HERBERT VON KARAJAN - Ein Interpret in Licht und Schatten

  • HERBERT VON KARAJAN - Ein Interpret in Licht und Schatten

    Der Österreicher Herbert von Karajan war einer der prägende Dirigenten im Europa der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seit sein Stern während der Nazi-Herrschaft in Deutschland aufging, polarisiert er. Bis heute, lange nach seinem Tod. Sehen die einen in ihm die Verkörperung des Guten in der Musik und fühlen sich durch seine Wiedergaben erhoben und geadelt, erachten ihn die anderen als einen Poseur, der den leeren Schönklang zum Prinzip erhebt, die Werke aber ihres Gehalts beraubt. Beide Positionen haben den Anspruch auf Teilwahrheit.

    Mit der Biografie Karajans will ich mich nicht lange aufhalten, sie ist jederzeit im Internet in unterschiedlicher Ausführlichkeit abrufbar. Ich nenne nur Eckdaten:

    Geboren am 5. April 1908 in Salzburg als Heribert Ritter von Karajan. Nach Abschaffung der Adelstitel bleibt das "von" als Namensbestandteil des Künstlernamens bestehen (Entscheid von 1919).
    Studiert Musik am Mozarteum.
    Studiert Maschinenbau und Musik in Wien. Dirigierunterricht bei Alexander Wunderer und Franz Schalk.
    1929 erster Auftritt als Dirigent am Mozarteum in Salzburg.
    1930 Erster Kapellmeister am Stadttheater und im Philharmonischen Orchester von Ulm.
    1935 Generalmusikdirektor am Stadttheater Aachen der jüngste Generalmusikdirektor Deutschlands.
    1933 Beitritt zur NSDAP in Salzburg
    1935 "Tannhäuser" in Aachen zu Ehren des Führer-Geburtstags und "Fidelio" für das KdF (Kraft durch Freude)-Programm.
    1938 erster Auftritt mit den Berliner Philharmonikern
    1939 Nochmaliger Beitritt zur NSDAP, da die Partei in Österreich ab 1933 verboten war, weshalb die Mitgliedschaft der Parteigenossen ruhte.
    "Ernennung zum Staatskapellmeister" durch Adolf Hitler

    In der Folge Favorit Görings, der Karajan gegen den Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker, Wilhelm Furtwängler, in Stellung bringt; Karajan verliert aber die Gunst Hitlers, der meint, auswendig dirigieren sei Arroganz dem Werk gegenüber. Mehrere Konzerte in den besetzten Gebieten, "Horst-Wesssel-Lied" in Paris aufgeführt.

    18. Februar 1945 letztes Konzert mit der Staatskapelle in Berlin, danach Flucht nach Italien

    1946 Konzert in Wien
    Auftrittsverbot wegen der NSDAP-Mitgliedschaft
    1947 Aufhebung des Auftrittsverbotes
    1948-1968 Ständiger Gastdirigent an der Mailänder Scala; de facto werden alle Wünsche Karajans respektiert
    1951 erstmals in Bayreuth Dirigent
    1955 USA-Tournee mit den Berliner Philharmonikern - unfreundliche Aufnahme in den USA, wo man den Dirigenten und viele Orchestermusiker im NSDAP-Umfeld sieht und das Orchester als Aushängeschild Hitler- Deutschlands erachtet
    1956 Ernennung zum Chefdirigenten der Berkliner Philharmoniker auf Lebenszeit
    Künstlerischer Leiter der Salzburger Festspiele
    1957-1964 künstlerischer Leiter der Wiener Staatsoper, deren Ensemble er zugunsten von internationalen Gaststars ausdünnt; damit in Zusammenhang wird von der deutschsprachigen Aufführung zur Aufführung in Originalsprache übergegangen.
    1960 Vertragsende als Künstlerischer Leiter der Salzburger Festspiele. Dennoch bleibt Karajan de facto der Spiritus rector in Salzburg. Folgerichtig wird er 1964 ins Direktorium gewählt, dem er bis 1988 angehört.
    1967 Gründung der Salzburger Osterfestspiele und der Pfingstkonzerte
    1977 Rückkehr an die Wiener Staatsoper als Dirigent
    16. Juli 1989 Tod in Anif bei Salzburg

    Karajans Bedeutung für die Musik und das Musikleben setzt sich aus mehreren Faktoren zusammen. Er war vor allem ein repertoireprägender Dirigent für Schallplatte und CD, wie er überhaupt durch sein Faible für technische Neuerungen den Tonträgermarkt belebte. Er führte auch, ganz wertfrei gesehen, die Wiener Staatsoper in eine neue Zeit. Dadurch sind zahlreiche Facetten des Musiklebens bis heute durch Karajan geprägt.

