• Kam es Dir denn so absurd vor, was ich geschrieben habe?!

    Absurd überhaupt nicht. Doch ich meinte einen ganz leisen Versuch der Veräppelung herauszulesen. Jetzt hast Du es richtiggestellt. :)

    Gurnemanz' Argument, das Publikum sei heutzutage ohnehin auch ohne Werkeinführung gründlich informiert, beiß sich in den Schwanz - wofür gibt es sie denn dann?

    "Gründlich" habe ich nicht gesagt: Der Stand der Information dürfte ohnehin recht unterschiedlich sein. Insofern passen Werkeinführungen und Informiertheit durchaus zusammen.

    Doch ich räume ein: 4'33'' auf ein relativ unvorbereitetes Publikum loszulassen, hätte auch seinen Reiz. Übrigens ist dieser Kurzbericht nicht uninteressant.

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • 4'33'' und Seven² - ein Konzertbericht aus dem Jahr 1990

    Lieber Gurnemanz,

    danke für deine schöne und anregende Einführung, die Diskussion beweist es.

    Du hattest offensichtlich eine ganz andere Erfahrung mit dem stillen Stück von Cage machen können als ich vor sehr vielen Jahren in Erlangen - unter Anwesenheit von John Cage selbst, der sich am Ende des Konzertabends höflich und auch ein bisschen schelmisch verneigte und den langen Applaus der noch Dagebliebenen (!) genoss. Cage war sichtlich underdressed mit seiner Jeans und seinem Arbeiterhemd, ganz im Kontrast zu den Ausgehuniformen der zumeist gutbürglich-akademischen Besucher.

    Ich konnte jetzt herausfinden, dass der Cage-Konzertabend im September 1990 im Rahmen des (von Siemens gesponserten) "Festival des Hörens" in der Erlanger Stadthalle stattfand. Im ersten Teil des Abends standen einige der Stücke für präpariertes Klavier auf dem Programm, die mich damals aber eher langweilten. Dann stand 4'33'' auf dem Programm. Es gab nur eine kurze Ankündigung, aber keinerlei erläuternde Hinweise für das unbedarfte Publikum. Ich gehörte allerdings zu den Wissenden, da der Freund, mit dem ich gekommen bin, ein Student der Musikwissenschaft, mich vorher über die Natur des Stückes aufklärte. Also fehlte bei mir der Überraschungseffekt; stattdessen freute ich mich schon darauf, arrogant wie ich damals war, einen kleinen Kunstskandal mit aufgebrachten Bildungsspießern erleben zu können. Nicht eigentlich die angemessene Haltung, um das Stück von Cage wirklich würdigen zu können. Aber ich wurde nicht enttäuscht.

    Nachdem der Dirigent den Musikern das Zeichen zum Einsetzen gab, hörte man - nichts. Nicht ganz, man hörte vielmehr ein Knistern, dann Räuspern, dann die ersten Murmelgeräusche und Kicherer und schließlich stieg der Lärmpegel im Konzertsaal langsam, aber stetig an. Die ersten Zuhörer verließen erbost ihre Sitzplätze und gaben nicht zitierfähige Äußerungen von sich. Einige gaben ihr Missfallen durch Indianerrufe kund. Und manch einer knallte auch die Tür zu, als er ging. So leerten sich nach und die Sitzreihen, nur geschätzt jeder zweite Besucher blieb.

    Den Leuten, die sich aufregten, hätte man langweilige Barock- oder Romantikmassenware vorsetzen können, die sie nach einem arbeitsreichen Tag in einen angenehmen Schlummer versetzt hätte, ohne dass sie ihr Geld zurückverlangen - aber ein paar Minuten Stille, das ist ein Skandal. Dafür haben sie nicht ihr "gutes Geld" ausgegeben. Schon komisch. Kunst ist ja keine Ware, der Preis für eine CD oder ein Konzert steht in keiner nachvollziehbaren Relation zur Qualität eines Stückes. Aber da verstehen viele keinen Spaß, wenn sie nicht für ihr Geld gespielte Noten vorgesetzt bekommen. Dabei hat John Cage ihnen nicht mal 5 Minuten ihres wertvollen Lebens gestohlen, das ist nichts im Vergleich zu dem, was einem eine tägliche mehr oder weniger entfremdete Arbeit stiehlt. Man konnte meinen, dass diesen Leuten der Spiegel ihrer Existenz vorgehalten wurde und sie sich deshalb so echauffierten, ihre gestaute Aggression nur am falschen Ort herausließen.

