Klebe, Giselher (1925-2009), leidenschaftlicher Wunsch nach Klarheit
Giselher Klebe wurde in Mannheim geboren und wuchs nach Stationen in München und Rostock ab 1936 in Berlin auf. 1938 wurde er Zeuge der Zerstörung der Synagoge in der Fasanenstraße, ein Erlebnis, welches ihn tief empörte und verstörte. 1940 begann er das Musikstudium in den Fächern Violine, Viola und Komposition. Einer seiner Lehrer stellte seinen Studenten heimlich als "entartet" verfemte Musik vor. Als Jugendlicher hat Klebe eine Zeitlang für Wagner geschwärmt, hat sich sogar einmal von einer Freundin abrupt getrennt, weil die seine Begeisterung für den "Siegfried" nicht recht teilen konnte. Kurz darauf lernte er die Geigerin Lore Schiller kennen, mit der er bis zur ihrem Tod im Jahre 2001 unglaubliche 60 Jahre lang eng verbunden zusammen lebte. 1943 wurde er zum Militärdienst eingezogen, geriet bei Kriegsende in russische Gefangenschaft, hatte aber das Glück, schon kurze Zeit später entlassen zu werden. Die Szene, in der eine imposante russische Militärärztin diese Entscheidung über sein Leben traf, hat er mir sehr eindringlich und dabei durchaus komisch beschrieben. Nach schweren gesundheitlichen Problemen setzte er sein Musikstudium 1950 zunächst bei Josef Rufer, dann bei Boris Blacher fort. Nebenher arbeitete er als "Bandprüfer" beim Berliner Rundunk, wo, wie er mir erzählte, seine Aufgabe darin bestand, alte Bänder darauf zu überprüfen, ob sie nicht versehentlich mit Resten der politischen Vergangenheit "verseucht" waren. Aus dieser Zeit resultierte seine schier unfassbare Literaturkenntnis: Mir ist nie jemand begegnet, der eine derart riesige Menge an Musikwerken verschiedenster Epochen, Besetzungen und Stile gekannt hat. Seine größte Liebe galt dabei Verdi und Haydn. An beiden bewunderte er die absolute Klarheit der musikalischen Sprache, an Verdi vor allem das Vertrauen in die Kraft der Melodie, die motivisch-thematische Prägnanz, an Haydn den unerschöpflichen formalen und ausdrucksmäßigen Einfallsreichtum.
Ebenfalls 1950 wurde in Donaueschingen sein Orchesterstück "Die Zwitschermaschine, Metamorphosen über das Bild von Paul Klee" uraufgeführt, welches ihn mit einem Schlag berühmt machte. 1957 veröffentlichte er seine erste Oper "Die Räuber" nach Schiller, die von der Kritik als “stilistisch konsequenteste und originellste Opernpartitur seit Bergs 'Wozzeck' und Schönbergs 'Moses und Aron'" eingstuft wurde. Ab 1957 unterrichtete er an der Nordwestdeutschen Musikakademie in Detmold (heute Hochschule für Musik), zunächst als Dozent, seit 1962 bis zu seiner Pensionierung 1990 als Professor. Sein umfangreiches Werk erstreckt sich über fast alle Gattungen und Besetzungen, im Zentrum stehen dabei die insgesamt 14 Opern. Seine letzte Oper und sein letztes vollendetes Werk überhaupt war "Chlestakows Wiederkehr" nach Gogols "Revisor", 2008 fertiggestellt und uraufgeführt. Klebe erfüllte sich damit seinen Traum, wie sein großes Vorbild Verdi am Ende seines Lebens eine komische Oper zu schreiben. Ganz am Ende zitiert er die Schlussfuge aus "Falstaff".