    Als Dirigent ist er umstritten. Die Klangkultur der Phase Karajans, die heute als charakteristisch erachtet wird (beginnend etwa ab den 60er Jahren) wurzelt in der Überzeugung, daß jeder Notenwert exakt über seine gesamte Länge ausgehalten werden muß, und zwar nicht nur im Legato. Dadurch ergibt sich das Karajan'sche Sfumato, ein unendlich schöner, aber auch weicher Klang, der mit zunehmendem Alter Karajans immer mehr aufweicht.
    Dem steht ein etwas anderes Klabngbild des jungen Karajan gegenüber: Rhythmische Präzision und glühend aufgepeitschte Steigerungen lassen kaum erahnen, dass sich dieser Dirigent zum Bannerträger eines noblen, mitunter aber auch inhaltsleeren Schönheitskultes entwickeln wird. Herausragende Beispiele für den frühen Karajan sind etwa die "Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta" von Bela Bartók, die "Meistersinger" (die auch in der zweiten Aufnahme erstklassig sind) und die frühen Einspielungen von Sibelius-Symphonien. Außerdem gibt es einen technisch nicht völlig befriedigenden Mitschnitt der "Elektra" aus Salzburg: Karajan entfesselt hier ein expressionistisches Brennen, wie kaum ein anderer Dirigent es gewagt hat.
    Auch aus seiner späteren Zeit gibt es erstklassige Aufnahmen - aber meist nur dann, wenn die Werke dem Klangstil Karajans entgegenkommen. Die symphonischen Dichtungen Richard Strauss' etwa sind konkurrenzlos, die "Metamorphosen" desselben Komponisten legt Karajan gar in einer unerreichten Referenz-Aufnahme vor. Bruckners "Achte" ist ebenfalls mustergültig, wenn man über die Tatsache hinwegsehen kann, daß Karajan bei Bruckner Mischfassungen spielt.
    Als Wagner-Dirigent ist Karajan insoferne wichtig, als er in seinen frühen Wagner-Interpretationen diese Musik vom unangenehmen Pathos befreit und damit mit der deutschen Tradition bricht. In seinen späteren Wagner-Aufnahmen (speziell im "Parsifal") wird das Pathos jedoch wieder gesteigert, wie Karajans späte Aufführungen überhaupt wieder zum Pathos tendieren.

    Eine seltsame Haltung hatte Karajan zur Musik des 20. Jahrhunderts. Die Behauptung, er habe sie weitgehend ignoriert, ist schlicht falsch. Ganz im Gegenteil, hat Karajan vor allem in seiner frühen Zeit Unmengen an zeitgenössischer Musik aufgeführt, und zwar sowohl Erstklassiges wie Brittens "War Requiem" als auch lautstarke Reißer wie Waltons "Belshazzar's Feast". Er hat Honegger dirigiert und Holst (die "Planeten" bei Decca sind fulminant), er hatte an Theodor Berger einen Narren gefressen und mehrere seiner rhythmisch exzessiven Werke uraufgeführt, er dirigierte Gottfried von Einem und Boris Blacher und Heinrich Sutermeister und und und. Nur den letzten Schritt unternahm Karajan lediglich in Einzelfällen: Nämlich das Werk nach- und auch auf Tonträger einzuspielen.
    Wobei freilich auch einige Komponisten von einem völligen Desinteresse Karajans an ihrem Werk berichten. Am schlimmsten traf es diesbezüglich wohl Carl Orff, dessen "Trionfi" ("Carmina burana" + "Catulli carmina" + "Trionfo di Afrodite") Karajan in Mailand uraufführen wollte, sich aber zu wenig Vorbereitungszeit nahm. Statt die Aufführung an einen anderen Dirigenten abzugeben, strich Karajan die Werke zusammen und ließ ihnen eine Aufführung angedeihen, der man seine Unlust deutlich angemerkt haben soll. Auch Orffs späte "De Temporum fine comedia", eigentlich als Versöhnung zwischen Orff und Karajan intendiert, war für Karajan mehr Pflichterfüllung als Überzeugungstat - er hatte wohl von Orff etwas Anderes erwartet als dieses herbe, dissonante Spätwerk.
    Also war Karajan nur der unproblematischen Moderne gegenüber aufgeschlossen? - Auch das wiederum nicht: Seine Interpretationen von Werken Schönbergs und Weberns zeigen, daß er bereit war, sich auch auf dissonante Musik einzulassen. Ob es sich um ideale Aufführungen handelt, soll hier nicht diskutiert werden. Unbestreitbar ist aber, daß diese auch als Schallplatte bzw. CD dokumentierte Aufführungen detailliert ausgearbeitet sind und von einem feinen Gefühl für Klangfarbe zeugen.