    Wer in den Konzertsaal geht, der möchte eben "Kunst" vorgesetzt bekommen, die zu seinem Alltag in wohltuenden Kontrast steht. (Also harmonischer, spannender, sinnlicher etc. ist.) Aber nicht "Antikunst". Darin besteht ja Cages Provokation: Nicht den Alltag draußen lassen, sondern ihn hereinlassen. Auf die Musik hören, die alltäglich und nicht gemacht ist, die Musik der Stille, die keine ist. Ich muss zugeben, dass ich mich auch nicht im Sinne des Meisters verhalte, wenn ich mit Ohrenstöpseln auf die Straße gehe und mich in meine Musikkapsel abschließe, anstatt die Geräusche da draußen wie Musik wahrzunehmen.

    Der nach dem Skandal folgende Programmteil war für mich der Aufregendste. Cage hatte für des "Festival des Hörens" eine Auftragskomposition angefertigt, einer seiner in seinen letzten Jahren zahllosen sog. "Nummernkompositionen". Wenn ich richtig recherchiert habe (meine Erinnerung war zu schwach), dann muss es sich um das Stück Seven² gehandelt haben, über das ich folgende Information fand:

    Seven²

    Dated: 1990 (before July 23)

    Instrumentation: Bass flute, bass clarinet, bass trombone, two percussionists (instruments not specified), violoncello and contrabass

    Duration: 52'

    Dedicated to: for Heinz Klaus Metzger and Rainer Riehn

    ---

    Published: Edition Peters 67351 © 1990 by Henmar Press

    Manuscript:
    Sketches (holograph in ink - 2 lvs. Folder 829); Parts (holograph, signed, in ink - 18 lvs. Folder 830); 7 parts, incomplete (galley proofs with holograph annotations in ink - 23 lvs. Folder 831), all in New York Public Library

    [Commissioned by the Festival des Hörens, Erlangen (Germany)]

    Seven bezeichnet die Anzahl der zum Einsatz kommenden Instrumente bzw. Mitspieler, die Hochzahl ² zeigt an, dass dies das 2. Stück für sieben Instrumente ist. Jeder Spieler hat sog. "Zeitklammern" (time brackets) vor sich, das sind ganz kurze Notationsanweisungen (oft nur aus einem Ton bestehend), mit genauer Angabe (in Minuten und Sekunden), in welchem Zeitraum die Note(n) zu spielen ist (sind). In manchen Nummernstücken kann die Zeitangabe aber auch variabel sein, d.h. der Spieler hat dann z.B. einen Zeitraum von 15 Sek., wo er frei wählen kann, wann er beginnt. Ich glaube, so war es auch in Erlangen. Ich meine mich zu erinnern, dass manchmal zwei Instrumente sich überlappten, aber oft nur ein einziges Instrument zu hören war - immer mit einem langen angehalten Ton. Die Intervalle der aufeinanderfolgenden Noten waren nicht dissonant, meine ich, sondern oft in Quartabständen. (Schade dass ich das nicht mehr weiß!). Die obige Angabe, dass das Stück 52 Minuten dauerte, entsetzt mich ein bisschen, so lange kam mir es in der Erinnerung nicht mehr vor. In dieser Musik passierte nicht sehr viel, und ich weiß auch nicht, wie hoch die kompositorische Leistung anzusetzen ist. Aber ich erinnere mich noch sehr deutlich, dass ich nach dem Konzert in einen Trancezustand geriet, es war als hörte ich draußen im Freien plötzlich Sphärenmusik, für die ich vorher taub gewesen bin. Eine sehr ungewöhnliche Erfahrung, die ich John Cage zu verdanken habe!

    Cage hat solche Nummernstücke fast wie am Fließband herausgehauen (s. englische Wikipedia unter "number pieces"), oft mit ziemlich originellen Ideen. Eines davon stellt eine Umformung von 4'33' dar, deshalb sei es hier zitiert:

    one³
    unspecified (amplified ambient sound)
    late 1989

    Full title: One3 = 4′33″ (0′00″) + [Blockierte Grafik: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/f/ff/GClef.svg/9px-GClef.svg.png]
    There are no time brackets. The performer is to arrange a sound system so that the "the whole hall is on the edge of feedback, without actually feeding back." Thus the composition consists entirely of electronically amplified sound of the hall and the audience.