Klebe wurde mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen und Ehrungen ausgezeichnet, darunter der Kunstpreis der Stadt Berlin (1952), der Preis Mauricio Fürst der IGNM Stockholm (1956), großer Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen (1959), zwei Rom-Stipendien in der Villa Massimo (1959 und 1962/63), Premio Marzotto, Valdagno (1964), Annette von Droste-Hülshoff-Preis (1965), Bundesverdienstkreuz (1970 und 1999), Kompositionspreis und Ehrendirektorat des Weltharfenkongresses Kerkrade (1977). Er wurde zum Mitglied der Akademie der Künste Berlin, der Bayerischen Akademie der Künste München und der Freien Akademie der Künste Hamburg gewählt. Zwischen 1986 und 1989 war er als Nachfolger von Günter Grass und als Vorgänger von Walter Jens Präsident der Akademie der Künste Berlin.
In einem Gespräch mit dem Bärenreiter-Lektor Michael Töpel anlässlich seines 75. Geburtstag antwortete Klebe auf die Frage nach dem "eigentlichen Ziel [seiner] kompositorischen Arbeit":
Was mir musikalisch vorschwebt, versuche ich immer noch einfacher, noch prägnanter, noch klarer auszudrücken, so dass man es möglichst leicht erkennt, wobei die leichte Erkennbarkeit wahrscheinlich leichter fällt als der Weg dahin, der ist mitunter alles andere als leicht zu begehen."
Im Programmheft zur Aufführung seiner Oper "Der jüngste Tag" am Landestheater Detmold im Jahre 2000 äußerte er sich noch ausführlicher:
"In meiner Musik kenne ich nur eine Leidenschaft: die zur Klarheit, zu der mir größtmöglichen Einfachheit und zu einem Form und Gestalt bestimmenden umfassenden Ausdruck. (...) Mir genügen bei der Gestaltung einer Komposition nicht einzelne isolierte Parameter, sondern ich strebe immer die Integration aller musikalischen Sprachgestalten an, also die der Melodie, der Hamonie, der Klangfarben und des Rhythmus. Dabei liebe ich das Experiment nur in Hinblick auf das zu integrierende Ergebnis, nie um seiner selbst willen. Im Zentrum meiner Arbeit steht die Oper und zwar ausschließlich konzentriert auf die Form, in der der singende Mensch im Mittelpunkt steht. So, wie ich keinen Bruch zwischen alter und neuer Musik erkennen kann, sondern nur eine Evolution, die spiralförmig um eine menschlich verständliche Aussage kreist, sehe ich in meiner kompositorischen Entwicklung nur Etappen eines einheitlichen Weges."
Giselher Klebe starb nach schwerer Krankheit am vergangenen Montag, heute wurde er beigesetzt. Seinem Wunsch gemäß wurde ein Ausschnitt aus Haydns Streichquartett op. 54 Nr. 2 gespielt, über das er in seinem Testament schrieb:
"Gestern abend hörte ich wieder einmal op. 54,2 von Haydn. Ich möchte Euch bitten, daß dieses Quartett gespielt wird. Sein Ausdruck, seine Struktur ist mir so verwandt - besser kann man von mir nicht erzählen."
Ich kannte Giselher Klebe seit 27 Jahren, habe hunderte Stunden mit ihm über Musik, aber auch über sonstiges Erhabenes und Profanes gesprochen. Er überraschte mich immer wieder mit neuen Facetten, so z.B. als er mir offenbarte, ein großer Fan von "Insterburg und Co." zu sein und tatsächlich gleich ganze Sketche auswendig vortrug. Ich hatte das große Glück, mehr als zehn Kompositionen von ihm uraufzuführen und habe etliche weitere seiner Werke mit großer Freude erarbeitet. Ich habe mit ihm einen unersetzlich wertvollen Freund, einen großen Künstler und einen wunderbaren Menschen verloren, dessen vollkommen uneitle Größe von jedem, auch und gerade von musikalischen Laien und sogenannten "einfachen Menschen" erkannt wurde. Die Hochschule für Musik Detmold plant (voraussichtlich für den 22. November) zusammen mit dem Landestheater ein Gedenkkonzert.
Viele Grüße,
Christian