit Mendelssohn befreundet.

    Ja, das stimmt schon - aber das aufs ästhetische Umfeld zu schieben, verkennt m.E. wieder, dass es sich schlicht und ergreifend um geistliche Musik des 19. Jh., meinetwegen um vormoderne geistliche Musik, handelt. Der Glaube ist da vorausgesetzt, er wird nicht in der Komposition erarbeitet. Es ist nicht nur eine Frage der Ästhetik, sondern auch eine der Spiritualität.

    Da habe ich meine Zweifel. Bach hätte diesen Text viel "konfliktträchtiger" vertont, wie schon die Kantate BWV 21 "Ich hatte viel Bekümmernis", welche einen sehr ähnlichen Text hat, zeigt. Bach pflegte solche Sinnbilder dramatisch und direkt anschaulich zu gestalten. Auf früher in Deutschland komponierte Musik (z.B. Schütz) trifft das ebenso zu. Die Messen Haydns - ein anderer Bezugspunkt - haben hingegen einen weltlichen Duktus mit viel Pomp und Trubel. Bliebe also andere geistliche Musik des frühen 19. Jahrhunderts, welche wir zum Vergleich heranziehen könnten. Nur welche ist denn bekannt? Mendelssohn steht als aktiver Kirchenmusiker in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts relativ alleine da, zumindest wenn man heute noch bekannte Kompositionen betrachtet.

    Aber die Spiritualität des Barock ist halt doch auch eine andere (auch die Ästhetik, aber eben auch die Spiritualität). Schon der Text von "Ich hatte viel Bekümmernis" ist konfliktträchtiger als "Wie der Hirsch schreit". Auch der "weltliche Duktus" Haydns entspringt einem absolutistischen Gottesbild, das man natürlich im 19. Jh. nicht mehr haben konnte.

    Schuberts Messen? Süßmayrs Missa solemnis? Webers "Freischütz-Messe"? E.T.A. Hoffmanns Miserere mei? Otto Nicolais Kirchenmusik? Rossinis Messen? Donizettis Messen? Cherubini? Johann Simon Mayr? Jakub Jan Ryba? Ob die Musik bekannt ist oder nicht, spielt ja für den Vergleich keine Rolle; Aufnahmen gibt es von den genannten Werken jedenfalls. Insbesondere das Miserere von E.T.A. Hoffmann ist vielleicht ein Ohrenöffner, da an der Dramatik des Textes dort ja kein Zweifel bestehen kann.

    Es ist auch wichtig, sich des ästhetischen Umfelds Mendelssohns bewusst zu sein. Er war stark beeinflusst von zwei Strömungen seiner Zeit, nämlich der nazarenischen Kunst und dem Cäcilianismus, erstes die Malerei betreffend, zweites die Musik. Mendelssohn stand dem nahe und man könnte den Einagngschor von op. 42 wohl als musikalische Entsprechung zur Malerei der Nazarener betrachten. Der sparsame Gebrauch von Dissonanz ist sicherlich auch mit der Orientierung an Palestrina verbunden, wie sie ästhetische Theoretiker wie Anton Friedrich Justus Thibaut forderten. Mit letztem war Mendelssohn persönlich bekannt. Mendelssohn übernahm teilweise aber nie vollständig diese ästhetische Position. Gleichzeitig blieb er nämlich ebenso stark von Bach und Händel, d.h. einer dramatischen Musikanschauung, beeinflusst. Zwischen diesen Polen oszilliert Mendelssohns geistliche Musik.

    Ja, das stimmt schon - aber das aufs ästhetische Umfeld zu schieben, verkennt m.E. wieder, dass es sich schlicht und ergreifend um geistliche Musik des 19. Jh., meinetwegen um vormoderne geistliche Musik, handelt. Der Glaube ist da vorausgesetzt, er wird nicht in der Komposition erarbeitet. Es ist nicht nur eine Frage der Ästhetik, sondern auch eine der Spiritualität.

    Ich denke, hier kann vielleicht auch ein Klassikhörer nachempfinden, wie es den Kollegen von Fürst Emmerich mit klassischer Musik generell geht - wenn einem schon der spirituelle Horizont der Komponisten fremd ist, kann man mit der Musik halt auch wenig anfangen.