    Ach ja, wer mit der Musikwelt von John Cage nähere Bekanntschaft machen möchte, dem lege ich dringend seinen Water walk ans Herz, den er 1960 in der Spielshow "I've Got a Secret" vor einem sehr amüsierten Studiopublikum aufführte:

    "

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    Durch die Aktivierung der externen Inhalte erklärst du dich damit einverstanden, dass personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu haben wir in unserer Datenschutzerklärung zur Verfügung gestellt.
    "

    Das Timing und wie gut Cage die Geräusche komponiert, ist sehr beachtlich und zeugt neben Humor auch von hoher präziser Musikalität, sollten daran Zweifel bestanden haben.

    Grüße,
    Jürgen

    --

    "Wo die Beziehung zu unseren heutigen Ohren, Nerven, Erfahrungen und Lebensbedingungen verlorengeht, wird Interpretation zur Flucht in die Vergangenheit."
    Alfred Brendel

    "Music is a fish defrosted with a Hair-Dryer." Maisie

  • Ich denke, Cage hat eine ähnliche Stellung in der Musik wie Joseph Beuys in der Bildenden Kunst: Alles wird machbar, wenn es nur zu Kunst deklariert wird, der intentionale Akt wird wichtiger als der Inhalt. Die radikale Emanzpation eines jeden zum potentiellen Künstler findet statt - 4'33" kann jeder aufführen, wenn er es nur mit der entsprechenden Intention tut. Wie entscheidet man, was man tut, wenn alles möglich ist? Gute Interpreten von Cages Musik wie z.B. David Tudor haben von der enoremn Verantwortung gesprochen, die Cage an den Interpreten weiterreichte.

    Ich denke auch, daß dieses Stück nach wie vor provokative Reaktionen auslösen kann und wenn, dann unvorbereitet gespielt werden sollte - dann würde man merken, daß sehr viele Entwicklungen an einem großen teil des Publikums spurlos vorbei gerauscht sind. Ich habe ähnlcihes mal in einem Konzert mit parodistischen Werken von Hindemith erlebt ...

    ich kann mich auch noch daran erinnern, wie ich im Radio den Mitschnitt von der Urausfführung von 4'33" gehört habe - den müsste es auch auf CD geben, als Dokumentation eines historischen Konzerts mit Cages Musik. Oder irre ich mich da? Hier ist es anscheinend doch nicht drauf ...

    Es ist wie als ob sich an einer Diskussion über Cage immer sofort alle Grundfragen über Sinn und Zweck von Musik einstellen.

  • Nachdem ich gerade mit großem Vergnügen eure Beiträge gelesen habe :juhu: , bin ich jetzt auch von diesem anregenden Werk überzeugt. :D (Aber trotz des Grinsens, das ich mir nicht verkneiffen kann, meine ich das durchaus ernst.)

    Eigentlich sollte man 4'33'' in jedem Konzert als erstes Stück aufführen. Die Leute hetzen aus ihrem lauten, hektischen Alltag in den Konzertsaal, bis zur letzten Minute wird noch gehustet, gequatscht, geraschelt und dann wollen sie im Kopf schon mit dem ersten Takt aufnahmefähig sein für die Musik.
    Man könnte es aber auch wunderbar als Zugabe spielen.

    Am besten beides. Das wäre, jenseits des Spaß an der Provokation eines unvorbereiteten Publikums, ein großartiger Effekt solch einer meditativen Exerzitie, was m.E. auch nichts mit Esoterik zu tun haben muß - was immer auch Cage dazu meinen mag.

    Denn ich habe auch schon solche Erfahrungen, wie Carsten sie hier sehr schön beschrieben hat gemacht, öfter aber geht es mir am Ende eines Konzerts auch so, dass ich den Applaus sehr störend empfinde und lieber die Musik noch etwas nachklingen lassen würde. Ich bin dann immer froh, wenn ich dafür die Möglichkeit habe, kurz rauszugehen.

    Für Talestris Vorschlag der anfänglichen Pause zur gemeinsamen Sammlung spricht für mich sehr die Erfahrung, die ich mit vielen Chicagoer Jazz-Gruppen gemacht habe. Dort scheint es inwischen bei sehr vielen Ensembles üblich zu sein, dass die Musiker, nach dem Anfangsapplaus, wenn sie auf die Bühne kommen, erst einmal um Ruhe bitten und dann durchaus häufig in Cager Länge scheinbar "nichts" passiert, d.h. sie und das Publikum die Chance bekommen, sich erst einmal zu konzentrieren. Entwickelt hat sich das hier wohl ausgehend von einigen afro-amerikanischen Bands, von denen viele Musiker diese Meditationsphase mit Verneigungen gen Mekka verbanden, ist aber auch säkularisiert inzwischen von einigen Bands auch überwiegend weißer Musiker der Chicagoer Jazz-Avantgarde übernommen worden.