    Andere Einspielungen Karajans gelten heute aus unterschiedlichen Gründen als Naserümpfer: Sein gelenkiger Mozart kommt, ebenso wie seine wuchtigen Aufnahmen von Barockkomponisten, aus den Vorstellungen der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts - was man angesichts der Lebensdaten Karajan nicht anlasten kann. Allerdings kümmerte er sich kaum um neuere Erkenntnisse und blieb seinem Klangbild auch dann verhaftet, wenn es wissenschaftlich längst widerlegt war.

    So bleibt letzten Endes ein Bild mit vielen widersprüchlichen Facetten: Am Anfang ein Karrierist, aber auch ein genial begabter Interpret wandelt sich zum Repräsentanten eines konservativen, sich selbst feiernden und sich selbst genügenden Bürgertums. Die Glut weicht der Noblesse und blitzt nur noch in einzelnen Interpretationen auf. Doch das Seltsame geschieht: Nicht der brennende frühe Karajan wird zum Maßstab, sondern der immer öfter einem leeren Schönheitsideal verschriebene spätere. Daß dann einige der letzten Konzerte Karajans wieder an die Tiefe der frühen Phase anknüpfen und auch wieder jene Abgründe aufreißen, die Karajan zwischenzeitlich mit polierten Oberflächen zugedeckt hatte, fiel den meisten seiner Anhänger kaum noch auf: Sie verehrten Karajan längst in einem Ausmaß, daß sie seine wechselnden Standpunkte nicht mehr überprüften, sondern willig alles nahmen, was ihnen der Meister gab.

    Das allerdings ist weniger Karajan selbst anzulasten, der es durch seine Posen freilich auch evozierte, als der zunehmenden allgemeinen Kritiklosigkeit speziell des Konzertpublikums.

    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • Lieber Edwin,

    als Ergänzung zu Deinem hervorragenden Einführungsbeitrag ein Hinweis auf die Website der Herbert-von-Karajan-Stiftung "http://www.karajan.org". Dort kann man unter "Sein Werk" die Besetzungsdaten jeder von HvK in seinem Leben dirigierten Aufführung und Aufnahme finden samt zeitgenössischen Rezensionen aus der Presse. Besonders im Hinblick auf seine Aufführungen im III. Reich eine sehr interessante Quelle.

    (Siehe z.B. die zeittypische Rezension einer "Carmina burana"-Aufführung vom 16.01.1941 in Aachen: "http://www.karajan.org/jart/prj3/kara…itiken/4052.jpg".)

    :wink:

    GiselherHH

    "Er war verrückt auf Blondinen. Wäre Helga auch noch adlig gewesen, der gute Teddy wäre völlig durchgedreht."

    Michael Gielen über Theodor W. Adorno, der versucht hatte, Gielen seine Frau auszuspannen.

  • RE: HERBERT VON KARAJAN - Ein Interpret in Licht und Schatten


    ...
    So bleibt letzten Endes ein Bild mit vielen widersprüchlichen Facetten: Am Anfang ein Karrierist, aber auch ein genial begabter Interpret wandelt sich zum Repräsentanten eines konservativen, sich selbst feiernden und sich selbst genügenden Bürgertums. Die Glut weicht der Noblesse und blitzt nur noch in einzelnen Interpretationen auf.
    ...
    :wink:

    Hallo,

    ggf. hätte Karajan es wie Carlos Kleiber machen sollen. Dieser Möglichkeit standen aber die Eitelkeit und die finanziellen Möglichkeiten im Weg.

    Weniger, d. h. Konzentration wäre hier mehr gewesen!

    Bis dann.

