Roussel, Albert – Symphonische Teppichmuster und anderes mehr...
Seit Jahren befindet sich in meiner Sammlung eine Doppel-CD mit den vier Symphonien von Albert Roussel (Marek Janowski, Orchestre Philharmonique de Radio France); hin und wieder wandert eine der Aufnahmen in meinen Player: Ich fand die Musik ganz nett, der große Funke ist dabei nie übergesprungen. Nun sind mir in den letzten Monaten zwei Werke Roussels im Konzertsaal begegnet, die meine Neugierde geweckt haben: einmal Deux poèmes de Ronsard, op. 26, in der aparten Besetzung für Sopran und Flöte, dann - erst kürzlich in Wiesloch (bei Heidelberg) - die 3. Symphonie (vielleicht dasjenige Werk Rossels, dem man heute am häufigsten begegnet): in einer Aufführung französischer Orchesterwerke (Fauré, Saint-Saëns, Debussy) durch das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart mit Stépahane Denève (der kurzfristig für den erkrankten Michel Plasson eingesprungen war).
Dieses Konzert erwies sich als eine kleine Offenbarung: Dirigent und Orchester präsentierten sich und das Werk mit einer Musizierlust, hochgespannter Energie und auch technisch auf einem Niveau, das mich begeisterte. Ich bemerkte, daß der (mir bis dahin unbekannte) Dirigent dabei ist, die Symphonien und weitere Orchesterwerke bei Naxos einzuspielen, die mit der Dritten konnte ich an Ort und Stelle erwerben und auf dem Heimweg hörte ich dieselbe Symphonie noch einmal mit demselben Dirigenten: wieder sehr beeindruckend!
Inzwischen ist meine Roussel-Sammlung dabei, sich zu vermehren...
Hier ein paar biographische Angaben:
Am 5. April 1869 wurde Albert Roussel in Tourcoing im französischen Flandern geboren. Mit acht Jahren verwaist, wuchs er bei Verwandten auf (sein Großvater, der Bürgermeister von Tourcoing, spielte Bratsche), er wurde musikalisch gefördert, doch schlug er zunächst eine andere Laufbahn ein, die eines Marineoffiziers, er diente auf einem Segelschiff im Atlantik und im Fernen Osten.
1894 allerdings nahm er seinen Abschied, weil nun klar war, daß er Komponist werden wollte: Er studierte in Paris, wurde an der neugegründeten Schola Cantorum Schüler von Vincent d’Indy, dessen Sinn für symphonische Architektur ihm nahekamm, dessen Wagnerismus ihn aber kalt ließ. Als er 1906 die Schule verließ, begann er, beeinflußt von Claude Debussy, mit impressionistischen Klängen zu experimentieren: ein Ergebnis war Poème de la forêt, eine Zusammenstellung von vier Sätzen, die er später als seine Symphonie Nr. 1 herausgab. 1908 heiratete er und unternahm 1909-10 eine ausgedehnte Hochzeitsreise nach Indien und Indochina. Musikalische Früchte waren Evocations für Orchester und Chor und die Oper Padmâvatî, die auf einer indischen Legende beruht (beide Werke sind mir noch unbekannt).
Im I. Weltkrieg war er, trotz einer einsetzenden chronischen Erkrankung, als Leutnant für den Autoeinsatz an der Front eingesetzt. Nach seiner Entlassung begann er mit der Komposition der 2. Symphonie (1919/20), wobei er sich vom Impressionismus löste und, nach eigenen Worten, beschloß, seiner Harmonik „ein weiteres Feld zu öffnen und [sich] damit dem Ideal einer sich selbst genügenden rein musikalischen Architektur zu nähern“. Die Uraufführung der Symphonie 1922 war ein Mißerfolg, vielleicht, weil sie dem Publikum, das klangfarbliche, exotische Rafinessen erwartete, zu hart und zu extrem in ihrer (unfranzösischen?) Architektonik erschien.
