Beiträge von Zwielicht

    Es handelt sich bei Kopatchinskajas Ausführungen nicht um eine "Assoziationskette", sondern - wie ja schon mehrfach gesagt - um eine konkrete Bezugnahme auf die Rezeptionsgeschichte von Mendelssohns Violinkonzert.


    Der Reihe nach mit Zitaten (https://www.facebook.com/watch/?v=10154327525044672, ab ca 12.30 - ich bediene mich bei der deutschen Synchronisation, weil ich das daruntergelegte englische Original akustisch nur teilweise verstehe): PK erwähnt den großen und anhaltenden Erfolg des Konzerts seit seiner Uraufführung, anschließend das Verbot der Aufführung von Mendelssohns Musik in Nazideutschland. Weiter: Vor kurzem habe ich ein Buch über Alma Rosé gelesen [...] [Sie] kam nach Auschwitz, wo sie ein Frauenorchester gründete. Sie haben dort auch Mendelssohn gespielt (im Original: They probably played...). Wahrscheinlich hatten die Nazis keine Ahnung, welche Musik das war. Oder sie ließen das Orchester einfach spielen. Sie spielten [ab jetzt auch im Original deutsch] zur Belustigung und Ermunterung der Insassen und Soldaten, als sie die Leichen geschaufelt haben oder [jetzt im Original wieder Englisch] vor den Gaskammern. Das steht für mich außerhalb der Vorstellung dessen, was Mendelssohn im Sinn hatte, als er das Werk komponierte. Diese Schönheit nun in Auschwitz, im Zentrum der Hölle, im Angesicht des Todes - vor diesem Hintergrund wird es für mich umso bedeutsamer, nach Schönheit zu streben. Und diese Schönheit ist existentiell.


    a) Der Bezug zu Auschwitz wird konkret über das Mendelssohn-Verbot in der NS-Zeit und über Aufführungen von Mendelssohns Musik im Vernichtungslager hergestellt, nicht über eine vage Assoziation.
    b) Fania Fénelon, Auschwitz-Überlebende und Mitglied bzw. Arrangeurin des sog. Mädchenorchesters, berichtet in ihrem Buch Sursis pour l'Orchestre (1976; dt. "Das Mädchenorchester in Auschwitz"), dass unter der Leitung von Alma Rosé das Orchester in Auschwitz auch Mendelssohns Violinkonzert aufgeführt habe. Auf dem zugehörigen Programm sei der Name Mendelssohn nicht erwähnt gewesen, nur die Bezeichnung "Konzert für Violine und Orchester". Aufgrund mangelnder Bildung des zuhörenden SS-Personals sei dies möglich gewesen. Fénelons Erinnerungen sind teilweise von anderen überlebenden Mitgliedern des Orchesters bestritten worden - ob auch diese spezifische Erzählung, weiß ich nicht.
    c) PK hat das nach eigener Aussage aus einem Buch über Alma Rosé erfahren (vermutlich: Richard Newman, Alma Rosé. Vienna to Auschwitz, 2002). Inwieweit sie das Gelesene aus der Erinnerung korrekt wiedergibt, weiß ich nicht. Jedenfalls scheint der Bezug zur Quelle Fénelon deutlich zu sein. Dass das Mädchenorchester auch "vor den Gaskammern" (PK) oder bei der Ankunft der Deportierten im Lager gespielt habe, haben Fénelon wie auch Anita Lasker-Wallfisch ausdrücklich bestritten.
    d) PK betont die unüberbrückbare Kluft zwischen dieser Aufführung des Violinkonzerts und Mendelssohns Intention bzw. (ich variiere das ungenau, bevor die 192. Diskussion über Komponistenintention beginnt) der Semantik des Werks im Kontext seiner Entstehung und Uraufführung.


    Man könnte PK vielleicht vorwerfen, dass etwas mehr Genauigkeit gerade bei diesem Thema angebracht wäre. Man könnte ihr auch ankreiden, dass manche ihrer Formulierungen, vielleicht auch die ganze Passage, in Richtung dessen tendieren, was Ruth Klüger als "KZ-Kitsch" bezeichnet hat.


    Legitim finde ich es aber, darüber nachzudenken, ob das Wissen um diese (wahrscheinlich bzw. womöglich erfolgte) Mendelssohn-Aufführung in Auschwitz Konsequenzen für eine heutige Aufführung haben kann oder sollte. Dass man die Rezeptionsgeschichte eines Werks bei dessen Interpretation mitbedenken kann, kennen wir auch etwa bei Beethovens Neunter (obwohl dieser Vergleich zweifellos etwas hinkt). Dass die Antwort von PK auf dieses Problem zumindest verbal reichlich vage, um nicht zu sagen banal bleibt, bestreite ich nicht.