    Gut gefallen hat mir auch Gurnemanz Vorschlag, sich mal als Hör-Flaneur durch den tönenden Alltag zu bewegen. Das kann vielleicht auch eine gute Exerzitie sein, sich unbefangen staunend dem Klangstrom moderner Werke hinzugeben.

    :wink: Matthias

  • Zitat: wo habe ich behauptet, dass das die einzig beiden Stücke sind, die Du
    von Cage kennst? Ich wollte Deine Liste lediglich um wegweisende Werke
    bzw. Werkgruppen ergänzen, die Deiner Auffassung nahekommen dürften.

    Dann habe ich Dich schlicht mißverstanden

    Zitat: Wie lange kennst Du 4'33'' schon und bist Du in der Zeit, bevor Du das
    "Werk" kanntest zwischen Zähneputzen und Frühstück auf die Idee
    gekommen, ein ebensolches "Werk" zu "schaffen".

    Ich weiss halt schon recht lange dass es das Werk gibt, habe aber darauf verzichtet es auf CD zu erwerben und habe mich auch nicht bemüht, eine Aufführung zwecks Besuches ausfindig zu machen - eine entsprechende Idee hatte ich zwischen Frühstück und Zähneputzen nicht, aber sicherlich einige andere, die ich dann aus verschiedenen Gründen nicht realisiert habe, z.B. die, alle Richterkollegen für einen Tag in eine 4-Mann-Zelle zu stecken, nur begleitet in Handschellen aus dem Gebäude zu lassen und die persönlichen Gegenstände abzunehmen, zur Schärfung der Sinne und Hinterfragung der beruflichen Tätigkeit...........


    Zitat: Nein, ich glaube schon, dass Du in einem normalen
    Abonnements-Symphoniekonzert heute nur zu einem geringen Teil auf ein
    "vorinformiertes" Publikum stoßen würdest, wenn Du mit ihm 4'33''
    aufführen wolltest.

    Da würde ich sogar bekanntes Körperteil drauf verwetten


    Gruß
    Henning

    Stattdessen sind Sie Knall und Fall mitten im Unterricht vom Gymnasium abgegangen.
    GULDA: Ja, ich hab' gesagt, Herr Professor, darf ich aufs Klo, und bin nicht wiedergekommen. Ich glaub', es war in der Mathematikstunde .
    Warum sind Sie nicht in der Pause gegangen?
    GULDA: Das wär' ja fad gewesen. Keiner lacht. Die Tür ist eh offen. Ich wollte schon, daß es prickelt.

  • Durch Gurnemanz' wirklich schönen Einführungspost ist beim Lesen tatsächlich eine Art Cagesche Stille über mich gekommen. Danke dafür!


    Das Stück ist mittlerweile auch im schulmusikalischen Bereich ein Klassiker. Ich kenne etliche Berichte von Kollegen, einmal wurde ich auch zu einer Vorführung in einer 10. Klasse eingeladen. Hier gab es denn auch durch Hintergrundwissen unverbaute Reaktionen, was dann zwar keine ruhige, dafür aber umso interessantere Hörerfahrung nach sich zog.


    Von ungeduldigen Zwischenrufen über hilfloses oder hämisches Gekicher und offenes Gequatsche bis hin zu ärgerlichen Psssts und darauffolgenden Ruheperioden war hier alles geboten. Die Schülerin, die das Stück aufführte (sie hatte illegal kopiertes Notenmaterial vor sich liegen, trug aber über weite Strecken auswendig vor) legte grandiose Ernsthaftigkeit und höchste Konzentration an den Tag, so dass ich sie hinterher fragte, ob sie nicht in die Schauspieltruppe der Schule einsteigen wolle.


    Die vielleicht aufschlussreichste Reaktion der Schüler hinterher war die Aussage: "Jetzt haben wir endlich mal gehört, was Lehrer hören, wenn wir zuhören oder nicht."


    audiamus

    "...es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen." - Johannes Brahms

  • Zitat von »ChKöhn«
    Im Grunde gelten Deine Einwände für alle sogenannten "Werkeinführungen". Dem Gewinn an Aufmerksamkeit, an bewusstem Zu-Hören steht ein Verlust an Unmittelbarkeit gegenüber.