  • Hallo Edwin,

    Gratuliere, deine Einleitung gefällt mir sehr und wird in der schönen Überschrift gut zusammengefasst. Als ich anfing mich mehr mit Klassik zu befassen, war Karajan am Ende seiner Karriere, allgegenwärtig, aber irgendwie wusste man da schon, was man meiden sollte. So habe ich mehr seine Lichtseiten über Tonträger erlebt und es finden sich nicht so viele Sachen von ihm bei mir, Beethoven, R. Strauss, Holst, Haydn (Schöpfung), Verdi (Aida). Das aber gefällt mir alles ganz ausgezeichnet. Zu seiner Person und seiner Einstellung kann viel von ihm selbst erfahren, in einem Interview, das er in den späten Siebzigern dem Fono Forum gegeben hat und das in dessen 50-Jahre-Jubiläumsausgabe nachgedruckt wurde. Auch interessant, was andere Musiker über ihn und seine Arbeit sagen, frei aus dem Gedächtnis zitiert. "Er war immer perfekt vorbereitet. "Er hatte eine klare Vorstellung, was er wie haben wollte." Und daher auch: "Es gab keine Diskussion, alles wurde gemacht, wie von ihm gedacht." Interessant bleibt aber doch, wie schnell seine Auffassung und sein Werk nach seinem Tod relativ in Vergessenheit geraten ist. Vielleicht eben, weil es bereits zu seinen späten Lebzeiten nicht mehr ganz auf der Höhe war und da seine Repertoirebeschränkung auch nicht viel Spannendes mehr bot.

    Gruß, Beryllo

    Gruß, Frank

    Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so selten dazu.

  • RE: Karajan Repertoire und Bekanntheitsgrad

    Zitat

    Interessant bleibt aber doch, wie schnell seine Auffassung und sein Werk nach seinem Tod relativ in Vergessenheit geraten ist. Vielleicht eben, weil es bereits zu seinen späten Lebzeiten nicht mehr ganz auf der Höhe war und da seine Repertoirebeschränkung auch nicht viel Spannendes mehr bot.


    Hallo Berylo,

    auf Dein Zitat möchte ich kurz eingehen.

    1. Vergessen ist Karajan bis heute in keinster Weise. Wenn es um Klassik geht, dann ist er auch heute noch ein gefragter Dirigent und wird gerade von der DG nach wie vor hoch vermarktet - weit mehr und höher als so manche aktuellle Neuaufnahme es schaffen würde.

    2. Das er in seinem Repertoire eingeschränkt war, sehe ich überhaupt nicht. Gut, von den Komponisten des 20.Jhd. gibt es nicht so viele Aufnahmen, aber die, die Vorliegen haben ein hohes Niveau (Honegger, Bartok, Strawinsky, Holst und was Edwin noch nannte). Er hat doch alle Klassiker, teils mehrfach und komplett eingespielt: Beethoven, Brahms, Schumann, Bruckner, Mahler, Haydn, Schubert u.v.m. liegt doch alles vor. (Der Dirigent, der von Keith genannt wurde, ja dem kann ich ein wirklich eingeschränktes Repertoire zubilligen, bei allem wohlwollen.)

    ______________

    Gruß aus Bonn

    Wolfgang

  • RE: Karjan und Edwin

    Karajan und Edwin - das ging nie zusammen

    Beachtlich finde ich den guten und kritischen Eingangsbeitrag von Edwin, der von einem einem der kritischsten "Karajanisten", die in deutschen Klassikforen bekannt sind, geschrieben wurde. Dafür meinen Dank an Edwin !

    Leider fehlt hier bei Capriccio die rechte Resonaz für das Karajan-Thema. ;+) Warscheinlich, weil es bei Tamíno in unzähligen Threads bis zum Abwinken durchgesprochen wurde. So eine Teilnahme, mit so vielen Beiträgen und Threads --- das hat noch kein Dirigent geschafft.

    :thumbup: Da sieht man mal, wie interessant Karajan auch heute noch ist.

    ______________

    Gruß aus Bonn

    Wolfgang

  • Beachtlich finde ich den guten und kritischen Eingangsbeitrag von Edwin, der von einem einem der kritischsten "Karajanisten", die in deutschen Klassikforen bekannt sind, geschrieben wurde. Dafür meinen Dank an Edwin !

    Hier liegt vielleicht das "Problem": Edwin hat sich in seinem wie ich finde sehr guten Beitrag durchaus differenziert zu Karajan geäußert, so dass es eigentlich nichts mehr hinzuzufügen gibt.

    Ein einseitiger, polemischer Artikel hätte dagegen wahrscheinlich mehr Resonanz erzeugt. Aber mir ist ein vergleichsweise objektiver Artikel trotzdem lieber.

    :wink:

    Roger

    "Ich brauche keine Musikkritiker"
    (Gennadi Roshdestwenskij)

  • Liebe Mitforianer,
    natürlich hätte ich es mir leicht machen und eine saftige Polemik schreiben können. Aber das wäre gegen meine Überzeugung gewesen. Ich bin zwar kein sonderlicher Freund Karajans, aber es gibt Aufnahmen, bei denen ich um ehrliche Bewunderung und Faszination nicht herumkomme.
    Da mir vor ein paar Wochen durch einen Zufall die Emi-Boxen zukamen, in denen vor allem der frühe Karajan enthalten ist, habe ich mich, zuerst widerwillig, dann aber immer interessierter nochmals mit ihm auseinandergesetzt.
    Tatsächlich sind da ein paar erstaunliche Sachen darunter: Zum Beispiel Brittens Bridge-Variationen. Ich sag`s aus alter Gegnerschaft ungern, aber ich muß es sagen: Das ist die mit Abstand beste Aufnahme des Werks, die ich kenne. Unglaublich ausbalanciert im Klang (und zwar zugunsten eines herb-bitteren Klanges), emotional aufgeladen, geradezu erschütternd im Trauermarsch und in der Coda nach der aufgepeitschten Fuge.
    Ebenso umwerfend fand ich die Aufnahmen von Bartóks Saiten-Musik und des Konzerts für Orchester. Die frühen Beethoven-Einspielungen schätzte ich immer, wenngleich mit andere Aufnahmen (auch jetzt) immer noch mehr zusagen.
    Glänzend sind übrigens auch die Sibelius-Einspielungen, die ich nach langer Zeit wieder hörte, und die mich jetzt wesentlich mehr faszinierten - vielleicht, weil ich mich an den immer wilder gestikulierenden Sibelius-Auffassungen der jüngeren Zeit sattgehört habe. Was Karajan bietet, ist meinem Gefühl nach ein Komponist, der tapfer gegen seine Depressionen kämpft und ihnen eine mitunter erzwungen wirkende Emphase entgegensetzt. Karajans Sibelius erscheint mir ziemlich verinnerlicht, die Musik wirkt auf mich wie die Äußerung eines sehr, sehr einsamen Menschen. Erstaunlicherweise dirigiert Karajan also den für mich menschlichsten und irgendwie auch berührendsten Sibelius. Das setzt sich übrigens auf den DG-Aufnahmen (sogar verstärkt) fort.
    Zum Anhänger des "ganzen Karajan" werde ich sicherlich nicht werden, dazu gibt es für mich zuviel Uninteressantes und Oberflächliches bei ihm. Aber partiell muß ich, wenngleich mit dem Zähneknirschen des Gegners, schon zugeben: Das war ein Könner - alle Achtung...!

    Übrigens gibt es auch eine DVD, die sehr aufschlußreich ist, nämlich das Bruckner-"Te Deum" (übrigens aus der späteren Zeit und dennoch ehrfurchtgeiertend): Hier wird klar, weshalb die Orchester wirklich gerne unter Karajan spielten - er ist ein fabelhafter Kapellmeister. Er macht keine überflüssige Bewegung, gibt völlig klare Zeichen und kann mit einer einzigen besonders auffallen gestalteten Geste die Dynamik in Grenzbereiche führen. Man spürt seine Souveränität, seine immense Werkkenntnis. Ihm das aus Gründen der Polemik nicht zuzubilligen hieße freilich, die Wahrheit zu leugnen.
    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • Übrigens gibt es auch eine DVD, die sehr aufschlußreich ist, nämlich das Bruckner-"Te Deum" (übrigens aus der späteren Zeit und dennoch ehrfurchtgeiertend): Hier wird klar, weshalb die Orchester wirklich gerne unter Karajan spielten - er ist ein fabelhafter Kapellmeister.

    Lieber Edwin,

    meinst Du diese DVD- oder eine andere:

    Da wären dann noch die Symphonien 8 und 9 enthalten.

    Herzliche Grüße,

    Christian

    Rem tene- verba sequentur - Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen

    Cato der Ältere

  • Hallo,

    ich höre einige Aufnahmen von Herbert von Karajan sehr gerne, andere nicht.

    Meine Favoriten von H. v. Karajan sind:


    Für mich die beste Aufnahme von G. Donizettis "Lucia di Lammermoor" und eine der ganz großen Live-Aufnahmen schlechthin.

    Neben den von mir oft genannten Toscanini-Interpretationen die beste "Gesamteinspielung" von Brahms' Symphonien.

    Bei diesen Aufnahmen ist eventuell der Widerspruch anderer Klassikliebhaber am größten? Ich finde, Schumann "lag" Karajan besonders gut. Man denke auch an das Klavierkonzert mit D. Lipatti.

    Auch diese Aufnahme von W. A. Mozarts "Cosi fan tutte" halte ich für ausgesprochen gelungen und gefällt mir bzgl. des Dirigats wesentlich besser als K. Böhms Referenz-Aufnahme der Oper Anfang der 1960er Jahre.

    Zu R. Strauss und A. Bruckner kann ich mich nicht äußern, ersten höre ich fast nie, zweiten habe ich noch nie gehört (Im Gegensatz zum ersten ist A. Bruckner aber lediglich "aufgespart").

    Bis dann.

  • Hallo Caesar,
    ja, genau diese DVD meine ich. Ich finde auch die beiden Symphonien sehr gut, kann aber nicht verschweigen, daß mich bei der Achten die Mischfassung stört. Die Neunte kenne ich in Aufführungen, die mir subjektiv mehr zusagen, aber bei Karajan ist vor allem das Scherzo imponierend: Dieses zermalmende Stampfen - fabelhaft. Die Ecksätze finde ich bei Mrawinski spannungsgeladener und bei Giulini feiner schattiert. Wobei ich auch die Aufnahmen von Schuricht, Klemperer und Horenstein insgesamt berührender finde als die Karajan-Einspielung, die nichts desto weniger auch zwingend ist. Musikalischer Monotheismus ist sowieso Unsinn!
    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • RE: RE: Karajan Repertoire und Bekanntheitsgrad

    (...) Vergessen ist Karajan bis heute in keinster Weise. Wenn es um Klassik geht, dann ist er auch heute noch ein gefragter Dirigent und wird gerade von der DG nach wie vor hoch vermarktet - weit mehr und höher als so manche aktuellle Neuaufnahme es schaffen würde.

    Es mag stimmen, dass Karajan monetärisch nicht in Vergessenheit geraten ist und weiterhin ein klingen(l)ndes Zugpferd der DGG ist. Dazu müsste man genaue Zahlen kennen, abstreiten mag ich diese Tatsache in Unkenntnis dieser aber nicht. Interessanter hingegen finde ich das nicht in barer Münze aufzuwiegende Erbe Karajans. Betrachtet man dessen Omnipräsenz zu Lebzeiten, seinen enormen Einfluss und Wirkungsgrad, so ist davon aus künstlerischer Hinsicht nicht allzu viel übrig geblieben. Im Gegenteil: Mir scheint es so, als sei seine Ästhetik doch allzu rasch mit seinem Tode von anderen Ansätzen verdrängt worden. Selbst Lehrlinge Karajans wie Seiji Ozawa oder - noch viel stärker - Mariss Jansons haben wohl sehr vom handwerklichen Können ihres Meisters lernen können. Ihre Tonsprache indes ist eine ganz andere geworden. Als Vorbild, auf dessen (späte) Ästhetik man zurückgreifen mag, taugt Karajan wohl eher nicht. Und mit einem Habitus, der dem seinen ähnelt, kommen heute wohl auch noch die wenigsten durch.

    LG
    C.

    „Beim Minigolf lernte ich, wie man mit Anstand verliert.“ (Element of Crime)

  • Zitat

    Und mit einem Habitus, der dem seinen ähnelt, kommen heute wohl auch noch die wenigsten durch.

    Erfreulicherweise nicht mehr, denn dieser irgendwie doch pseudoreligiöse Gestus hatte für mich immer etwas verflixt Unwahres. Trotzdem muß man sich fragen, ob die heute bei einigen Größen des Musikbetriebs üblichen Posen am Ende so viel ehrlichere Wurzeln haben....

    Was mir Karajan so unsympathisch macht, ist seine sehr bewußte Beförderung eines Starkults, der (für ihn, aber nicht nur für ihn) entsprechende finanzielle Folgen hatte und insgesamt zu einer bis dato nicht gekannten Hochkommerzialisierung der E-Musik geführt hat. Da ging es klar nicht nur um die Kunst als solche, sondern auch um an Ende millionenträchtige Verkaufszahlen.

    Weiterhin stört mich an Karajans Dirigat der häufige Geradeaustil ("is te recht"). Allerdings gestehe ich, nicht alle seiner relevanten Beethoven -oder Brahmsaufnahmen gut genug zu kennen, um diesbezüglich zu einem endgültigen Urteil gelangen zu können.

    Zudem gefallen mir einzelne Opernproduktionen unter Karajan wirklich ausgezeichnet: La Boheme, Tosca, Pelleas et Melisande...

    Zitat

    Karajans Sibelius erscheint mir ziemlich verinnerlicht, die Musik wirkt auf mich wie die Äußerung eines sehr, sehr einsamen Menschen. Erstaunlicherweise dirigiert Karajan also den für mich menschlichsten und irgendwie auch berührendsten Sibelius.

    Auch da stimme ich gerne zu: Die 6. und 7. von Sibelius unter Karajan begleiten mich schon seit fast 30 Jahren...."verinnerlicht" scheint mir nach wie vor der richtige Ausdruck für diese nach wie vor kaum übertroffenen Deutungen der späten Sibelius-Sinfonien.

    Aber dennoch: Gerade im Hinblick auf seine spezielle Art von *Marketing* ist Herbert von K. für mich nach wie vor ein Dirigent, dem ich erst mal mißtraue....am meisten bei Mozart, Beethoven, Brahms etc....

    Beste Grüße

    Bernd

  • Hallo Caesar,
    ja, genau diese DVD meine ich.

    Fein! Ich habe sie bestellt. Der von Dir erwähnte Sibelius gehört übrigens auch bei mir zur eisernen Reserve ;+)

    Herzliche Grüße, :wink: :wink:

    Christian

    Rem tene- verba sequentur - Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen

    Cato der Ältere

  • Danke, schöner Thread.

    Auf jeden Fall ist Karajan eine Gestalt, die zum Widerspruch, auch zur Polemik reizt. Dass dies hier unterblieben ist, finde ich nach mancher unsinniger Debatte der Vergangenheit, die sich in Glaubensfragen verlor, sehr angenehm. Wie wohl die meisten, ist meine Haltung zu Karajan ambivalent. Unterm Strich bleibt bei mir die Feststellung, dass er sich in meinen CD-Regalen nicht häufig wiederfindet. Und was ich von ihm habe, haut mich auch nicht in jedem Falle um (natürlich habe auch ich einen Beethoven-Zyklus von ihm, 1963, doch nun höre ich einfach lieber beispielsweise Järvi). Ich kann auch nicht einschätzen, inwieweit mich mein Widerwille gegen die Karajan'sche Selbstüberhöhung mich da lenkt.

    Was ich aber weiß, ist dass ich zwei Aufnahmen von ihm auch auf einsame Inseln mitnehmen würde.

    Die "Meistersinger" konnte ich vorher nicht ertragen. Dank dieser Einspielung hat sich das geändert.
    Und auch wenn es mir beim "Ring" durchaus anders geht, ich also keine Überzeugungsarbeit benötigte, so möchte ich doch auch diese Aufnahmen nicht mehr missen.

    Beide Male sehe ich hier nicht den selbsternannten Klangmagier, der breiten Schönklang über allem leuchten lässt, sondern den Musiker, der klare (und keineswegs kalte) Strukturen schafft.

    :wink:

    Jein (Fettes Brot, 1996)

  • Was mir Karajan so unsympathisch macht, ist seine sehr bewußte Beförderung eines Starkults, der (für ihn, aber nicht nur für ihn) entsprechende finanzielle Folgen hatte und insgesamt zu einer bis dato nicht gekannten Hochkommerzialisierung der E-Musik geführt hat. Da ging es klar nicht nur um die Kunst als solche, sondern auch um an Ende millionenträchtige Verkaufszahlen.

    Nun ja, die Tonträgerindustrie wäre froh, wenn sie mehr solcher verkaufsträchtigen Persönlichkeiten hätte (Und allemal lieber die Karajan-Marketing-Maschine als das "Produkt" LangLang) Mich stört der Kommerz eher wenig, was mich allerdings schon ein wenig peinlich berührt ist die Art und Weise, wie der späte Karajan Videos bzw. Fernsehproduktion gestalten ließ (diese entsprangen ja im wesentlichen seinem Ästhetik-Empfinden - nicht wirklich riefenstahlmäßig, aber doch die eine oder andere reichlich überzogene Helden - pardon - Künstlerpose).

    :wink:

    Stattdessen sind Sie Knall und Fall mitten im Unterricht vom Gymnasium abgegangen.
    GULDA: Ja, ich hab' gesagt, Herr Professor, darf ich aufs Klo, und bin nicht wiedergekommen. Ich glaub', es war in der Mathematikstunde .
    Warum sind Sie nicht in der Pause gegangen?
    GULDA: Das wär' ja fad gewesen. Keiner lacht. Die Tür ist eh offen. Ich wollte schon, daß es prickelt.

  • Die Selbstüberhöhung Karajans macht ihn auch mir insgesamt unsympathisch. Andererseits ist sie auch ein Resultat der Zeit - sozusagen ist Karajan der Höhepunkt einer Entwicklung, die, im dirigentischen Bereich, bei Toscanini und Furtwängler nicht begonnen hat, aber deutlich zu erkennen ist. Auch Karajans Gegenpol, Leonard Bernstein, ist nicht frei davon, während sich Sergiu Celibidache gleich als Guru inszeniert. Die jüngere Dirigentengeneration mußte jedoch diese Posen ablegen, da die Orchester sie schon beim späten Karajan und beim späten Bernstein nur noch widerwillig akzeptierten.
    Dazu kommt, daß der genannte Mariss Jansons ja weniger aus dem Dunstkreis Karajans kommt, sondern von Karl Österreicher ausgebildet wurde. Österreicher war kein sonderlicher Freund des Karajan'schen Stils, sondern setzte primär einmal auf die Beherrschung der Schlagtechnik. Die Ästhetik der Bewegung, die Karajan so wichtig nahm, daß er Stunden bei einem Tänzer nahm und seine Gesten vor dem Spiegel einstudierte, war für Österreicher nebensächlich: "Stimmen" mußte die Geste. Dadurch steht Jansons einmal in einer sehr soliden kapellmeisterlichen Tradition, zu der, durch seinen ebenfalls sehr beachtlichen Vater Arvid, eine ganz eigenartige Besessenheit im Umgang mit dem Werk dazukommt. Jansons feilt an Details wie sonst nur wenige - mitunter sogar zum Nachteil der Gesamtaufführung (jetzt weniger als vor etwa 10 Jahren, als viele Interpretationen in Einzelteile zerfielen). Dadurch hat sich Jansons, sowohl optisch als inhaltlich, weit von Karajan entfernt.
    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • Was mir Karajan so unsympathisch macht, ist seine sehr bewußte Beförderung eines Starkults, der (für ihn, aber nicht nur für ihn) entsprechende finanzielle Folgen hatte und insgesamt zu einer bis dato nicht gekannten Hochkommerzialisierung der E-Musik geführt hat. Da ging es klar nicht nur um die Kunst als solche, sondern auch um an Ende millionenträchtige Verkaufszahlen.

    Ich verstehe nicht, was an dem Streben nach Gewinnmaximierung (man kann es bösartig auch Profitgier nennen) in der Karajanschen Ausprägung so verwerflich ist.
    In der heutigen Gesellschaft, in der Gewinnmaximierung, die durch Entlassungen und Lohndumping erreicht werden, stillschweigend hingenommen werden, kann ich an Karajans Profitstreben nichts Unsympathisches entdecken.

    In den USA würde eine solche (Neid-)diskussion um die Person Bernstein wohl nicht geführt werden.

    Ich denke, man sollte immer berücksichtigen, wem man und in welchem Ausmaß mit seinem Verhalten schädigt. Daher sind mir profitorientierte Stardirigenten wesentlich lieber als unzählige (wenn auch nicht alle) Wirtschaftsmanager.

    Grüße

  • Zitat

    In den USA würde eine solche (Neid-)diskussion um die Person Bernstein wohl nicht geführt werden.

    In die USA möchte ich auch um keinen Preis auswandern müssen.... :D

    Zitat

    Ich verstehe nicht, was an dem Streben nach Gewinnmaximierung (man kann es bösartig auch Profitgier nennen) in der Karajanschen Ausprägung so verwerflich ist.

    Ich finde die Gier nach Geldmengen, die weit über das hinausgehen, was ein Mensch sinnvollerweise ausgeben kann, nicht nur verwerflich, sondern hochgradig ekeleregend. Aber die Diskussion über dieses Thema müssen wir hier nicht wirklich vertiefen.

    Beste Grüße

    Bernd

  • Hallo Parsifal,

    die Thematik "Gewinnmaximierung" oder "Gewinnoptimierung" ist ein wirtschaftswissenschaftliches Phänomen, das zu Diskussionen Anlass bieten würde, wenn wir die Verkaufszahlen z. B. als Indikator der Publikumswirksamkeit oder Marktpenetration besprechen. Jedoch ist dieses Kriterium (Gewinnmaximierung) in der Musik oder allgemein der Kunst wenig geeignet, um z. B. "Qualitätsbegriffe" zu diskutieren.

    Bis dann.

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!