    :wink:

    Auf der website von "La Petite Bande" lese ich gerade, dass das Buch auch auf Deutsch (und in anderen Sprachen) erhältlich ist. Bei jpc/amazon etc. finde ich allerdings keine Spur. Auch die deutsche Ausgabe erschien bei dem belgischen Verlag Lannoo. Möglicherweise wird es nur via "La Petite Bande" vertrieben.


    Auf der englischsprachigen Website steht ein im Vergleich mit der niederländischen Seite etwas erweiterter bzw. veränderter Text - dort wird die Sache deutlicher:

    Zitat von https://www.lapetitebande.be/en/bach

    An important detail is that the book will [sic!] is NOT available through regular channels, not even on line - it is distributed solely by LPB. This means that every euro goes to LPB.


    From February 2020, the book which Sigiswald Kuijken wrote in 2013 “Abide with us, Bach” is in promotion : the number of exemplars is now limited! You can obtain it by offering a donation to the orchestra (which is still suffering from the loss of all official subventions since several years) :

    • With a donation of 80 €, you receive the book + LPB’s CD-recording of cantata BWV 147
    • With a donation of 60 € , you receive the book without the CD

    How to proceed to donate?

    • Please, send us by mail (info@lapetitebande.be) the necessary information concerning your donation: your name, home address, the language in which you want to receive the book (English, French , German or Dutch), the number of books, the way of payment you will use. [...]
    • For transmitting your donation, you make a bank transfer to the bank-account of “Votre Petite Bande”
      IBAN: BE30 4310 6868 0111
      BIC: KREDBEBB


    :wink:

    das Lied als Quelle für Nuages (und angeblich auch den Beginn des 2. Teils von Stravinskys Le Sacre) gefunden, ohne irgendwelche negativen Anklänge (wie "gestohlen")

    Der deutlichste Bezug bei Strawinsky ist wohl der Beginn von Le rossignol. Wenn man abseits der irreführenden Diskussion um angebliche Plagiate diese Reminiszenzen (um mal zabkis Terminus zu gebrauchen) auch auf der semantischen Ebene betrachtet, dann fällt auf, dass es in allen drei Fällen um den Komplex Dunkelheit/Dämmerung/durchbrechendes bzw. gefiltertes Sonnenlicht geht. Ich verlinke auch noch mal die Ausführungen von Siglind Bruhn, die auf S. 62-65 alle drei Notenbeispiele bringt und Strawinsky hier (entgegen einer seiner Tagebuchnotizen) harmonisch näher an Debussy als an Mussorgsky sieht: http://edition-gorz.de/bru17-02b.pdf


    Würde ja gern mal hören, wie das klingt...

    Mussorgsky: https://www.youtube.com/watch?v=WkhAcvfh1gs (die Klavierbegleitung ab 4:16)
    Debussy in der Transkription für zwei Klaviere von Ravel (der besseren Vergleichbarkeit halber): https://www.youtube.com/watch?v=VVF4qUicxs8 (ab 0:05)
    Strawinsky, Le rossignol: https://www.youtube.com/watch?v=tcZJ_xamX1M (ab 0:21)


    :wink:

    Brachmann liegt übrigens falsch, wenn er behauptet, dass erst Taruskin die Parallele zwischen Nuages und Ohne Sonne analysiert habe. Wenn man ein wenig im Netz herumsucht, lässt sich herausfinden, dass zuerst Debussys früher Biograph Léon Vallas in den 20er Jahren auf diese Ähnlichkeit aufmerksam gemacht hat. Und dass sie seither in der Literatur immer wieder kontrovers diskutiert worden ist. Ich verlinke mal ein Kapitel aus dem Buch "Debussys Instrumentalmusik im kulturellen Kontext" (2019) der Musikwissenschaftlerin und Pianistin Siglind Bruhn, in dem sie sich kritisch damit auseinandersetzt: http://edition-gorz.de/bru17-02b.pdf (hier S. 62ff.).