Bei seinen Musikerkollegen dagegen kam er besser an: Serge Koussewitzki, damals Leiter des Boston Symphony Orchestra, beauftragte Roussel mit der Komposition einer weiteren Symphonie, die 1930 als Nr. 3 in Boston uraufgeführt wurde. Roussel war erfolgreich damit, jetzt einen klareren Stil zu verwenden, „nüchterner, konzentrierter, schematischer“, einen Stil, den man vielleicht „neoklassizistisch“ nennen könnte. Seinen Erfolg setzte er 1934 mit seiner Symphonie Nr. 4 fort. In der französischen Öffentlichkeit wurde er in seinen letzten Jahren als einer der führenden Komponisten des Landes gefeiert. Gesundheitlich angeschlagen, starb er am 23. August 1937 während eines Urlaubs am Atlantik, in Royan.
Was fasziniert mich an Roussel, dessen Werk ich ja bislang nur in bescheidenem Ausmaß kenne? Zum einen ist es das scheinbar Absichtslose seiner Musik, die, etwa in der 2. und 3. Symphonie nur Musik sein will und nichts anderes: das bedeutet einerseits eine Verleugnung des Ego, des Selbstausdruck: dem Komponisten scheint es nie darum zu gehen, eigene Befindlichkeiten in Musik zu übertragen. Andererseits geht es ihm auch nicht darum (nach seinem Abschied vom Impressionismus), Äußeres zu beschreiben, etwa in Naturschilderungen. Im Vordergrund steht beim reifen Roussel ein architektonisches Denken, eine eigenwillige, nicht selten sperrige, spröde Gegeneinandersetzung von Motiven, die oft zu energiegeladenen, eruptiven, von rhythmischer Verve vorangetriebenen Musik führt – spannend ist das!
Frederick Goldbeck, der schon vor Jahren ein höchst lesenswertes Buch über französische, spanische und italienische Komponisten des 20. Jahrhunderts geschrieben hat (eine Empfehlung von Wulf), charakterisiert die Musik wie folgt:
ZitatRoussels Strukturen haben in der Tat etwas Fliehendes und Irrlichterndes an sich. Niemals psychologisch-persönlich oder gar gefühlsbetont, bilden sie in ihrem melodischen Aspekt gleichsam unfigürliche Teppichmuster fürs Ohr. Und in ihrer Polyphonie, die es sich geradezu abenteuerlich erlaubt, allen Gesetzen der tonalen Schwerkraft den Rücken zu kehren, haben sie etwas von dem Tausend-und-eine-Nacht-Zauber fliegender Teppiche an sich.
Das trifft es, glaube ich, recht gut.
Albert Roussel war musikalisch in allen Gattungen zuhause (bei Wikipedia läßt sich schnell ein Überblick gewinnen). Wer sich beispielsweise für seine Kammermusik (teilweise in originellen Besetzungen!) interessiert, sollte nicht an der günstigen Gesamtedition des Labels Brilliant vorübergehen:
Besonders empfehlen möchte ich die beiden bislang erschienen Naxos-CDs mit Orchesterwerken (u. a. der 2. und 3. Symphonie):
Farbig und packend musiziert ist das, voller Kraft, mit viel Sinn für Details, ein idealer Einstieg! Zu erwähnen wäre noch, daß Stéphane Denève, der Chefdirigent des Royal Scottish National Orchestra, wie Albert Roussel in Tourcoing geboren wurde (1971) – vielleicht erklärt das die Verbundenheit mit dem Komponisten und damit das hohe Engagement der Musiker, die in diesen (übrigens auch aufnahmetechnisch hervorragenden) Einspielungen zeigen, daß ihnen diese Musik offensichtlich eine Herzensangelegenheit ist.
Damit frage ich in die Runde:
- Welche Erfahrungen habt Ihr mit der Musik Albert Roussels gemacht?
- Welche Aufnahmen sind zu empfehlen?
- Was fasziniert Euch, was weniger?
(Quellen: Frederick Goldbeck, Die großen Komponisten unseres Jahrhunderts. Frankreich, Italien, Spanien. München 1978; Lucy E. Cross, Erläuterungen im Booklet der Janowski-Edition, RCA; Programmheft Palatin Wiesloch, 9.10.2009)