    Nein, bitte - kein anderes Werk ist so sehr auf den Zuhörer als Mitschaffenden angewiesen! Die Reaktionen verändern sich doch extrem durch so eine Einführung. Gurnemanz' Argument, das Publikum sei heutzutage ohnehin auch ohne Werkeinführung gründlich informiert, beiß sich in den Schwanz - wofür gibt es sie denn dann? Nein, ich glaube schon, dass Du in einem normalen Abonnements-Symphoniekonzert heute nur zu einem geringen Teil auf ein "vorinformiertes" Publikum stoßen würdest, wenn Du mit ihm 4'33'' aufführen wolltest.

    Dass es die Werkeinführung hier gab, beweist natürlich nicht, dass das Publikum vorher keine Ahnung hatte, was sich hinter der Konzertankündigung "4'33''" verbirgt. Und ob wirklich kein einiziges anderes Werk so sehr auf die Mitwirkung des Zuhörers angewiesen ist, wage ich zu bezweifeln: Beethovens Große Fuge oder auch Ligetis "Poème symphonique" für 100 Metronome wären z.B. weitere Kandidaten. Im Übrigen hast Du mich offenbar missverstanden: Ich finde Deine Einwände gegen diese Art Einführung durchaus berechtigt. Aber eben nicht nur bei 4'33'' sondern auch in vielen anderen Fällen. So war ich z.B. nach Andras Schiffs rund eineinhalbstündigen Vortrag über die letzten drei Beethoven-Sonaten allen Ernstes in Versuchung, noch vor dem anschließenden Konzert nach Hause zu gehen, weil ich nicht das Gefühl hatte, noch irgendwelche Überraschungen erwarten zu können (ich bin dann doch geblieben, fühlte mich aber im Nachhinein in meinen Bedenken durchaus bestätigt). Einführungen müssen m.E. so beschaffen sein, dass sie die Neugier wecken, nicht stillen.

    Viele Grüße,

    Christian

  • Das Stück ist mittlerweile auch im schulmusikalischen Bereich ein Klassiker.

    Das erinnert mich an eine Geschichte, die ein Freund mir erzählt hat. Zu seiner Abiturfeier vor so 25 bis 30 Jahren wurden er und ein ebenfalls Klavier spielender Mitschüler gebeten, ein kleines Konzert zu geben. Sie haben dazu eine selbst erstellte Bearbeitung von 4'33'' für 2 Klaviere ausgewählt. Dummerweise gab es in der Aula der Schule nur einen Flügel, und es war ausgeschlossen, das Werk in einer nochmals umgearbeiteten Fassung für Klavier 4händig zu geben. Also wurde aufwändig der Flügel aus der Musikklasse vom anderen Ende der Schule und aus einem anderen Stockwerk eigens für das Konzert in die Aula gebracht. Es wird berichtet, dass sich anschließend die Begeisterung des Lehrpersonals in engen Grenzen gehalten hat.
    :sev:

    Es gibt kaum etwas Subversiveres als die Oper. Ich bin demütiger Diener gegenüber diesem Material, das voller Pfeffer steckt. Also: Provokation um der Werktreue willen. (Stefan Herheim)

  • RE: 4'33'' und Seven² - ein Konzertbericht aus dem Jahr 1990


    one³
    unspecified (amplified ambient sound)
    late 1989

    Full title: One3 = 4′33″ (0′00″) + [Blockierte Grafik: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/f/ff/GClef.svg/9px-GClef.svg.png]
    There are no time brackets. The performer is to arrange a sound system so that the "the whole hall is on the edge of feedback, without actually feeding back." Thus the composition consists entirely of electronically amplified sound of the hall and the audience.

    Wenn ich mich richtig erinnere, ist es doch so, dass der Auszuführende dieses System tatsächlich bauen/installieren soll (womöglich sogar innerhalb von 4 Minuten 33 Sekunden?) und dann die Aufführung 0 Minuten 0 Sekunden dauert, weil es eben nicht feedbacken solle, oder? Insofern wäre der letzte Satz leicht inkorrekt... :)

    :wink: Philipp

  • :) Es sind ja wirklich lustige Geschichten, die sich um das Werk 4´33", das tatsächlich keines ist, ranken.

    Wenn ich nichts zu hören bekomme, dann gibt es auch nichts zu verstehen, außer der Erkenntnis, das hier ein Komponist einen netten Witz herausgebracht hat. Das akzeptiere ich hiermit und damit fertig...... ;+) Deswegen würde ich Cage jetzt nicht at acta legen !

    Die von micha abgebildete CD von Hungaroton mit der Amadinda Percussion Group, ist die erwähnte CD die ich von 4`33" habe. Und es ist wirklich gleichermaßen lustig, wie verwunderlich, das so etwas auf CD gebannt wird. Micha hat es nochmal beschrieben, was man zu hören bekommt: Neben Autogeräuschen auch Kirchenglocken und Hahngeschrei leise im Hintergrund, außerhalb des Aufnahmesaals.


    Zitat


    Zitat von Gurnemanz:

    Eine andere Erfahrung, die jeder selbst ausprobieren kann: Ich fahre regelmäßig Straßenbahn und Bus. Wenn ich in der richtigen Stimmung bin, setze ich mich in mein Eck, schließe die Augen, stelle mich schlafend (ein in Bus oder Bahn schlafender Mensch fällt nicht besonders auf) und höre auf die Geräusche ringsum: die Gespräche, Lachen, die Fahrgeräusche usw. und versuche es, wie Musik zu hören. Wichtig: Ich bin ganz für mich und trete nicht in Kontakt, agiere nicht nach außen. Es geht - und das Hörerlebnis ist interessant und kann spannend sein: tatsächlich kann der Eindruck von einer Art musikalischer Entwicklung entstehen - eine Meditation, die ich abhalte, wobei ich dazusagen muß, daß ich ansonsten nicht zu meditieren pflege, schon gar nicht mit irgendeinem esoterischen Ansatz. Es geht mir nur um eines: zu hören.


    Richtig, das kann man machen, aber dazu braucht man kein 4`33" um zu dieser Meditationsübung eine Anregung zu bekommen.


    Henning meinte, das einige von Wulf angesprochene Cage-Kompositionen aufgrund meines Geschmackes nichts für mich wären. Damit mag er Recht haben: Ich höre gerade zum Test nochmal die

    DOUBLE Music (7:00 Minuten) auf der Hungaroton Amadinda - CD --- 1. Solo für Prepariertes Piano / 2. Nine TonToms / 3. Seven Woodblocks / 4.Solo für Pep.Piano2 ist in der Tat nichts, was einen vom Hocker reißt, geschweige denn begeistern könnte; mich langweilt es. Das Werk Third Construction (10:08) kommt schon besser rüber - da wird wenigstens etwas an rhythmischem Aufbau geboten, aber ....

    man vergleiche mal dagegen die rhythmische Extase, die Carlos Chavez mit der Toccata für Pauken auf dieser CD bietet ......

    ______________

    Gruß aus Bonn

    Wolfgang

  • Das Stück ist mittlerweile auch im schulmusikalischen Bereich ein Klassiker.

    Das fiel mir gestern auch ein, ob das sich nicht wunderbar für Schülerkonzerte eignet. Eure Berichte, audiamus und Merle, sind großartig! Die Frechheit mit dem zweiten Flügel ist einfach fantastisch. Alles für die Kunst!
    Eine OT-Nachfrage dazu: wie ist das eigentlich mit Tantiemen, wenn man in einem Schülerkonzert moderne Werke aufführt? Das kann ja ganz schön teuer werden. Oder sind Schulen generell davon befreit? Und gibt es sonst Erfahrungen mit Neuer Musik in Schülerkonzerten? Womöglich sogar "Klassiker", die immer mal wieder in so einem Zusammenhang vorkommen? Spontan würden mir Rileys "In C" und Kagels "Märsche, um den Sieg zu verfehlen" als vermutlich geeignet einfallen, aber es gibt sicher noch einiges mehr. Wenn es dazu was zu erzählen gibt, würde mich die Eröffnung eines neuen Threads sehr freuen!

    Viele Grüße,
    Micha

  • Wo bleiben die Beiträge bei tatsächlicher Musik ?

    Liebe Capriccio-Forianer(innen),

    mir ist gerade noch etwas aufgefallen, das ich eigendlich sehr verwunderlich und traurig finde:

    Hier wo keine Musik, quasi nichts geboten wird, haben wir mitlerweile 29 Beiträge zu verzeichnen. Wirklich interessante Beiträge über sehr gute klassische Werke bleiben bis heute ohne Antwort stehen - wie Haydn - Sinfonie Nr.108, Mozart - Sinf.Nr.8, Gershwin - Second Rhapsody, Ginastera - Orchesterwerke, Gubaidulina - VC, Martinu - Doppelkonzert, Khatchaturian - VC und KK, Schostakowitsch - Sinfonie Nr.3 ... darüberhinaus jede Menge gute Themen mit nur 2-5 weiteren Beiträgen.

    :?: Soll diese Entwicklung den Capriccio-Forianer noch zu weiteren Themeneröffnungen anreizen ? Was soll man da machen ?

    ______________

    Gruß aus Bonn

    Wolfgang

  • :) Es sind ja wirklich lustige Geschichten, die sich um das Werk 4´33", das tatsächlich keines ist, ranken.

    Wenn ich nichts zu hören bekomme, dann gibt es auch nichts zu verstehen

    Stimmt! Zum Glück gibt es bei 4'33" immer sehr viel zu hören, was ja auch die Intention John Cages war. ;+)


    Die von micha abgebildete CD von Hungaroton mit der Amadinda Percussion Group, ist die erwähnte CD die ich von 4`33" habe. Und es ist wirklich gleichermaßen lustig, wie verwunderlich, das so etwas auf CD gebannt wird. Micha hat es nochmal beschrieben, was man zu hören bekommt: Neben Autogeräuschen auch Kirchenglocken und Hahngeschrei leise im Hintergrund, außerhalb des Aufnahmesaals.

    Würde dir diese Aufnahme genausowenig gefallen, wenn sie bspw. nicht 4'33", sondern Autogeräusche und Kirchenglocken außerhalb eines Aufnahmesaals hieße? Ich glaube nämlich, dass es auch ein bisschen darum geht...

    Sobald das Forum geöffnet ist, fürchte ich übrigens eigentlich auch nicht um das weitere Ausbleiben von Beiträgen zu anderer guter Musik...

  • wer verschiedene großartige Interpretationen von 4-33 (was für ein Meilenstein) vergleichen möchte, sei auf Youtube verwiesen: John Cage und 4 33 eingeben. Ich würde die hoch bedeutende Interpretation von David Tudor an erster Stelle setzen, noch vor der sehr bewegenden orchestralen Version unter Lawrence Forster (das Publikum war begeistert) und der gemeinsamen sehr intensiven Interpretation mit Keith Jarret und Chick Chorea für 2 Klaviere. Bei Jarret + Chorea stört allerdings das Bandrauschen. Vielleicht gibt es bald eine Version für Streichquartett oder möglicherweise auch für 3 Orchestergruppen mit Live-Elektronik...

    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Wenn es dazu was zu erzählen gibt, würde mich die Eröffnung eines neuen Threads sehr freuen!

    Gerne, ich plaudere am Wochenende mal aus der Schule. Die Sache mit den zwei Flügeln ist in der Tat extraorbitant!

    Hier wo keine Musik, quasi nichts geboten wird, haben wir mitlerweile 29 Beiträge zu verzeichnen.

    Genau hier liegt die Genialität des Werkes: Das Thema des Nachdenkens der Kunst über sich selbst.

    "...es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen." - Johannes Brahms

  • Und schon sind wir wieder bei dem leidlichen Thema "Was ist eigentlich Musik und wenn ja, wie viele??" - wenn es nur darum geht, rhythmischen Drive an den Tag zu legen, gibt es noch einige andere Komponisten, die Chavez mindestens das Wasser reichen. Aber Drive ist doch nicht das einzige Attribut, das zählen sollte. Gerade Cage war ein genialer Rhytmiker, man höre sich einmal seine Musik für präpariertes Klavier an (The Earth Shall Bear Again, Totem Ancestor etc.) oder die Sonatas and Interludes. Wie dem auch sei, wenn Gelehrte ihres Fachs etwas verkünden, sollte man nicht alles blind hinnehmen, aber etwas reflektieren darf man schon, bevor man sich all zu sehr darüber echauffiert, warum zu solcher "Nicht-Musik" (sind die Geräusche und Klänge, die in der Zeit entstehen, nicht auch Musik??) soviele Beiträge erscheinen. An der Auffassung der Gelehrten könnte schon etwas dran sein.

    :wink:
    Wulf

    "Gar nichts erlebt. Auch schön." (Mozart, Tagebuch 13. Juli 1770)

  • Cage am Telefon

    Das erinnert mich an eine Geschichte, die ein Freund mir erzählt hat. [...]

    Die Geschichte finde ich klasse!!

    Übrigens kann, wer will, eine Variante von 4'33'' auch am Telefon genießen:

    Als ich gestern morgen meiner Frau vom Heidelberger Cage-Konzert berichtete, erwähnte sie eine Versandfirma, die ökologisch korrekte Naturtextilien vertreibt: Wenn man dort anruft und in die bei Behörden und Unternehmen übliche Warteschleife gerät, vernimmt man eine freundliche Stimme: "Guten Tag... Ihr Anruf wird gleich entgegengenommen. In der Zwischenzeit hören Sie: Stille." Und es ertönt: --- ?!!

    Auf Wunsch gebe ich die Telefonnummer gern weiter.

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Also ich wundere mich schon ein wenig, wieviel Wertschätzung 4'33" entgegengebracht wird. Ein geniales Werk kann ich nun wirklich nicht darin sehen, auch wenn ich es nur einmal auf youtube "gehört" (oder besser: gesehen) habe. Wenn es nicht einfach als Gag, als Absurdität, als Provokation oder als nette Spielerei gemeint war, würde ich es allerhöchstens für ein interessantes psychologisches Experiment halten (aber nicht für ein musikalisches Experiment).

    Auch eine Zelebrierung der Stille kann ich darin nicht erkennen. Natürlich halte ich Stille auch für eine wichtige Erfahrung, und finde extrem gegenteilige Situationen wie das dumpfe Drauflosklatschen nicht einmal eine Millisekunde nach dem Ausklang eines tief nachdenklich stimmenden Stückes mehr als nervig. Aber bei 4'33" geht es ja wohl doch eher um die Reaktion des Publikums auf die Stille, und dann geht es ja meist nicht wirklich still zu. Denn Stille kann gerade in Gesellschaft von anderen Menschen sehr irritierend, wenn nicht fast peinlich, sein.

    Zitat

    von Nocturnus
    Wer in den Konzertsaal geht, der möchte eben "Kunst" vorgesetzt bekommen, die zu seinem Alltag in wohltuenden Kontrast steht. (Also harmonischer, spannender, sinnlicher etc. ist.) Aber nicht "Antikunst". Darin besteht ja Cages Provokation: Nicht den Alltag draußen lassen, sondern ihn hereinlassen.

    Naja, es gibt genügend Beispiele in der Musikgeschichte, bei denen dies mit wirklichen musikalischen Mitteln viel aufrichtiger erreicht wird als mit diesem leeren Werk. Davor habe ich viel mehr Hochachtung.

    Nachtrag: Wenn von verschiedenen "Fassungen" von 4'33" die Rede ist, also Klavierfassung, Orchesterfassung etc., muss man denn doch eher einen Witz vermuten. Vielleicht können wir ja noch verschiedene CD-Einspielungen des Stücks vergleichen. ;+)

    :wink: maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • RE: Cage am Telefon


    Übrigens kann, wer will, eine Variante von 4'33'' auch am Telefon genießen:

    Als ich gestern morgen meiner Frau vom Heidelberger Cage-Konzert berichtete, erwähnte sie eine Versandfirma, die ökologisch korrekte Naturtextilien vertreibt: Wenn man dort anruft und in die bei Behörden und Unternehmen übliche Warteschleife gerät, vernimmt man eine freundliche Stimme: "Guten Tag... Ihr Anruf wird gleich entgegengenommen. In der Zwischenzeit hören Sie: Stille." Und es ertönt: --- ?!!

    Auf Wunsch gebe ich die Telefonnummer gern weiter.

    Hallo Gurnemanz,

    da betreiben die ja schon fast Copyrightverletzung! :D

    Liebe Grüße, Philipp :wink:

  • Zitat

    von Gurnemanz
    Übrigens kann, wer will, eine Variante von 4'33'' auch am Telefon genießen:

    Als ich gestern morgen meiner Frau vom Heidelberger Cage-Konzert berichtete, erwähnte sie eine Versandfirma, die ökologisch korrekte Naturtextilien vertreibt: Wenn man dort anruft und in die bei Behörden und Unternehmen übliche Warteschleife gerät, vernimmt man eine freundliche Stimme: "Guten Tag... Ihr Anruf wird gleich entgegengenommen. In der Zwischenzeit hören Sie: Stille." Und es ertönt: --- ?!!

    Bei Telefonwarteschleifen wäre 4'33" wirklich eine große Hilfe (besser noch eine gekürzte Fassung :D ). Es ist wirklich mehr als nervig, sich wartend Mozarts Kleine Nachtmusik oder ähnliche "Ohrwürmer" anhören zu müssen, das grenzt schon an Nötigung und Körperverletzung.

    :wink: maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

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