    Die Auseinandersetzungen um vermeintliche Plagiate in der Beziehung Debussy-Ravel ist seit den Lebzeiten beider Komponisten ein Evergreen. Und dass in zwei dieser Fälle Debussys Stücke später entstanden sind als Ravels, weiß man auch schon sehr lange und nicht erst seit dem Büchlein von Siegfried Schmalzriedt (nicht "Schmalzried" wie bei Brachmann) von 2008. Der bekannteste Fall ist die Ähnlichkeit zwischen Ravels Habanera aus den Sites auriculaires von Ravel (1895) und Debussys Soirée dans Grenade aus den Estampes (1903). Dazu eine Analyse des Pianisten Jochen Scheytt: http://www.jochenscheytt.de/de…sywerke/soiree-ravel.html


    Brachmanns Anliegen, Wladimir Rebikow und überhaupt die Musik des russischen Symbolismus wieder ins Gedächtnis zu rufen, ist zweifellos ehrenwert. Überhaupt finde ich Brachmanns Artikel und Kritiken oft lesenswert. Leider schießt er aber immer wieder in mehrfacher Hinsicht übers Ziel hinaus. Im Grunde gibt es keine neuen Erkenntnisse: Der Aufsatz von Manfred Füllsack, auf den sich Brachmann in Bezug auf Rebikow anscheinend ausschließlich stützt, ist von 1998. Man kann ihn via JSTOR lesen (mit Universitäts- oder Bibliotheksaccount; ansonsten ist kostenlose Registrierung möglich): https://www.jstor.org/stable/9…etadata_info_tab_contents


    Füllsack rekonstruiert dort Rebikows musikalische Laufbahn und erstellt ein vorläufiges Werkverzeichnis. Die anscheinend notorischen Plagiatsvorwürfe stammen aus Rebikows eigenen Schriften, Füllsack enthält sich eines Kommentars. Immerhin stellt er auf S. 10 die inkriminierte Parallele (oder: eine dieser Parallelen) aus Rebikows op. 16 und Debussys Pélleas in Notenbeispielen gegenüber, ebenso auf S. 13 Akkorde aus Rebikows Bezdna (1907) und Skrjabins sog. Prometheus-Akkord (1910). Die vergleichende Analyse überlasse ich Berufeneren.


    Abgesehen davon wäre, wie hier ja auch schon gelegentlich diskutiert, neben dem analytischen Vergleich auch eine Differenzierung unterschiedlicher Formen und Funktionen entlehnter Motive/Akkorde/Partien notwendig: von ähnlichen oder gleichen Lösungen, die zwei Komponisten unabhängig voneinander zur gleichen Zeit finden (dass es sich bei den "diatonischen Clustern" von Cowell und Rebikow so verhält, konstatiert Brachmann selbst im Anschluss an - von ihm nicht benannte - Literatur von Michael Hicks und Herbert Henck), über Allusionen und Zitate (das liegt bei der Ähnlichkeit Nuages-Ohne Sonne nahe) bis hin zum "tatsächlichen" Plagiat.


    Außerdem ist zu berücksichtigen, dass in der beginnenden Moderne Anfang des 20. Jh. mit ihrem Fokus auf Innovation der Streit um die Urheberschaft an bestimmten Lösungen besonders erbittert geführt wurde. Nicht umsonst entstand damals ja auch das moderne Urheberrecht.


    :wink:

    Danke für die Auskunft! Ich will ja nicht als miesepetrig erscheinen :D , aber diese Ko-Autoren-Masche macht mich doch etwas missmutig. Nichts Halbes und nichts Ganzes, kein O-Ton, aber auch nichts, was gänzlich auf dem Mist eines beschreibenden und interpretierenden Autors gewachsen wäre, sondern irgendwas dazwischen. Wie ja auch bei dem mit Hilfe von Frau Lemke-Matwey :rolleyes: verfassten Wagner-Buch Thielemanns.


    Lesenswert fand ich das in Form eines Dialogs gehaltene Buch mit Julia Spinola und Herbert Blomstedt, auch wenn manchmal von Seiten der Autorin kritisches Nachfragen statt Stichwortgeben interessanter gewesen wäre:




    Und bemerkenswert, obwohl im Kern nicht mehr aktuell, weil überwiegend in den 90ern verfasst:



    Auch hier ein paar Banalitäten und ermüdende Passagen. Aber neben den unvermeidlichen und oft ja auch lesenswerten Anekdoten sehr viel Grundsätzliches und Erhellendes zur Musikpraxis, z.B. Orchesteraufstellung, Proben, Dialog mit Regisseuren, Gewichtung von Akkorden in Beethovens Hammerklaviersonate usw.


    :wink:

    Gerade neulich gehört, dass das Alban-Berg-Quartett das erste "hauptamtliche" Quartett aus den Reihen der Wiener Philharmoniker war.

