Cage: 4'33''
Gestern erlebte ich erstmals die Aufführung eines Werks von John Cage, einem Komponisten, mit dem ich bislang noch kaum vertraut bin.
Ich mußte erst überlegen, wo ich meinen Beitrag einbringen sollte: bei den Komponistenportraits? denn es geht ja auch um grundlegende ästhetische Fragestellungen, die das Werk des großen Amerikaners aufwirft - oder unter den Werken? denn 4'33'' hat einen außergewöhnlichen Rang, vielleicht so etwas wie einen Kultstatus. Wenn Letzteres: Klavierwerke, Kammermusik oder Orchesterwerke? Für dieses habe ich mich entschieden, denn ich habe es gestern in einer Fassung mit Orchester erlebt.
Die Schwierigkeiten der Einordnung offenbaren Grundsätzliches: Ist 4'33'' ein kammermusikalisches Werk, mit oder ohne Klavier, oder für Orchester komponiert? Sollte es nicht am besten im Zusammenhang mit der Ästhetik und dem Werk Cages insgesamt betrachtet werden? Ist es überhaupt ein "Werk" (im eigentlichen Sinn und, wenn nicht, in welchem Sinn dann?)? Was ist ein "Werk"?
Das ist nicht einfach. Ich berichte erst einmal, was ich gestern erlebt habe: Das Philharmonische Orchester der Stadt Heidelberg hatte auf dem Programm: neben 4'33'' Beethovens 5. Klavierkonzert (Solist: Martin Stadtfeld) und Nielsens 2. Symphonie. Da der vorgesehene Dirigent Dietger Holm kurzfristig erkrankt war, hatte man den früheren Heidelberger GMD und jetzigen Ehrendirigenten Mario Venzago gewonnen. Das hatte zur Folge, daß die Nielsen-Symphonie (leider) entfiel und durch Brahms' 1. Symphonie ersetzt wurde.
Der aktuelle GMD Cornelius Meister gab die Änderungen bekannt, die Orchestermusiker nahmen ihre Plätze ein, auch der Flügel stand bereit. Mario Venzago kam und ergriff das Mikrophon, um ein paar Worte zu John Cage zu sagen. Er verwies auf die Geschichte des Werks, auf dessen provozierende Wirkung in vergangenen Jahrzehnten, da das Werk auf Unverständnis und Ablehnung traf, weil es die damaligen Erwartungen der Hörer so sehr verwirrte: ein Werk, in dem die Musiker (ursprünglich: der Pianist) keinen einzigen Ton produzierten, nur: Pause! Überhaupt: Ist das überhaupt ein Werk? Oder nicht vielmehr ein Gag?
Immerhin gibt es einen Anfang, ein Ende, das Werk ist dreisätzig (die Dauern der Sätze waren in diesem Fall vor wenigen Tagen öffentlich erwürfelt worden: 1'40'', 0'40'', 2'13'') und die Partitur, die "für teuer Geld" erworben werden mußte, enthält präzise Anweisungen: Das Werk erklingt exakt so wie vorgeschrieben (ist auch die Frage des Werks umstritten, so scheint jedenfalls die Frage der werkgetreuen Aufführung hier geklärt).
Venzago erwähnte asiatische Philosophien, von denen Cage beeinflußt war, und verwies auf aleatorische Werke des Amerikaners, der aus Sternenbewegungen Notationen gewann, die dann zu zwar genauen, doch jedesmal unterschiedlichen klanglichen Ergebnissen führen - das habe ich nicht richtig verstanden, weil ich, wie gesagt, John Cage nicht genug kenne. "Stille" jedenfalls spielt für Cage eine wichtige Rolle; Venzago erwähnte auch Anton Bruckner, der gesagt habe, er müsse, bevor er Wichtiges zu sagen habe, erst einmal ausatmen, daher die Pausen.
Auch wenn in 4'33'' die Musiker schweigen, gibt es doch keine Stille: die Musik, die erklingt, ist ebendie, die man hört, wenn man nichts hört - natürlich ist es auch in einem Konzertsaal nie eigentlich "still".
Es gab auch ein paar Empfehlungen ans Publikum, das aufmerksam zuhörte (der Maestro ist hier beliebt und angesehen): Arnold Schönberg habe Applaus kritisch als Manipulationsversuch angesehen, auch er, Venzago, wolle niemanden manipulieren, "nur ein bißchen" (Heiterkeit!): Das Publikum möge sich auf eine spannende Erfahrung gefaßt machen, hinterher den Beifall zurückhalten und erst den danach auftretenden Pianisten, wie es sich gehöre, freudig begrüßen.
Es ging los: Der Dirigent stellte sich vors Orchester und hob den rechten Arm, den er dann wie einen Sekundenzeiger langsam nach unten kreisen ließ, der linke Arm übernahm und führte die Bewegung fort, bis er oben war. 2. Satz: ebenso. 3. Satz: noch einmal (auch dieses Verfahren war vorher erläutert worden).
Das Publikum verfolgte das Geschehen aufmerksam und konzentriert; abgesehen von den üblichen Hustern und Räuspergeräuschen war es ruhig, kein Gelächter oder andere "ungebührliche" Verhaltensweise. Wäre statt 4'33'' ein anderes Werk aufgeführt worden, sagen wir, Mendelssohns Hebriden-Ouvertüre - das Verhalten im Konzertsaal wäre vermutlich kein bißchen anders gewesen. Willkommen, John, im Kanon der Normalität?
Ich fand es schön, inmitten eines völlig ausverkauften Konzertsaals mitten in der Menge ein paar Minuten einfach still dazusitzen, ich habe die ruhige, konzentrierte Stimmung genossen und mich wohlgefühlt.
Erwähnen möchte ich noch, daß der Beethoven solide und routiniert absolviert wurde, mit einem technisch versierten jungen Solisten ohne Virtuosengehabe, und daß der Brahms dann etwas mehr Feuer brachte - insgesamt eine gute Aufführung mit reichlich Beifall am Ende.
Eigentlich war es ein ganz normales Symphoniekonzert.
Eigentlich, und damit frage ich mich, was es bedeutet, wenn das einstmals so provozierende Werk John Cages so "normal" aufgenommen wird: Hat es damit seinen ursprünglichen Reiz, die Aura des Besonderen, die Grundfragen nach Werk, Zeit, Stille und was noch weiter aufwirft und unsere Hörgewohnheiten erschüttert - hat es das alles inzwischen eingebüßt? Oder ist Cage im Gegenteil endlich da angekommen, wo er hingehört, in die Reihe der Großen des 20. Jahrhunderts, auf derselben Höhe wie viele andere, doch auch einer von vielen?
Zum Abschluß noch ein Zitat des Komponisten, der sich über sein Werk wie folgt äußert (Quelle: Programmheft):
ZitatMein vielleicht bestes Stück, oder jedenfalls das, was mir am meisten gefällt, ist das stille Stück. Es hat drei Sätze, und in allen Sätzen gibt es keine (beabsichtigten) Klänge. Ich wollte, dass mein Werk frei von meinen eigenen Vorlieben und Abneigungen ist, denn ich denke, Musik sollte frei von den Gefühlen und Ideen des Komponisten sein. Ich hatte das Gefühl und hoffe, dass ich anderen Leuten das Gespür nahegebracht habe, dass die Geräusche ihrer Umgebung eine Musik darstellen, die viel interessanter ist als die Musik, die sie hören, wenn sie in einen Konzertsaal gingen.
Darüber ließe sich diskutieren.