    Neuer Thread "Gerade neulich gehört"... ;) Meines Wissens ist Günter Pichler das einzige ABQ-Mitlied, das vorher bei den Wiener Philharmonikern war. Klaus Maetzl war Konzertmeister der Symphoniker, Thomas Kakuska Solobratscher bei den NÖ-Tonkünstlern. Gerhard Schulz, Hatto Beyerle und Valentin Erben hatten nie eine feste Orchesterstelle. Schulz und Erben haben allerdings ab 2003 in Abbados Lucerne Festival Orchestra mitgespielt.


    In den letzten drei Jahren des Bestehens (2005-2008) hat ja dann tatsächlich auch eine Frau Einzug beim ABQ gehalten: Isabel Charisius als Nachfolgerin des verstorbenen Thomas Kakuska, vorher Solobratscherin bei den Münchner Philharmonikern. Ein Puzzlestück für Wielands Hypothese. ;)


    Das ABQ hat manchmal übrigens im Großen Saal der Frankfurter Alten Oper (weit über 2000 Plätze) gespielt, nicht im Mozartsaal wie alle anderen Quartette. Und der Saal war fast voll, wenn ich mich richtig erinnere. Also: Voll mit Publikum. Nicht mit Klang. Das schafft kein Streichquartett der Welt.


    :wink:

    Da haben sich doch mal zwei gefunden :D : Brüggemann, der sich auf jedem denkbaren Social-Media-Kanal tummelt und sich auch sonst für nichts zu schade ist, und Welser-Möst, der (laut Rezension des Buchs in der Wiener Zeitung) von sich behauptet: "Von mir gibt es keine Bilder aus dem Fitnessstudio bei Instagram, keine Facebook-Posts aus meinem privaten Umfeld und keine Tweets in Badehose." (Ich frage mich, von welchem Dirigentenkollegen Welser-Mösts es Instagram-Bilder aus dem Fitnesstudio oder Tweets in Badehose gibt... Hauptsache, mal wieder einen Pappkameraden aufgestellt.) Ist das eigentlich ein Gesprächsbuch oder hat Brüggemann aus den Linzer Lebensweisheiten eine Sauce angerührt?


    Wobei ich Welser-Mösts Dirigat der aktuellen Elektra in Salzburg, soweit ich das vom Livestream her beurteilen kann, exzellent fand.


    :wink:

    In Amsterdam hat man sich nach meinem Eindruck in eine ziemliche Sackgasse manövriert. Die Entlassung Gattis, die internen Auseinandersetzungen, die seltsame Dreierliste, dann wieder das Schweigen im Walde...



    In München läuft es wohl auf eine schnelle Entscheidung hinaus, auch weil Intendant Ulrich Wilhelm - der dem Orchester immer Rückendeckung gegeben hat - demnächst den BR verlässt und möglicherweise noch schnell die Nachfrage regeln möchte, bevor die große Sparwelle kommt. Diesen Artikel in der "Abendzeitung" finde ich deutlich informativer als den mal wieder sehr unkonkreten in der SZ: https://www.abendzeitung-muenc…94-b4f6-a8182aca1a99.html


    Kann gut sein, dass es auf Rattle hinausläuft. Der lädt sich ja gerade selbst zum zweitenmal innerhalb von Wochen nach München ein und hat schon vorher gern und oft mit dem Orchester gearbeitet. Bei Rattles LSO wie bei den anderen großen Londoner Orchestern gibt es z.Zt. anscheinend keine Perspektive, ganz im Gegenteil - die Londoner Klangkörper leben nur zu einem kleineren Teil von öffentlichen Mitteln, sind auf Konzerte und insb. auf Tourneen angewiesen und rutschen deshalb mit etwas Pech und so wenig politischer Unterstützung wie bisher teilweise in die Insolvenz.


    Das Konzert des BR-Orchesters mit Welser-Möst ist in der überhaupt reichlich meinungsstarken Münchner Presse so heftig und einhellig ("als hätte es Harnoncourt nie gegeben") verrissen worden, dass zumindest klar ist, wer als Chefdirigent einen schweren Stand hätte... Ich hab mir dann mal in der Aufzeichnung des Livestreams die Prager Sinfonie angehört (https://www.br-so.de/video/igor-levit-franz-welser-moest/): sicher keine große Ruhmestat, eher guter Durchschnitt mit einer immerhin recht profilierten Durchführung im Kopfsatz - aber auch kein Unglück (Rattles Gran Partita neulich schien mir nicht wesentlich geglückter). Das Orchester klopfte Welser-Möst nach der Aufführung allerdings ziemlich kräftig Beifall.


    :wink: