HERBERT VON KARAJAN - Ein Interpret in Licht und Schatten

  • Erst einmal ein herzlicher Dank an Edwin für den tollen und differenzierten Einführungsbeitrag! Edwin, wenn Du jetzt noch lobende Worte für Richard Strauss, Otto Schenk und Anna Netrebko findest, könnte dies bei einigen evtl. einen Glauben an die bevorstehende Apokalypse auslösen! :D

    Ich denke, daß das Problem mit dem späteren Karajan in der Tat sein unbeirrtes Festhalten an der Schönklang-Ästhetik zum einen und an einem unangenehm werdenden Personenkult zum anderen war. Sicherlich, Karajan war auch der Dirigent des HiFi-Zeitalters, als guter und runder Klang große Wertschätzung fand, aber seine Umgebung derartig konsequent auszublenden war sicherlich keine gute Idee. Kulminieren tut dies für mich in der 1987er Aufnahme der "Vier Jahreszeiten" mit Anne-Sophie Mutter und HvK am Cembalo. Das klingt eher nach James Last als nach Vivaldi! Und daß die Zeiten des diktatorisch agierenden Maestros vorbei waren, hätte Karajan spätestens seit dem Ärger in der Angelegenheit Sabine Meyer merken müssen. Von diversem Zirkus wie dem genauen Ausleuchten des Meisters für die Filme zu den Beethoven-Symphonien ganz zu schweigen.

    Trotzdem: Karajans bereits erwähnte Aufnahme des "Te Deum" finde ich auch fabelhaft, auch sein Verdi-Requiem gefällt mir sehr. Etwas böse könnte man sagen, daß er immer dann gut war, wenn es dick, pathetisch und pompös wurde. :D Der frühe Karajan ist sicherlich ein interessanter Tip, den man sich merken sollte.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Erst einmal ein herzlicher Dank an Edwin für den tollen und differenzierten Einführungsbeitrag! Edwin, wenn Du jetzt noch lobende Worte für Richard Strauss, Otto Schenk und Anna Netrebko findest, könnte dies bei einigen evtl. einen Glauben an die bevorstehende Apokalypse auslösen!

    Ich habe mich zunächst zurückgenommen, da ich kein Ex-Tamino bin und nicht plump vertraulich wirken wollte. Gleichwohl habe ich hier und da im Tamino mitgelesen (vor allem seit sich in dem kleinen Forum, in welchem ich bisher geschrieben habe, zunehmend Leute getummelt haben, die nicht meine Wellenlänge hatten) und habe natürlich mitbekommen, dass Edwin dort wenig Positives zu Karajan geäußert hat. Umso - positiv - überraschter bin ich über den ausgewogenen, die Antipathien auszuklammern versuchenden Eröffnungsbeitrag. Ich weiß wie schwer das ist, traue mir selbst zum Beispiel etwas Ausgewogenes über HIP zu schreiben nicht zu.

    Überrascht hat mich nicht die überwiegend positive Einschätzung der Sibelius-Aufnahmen, ich selbst finde zudem, dass Karajan mit dem einen oder anderen Franzosen gut zurechtgekommen ist (durchaus auch im Vergleich mit Martinon, Monteux, Münch oder dem allseits sträflich unterschätzten Paray).

    Völlig überrascht war ich über Edwins Einschätzung zur Kombination Britten-Karajan, ehrlich gesagt wusste ich gar nicht, dass diese Kombination existiert. Gleich mal schauen, ob es das einzeln zu kaufen gibt, scheint Edwin ja aus der 80-oder-was-weiss-ich-wie-viele CDs umfassenden EMI-Box zu kennen.

    Ich persönlich finde Nielsens 4. mit den Berlinern auch ziemlich gut (soweit ich mich erinnere) und die späten Brucknereinspielungen mit den Wienern. Kreischend weglaufen muss ich z.B. bei Tschaikowski (den ich aber sowieso nur mit Mrawinski und vielleicht noch mit Abstrichen Swetlanow, Szell oder Fricsay ertrage).

    Gruß
    Henning

    Stattdessen sind Sie Knall und Fall mitten im Unterricht vom Gymnasium abgegangen.
    GULDA: Ja, ich hab' gesagt, Herr Professor, darf ich aufs Klo, und bin nicht wiedergekommen. Ich glaub', es war in der Mathematikstunde .
    Warum sind Sie nicht in der Pause gegangen?
    GULDA: Das wär' ja fad gewesen. Keiner lacht. Die Tür ist eh offen. Ich wollte schon, daß es prickelt.

  • Völlig überrascht war ich über Edwins Einschätzung zur Kombination Britten-Karajan, ehrlich gesagt wusste ich gar nicht, dass diese Kombination existiert. Gleich mal schauen, ob es das einzeln zu kaufen gibt,

    Ja, sogar preisgünstig:

    Die CD ermöglicht auch, Karajans glänzende Aufführung der Tallis-Fantasia von Vaughan Williams zu hören. Karajans Umgang mit dem Streicherklang ist phänomenal. Bei Harty/Händel bin ich insofern nicht in der Lage, etwas Vernünftiges zu sagen, als ich die Harty-Bearbeitung nicht ausstehen kann. Aber im Rahmen des Möglichen ist auch das sehr gut.
    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • Danke für den Hinweis! :wink:

    Stattdessen sind Sie Knall und Fall mitten im Unterricht vom Gymnasium abgegangen.
    GULDA: Ja, ich hab' gesagt, Herr Professor, darf ich aufs Klo, und bin nicht wiedergekommen. Ich glaub', es war in der Mathematikstunde .
    Warum sind Sie nicht in der Pause gegangen?
    GULDA: Das wär' ja fad gewesen. Keiner lacht. Die Tür ist eh offen. Ich wollte schon, daß es prickelt.

  • Hallo,

    Und daß die Zeiten des diktatorisch agierenden Maestros vorbei waren, hätte Karajan spätestens seit dem Ärger in der Angelegenheit Sabine Meyer merken müssen.


    Da frag ich mich aber schon, wer da stur und konservativ war. Das Karajan mit Sabine Meyer eine grosse Künstlerin entdeckt hatte, steht ja wohl mittlerweile ausser frage. Und er wollte eine Frau in den Männerverein bringen. Dass Karajan sich in dieser Angelegenheit sicherlich nicht besonders geschickt angestellt hat stimmt sicherlich auch.

    Was mir Karajan so unsympathisch macht, ist seine sehr bewußte Beförderung eines Starkults, der (für ihn, aber nicht nur für ihn) entsprechende finanzielle Folgen hatte und insgesamt zu einer bis dato nicht gekannten Hochkommerzialisierung der E-Musik geführt hat. Da ging es klar nicht nur um die Kunst als solche, sondern auch um an Ende millionenträchtige Verkaufszahlen.


    Karajan hat sich sicher gut inszeniert und viel Geld verdient, aber ich denke er hat sich meines Wissens nach nie künstlerisch ganz dem Kommerz geopfert, wie z.B. ein Mehta, der ja nun jegliche Events dirigiert hat (Bocelli, 3 Tenöre etc.). Und wenn jemand Nielsensymphonien aufnimmt, kann man ja wohl auch nicht behaupten, dass es ihm immer nur um millionenträchtige Verkaufszahlen ging...
    Gruss :wink:
    Syrinx

    Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen, Wenn es nicht aus der Seele dringt Und mit urkräftigem Behagen Die Herzen aller Hörer zwingt.
    Goethe, Faust 1

  • Zitat

    Karajan hat sich sicher gut inszeniert und viel Geld verdient, aber ich denke er hat sich meines Wissens nach nie künstlerisch ganz dem Kommerz geopfert, wie z.B. ein Mehta, der ja nun jegliche Events dirigiert hat (Bocelli, 3 Tenöre etc.). Und wenn jemand Nielsensymphonien aufnimmt, kann man ja wohl auch nicht behaupten, dass es ihm immer nur um millionenträchtige Verkaufszahlen ging...

    also wenn ich mir Rheingold-DVD-Theaterkanal) reinziehe, dann kann ich leider nichts von guter Inszenierung wahrnehmen (gutes Orchester ja, der einzige Wagner der mir bisher unter Karajan gefällt). Ich denke, dass es Dirigenten wie z.B. Boulez, Gielen, Rosbaud, Leibowitz, Zender, Maderna wesentlich weniger um Events + um Verkaufszahlen ging + geht als Karajan, da diese sich viel stärker sich für unbekannte, vergssene und zeitgenössische Werke engagierten. Auch bei Mahler ist Karajan in den Trend mit aufgestiegen, als ihn zu prägen (wie z.B. Kubelik, Barbirolli, Lenny, Mitropoulos, Horenstein :( wobei Karajan der 4. Satz von Mahler 9 gar nicht so schlecht gelingt...

    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Zitat von Amfortas09


    ...
    Auch bei Mahler ist Karajan in den Trend mit aufgestiegen, als ihn zu prägen (wie z.B. Kubelik, Barbirolli, Lenny, Mitropoulos, Horenstein :( wobei Karajan der 4. Satz von Mahler 9 gar nicht so schlecht gelingt...
    ...

    Hallo Amfortas09,

    nicht zu vergessen: B. Walter! M. E. ist L. Bernstein ebenfalls "nur nachgezogen". Aber das ist ein anderes Thema.

    Bis dann.

  • Was mich besonders überrascht hat, war HvKs zweimaliges und sehr überzeugendes Eintreten für DS10! Ich meine, das sollte hier noch Erwähnung finden. :juhu:



    Ansonsten: Dass man Sibelius, Brahms und einiges von Bruckner (die 8. und 9. eher als die 3. oder 7.) durchaus sehr gut von ihm anhören kann, ist ja nun keine neue Erkenntnis.

    Als ich seine Mahler 9 erstmals hörte, war ich beim Kopfsatz völlig hin und weg. Bei den Mittelsätzen trat dann Ernüchterung ein - so kann man das doch nicht machen! Der Schlußsatz gefiel mir dann wieder beinahe so gut wie der erste. Sehr zwiespältiger Eindruck :S

    Was mich befremdet ist, dass ich bei Beethovens Neunter seit 20 Jahren von der späten Karajan-Aufnahme hingerissen bin, die ja eigentlich sehr deutlich alle Merkmale seines Spätstils offenbart. Trotzdem kann ich mich (trotz des schwachen Tenors Vinson Cole) nicht davon losreissen und höre diese Scheibe sogar häufiger als die grandiose Fricsay-Einspielung.



    Was im Zusammenhang mit dem Phänomen Karajan sicher bedeutsam ist, ist die endlos lange Reihe von Sängern und Instrumentalisten, die er z.T. entdeckt, jedenfalls aber gefördert hat. Mancher große Name hat seine Weltkarriere zu einem großen Teil dem Anif-Bertl zu verdanken.

    Cheers,

    Lavine :wink:

    “I think God, in creating man, somewhat overestimated his ability."
    Oscar Wilde

  • Zitat

    nicht zu vergessen: B. Walter! M. E. ist L. Bernstein ebenfalls "nur nachgezogen". Aber das ist ein anderes Thema....


    Bruno Walter hatte ich tatsächlich vergessen. Vielleicht, weil mir bisher - von seinen Mahlerwiedergaben - nur seine Mahler S. 5 zusagt..

    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Was im Zusammenhang mit dem Phänomen Karajan sicher bedeutsam ist, ist die endlos lange Reihe von Sängern und Instrumentalisten, die er z.T. entdeckt, jedenfalls aber gefördert hat. Mancher große Name hat seine Weltkarriere zu einem großen Teil dem Anif-Bertl zu verdanken.

    Da kann man aber auch häufig genug lesen, dass es für Sänger unter Umständen einer Katastrophe gleichkam, von HvK "gefördert" zu werden. Ich kann nicht wirklich beurteilen, inwieweit das stimmt.

    Aus einem Interview mit Nicolai Gedda:

    Zitat

    Stimmen waren Karajan egal, er wollte nichts von Grenzen verstehen. Leider. Er konnte von einer Stimme besessen sein, wollte aber dann, dass der Künstler auch solche Partien sang, die seiner Stimme schaden konnten. Wenn der kaputtgeht, dann nehmen wir einen anderen – so hat er wohl gedacht. Viele Karrieren hat er dadurch wenn nicht zerstört so doch verkürzt.

    - Leichen pflastern seinen Weg.


    Michel

    Es gibt kaum etwas Subversiveres als die Oper. Ich bin demütiger Diener gegenüber diesem Material, das voller Pfeffer steckt. Also: Provokation um der Werktreue willen. (Stefan Herheim)

  • Zitat

    Als ich seine Mahler 9 erstmals hörte, war ich beim Kopfsatz völlig hin und weg. Bei den Mittelsätzen trat dann Ernüchterung ein - so kann man das doch nicht machen! Der Schlußsatz gefiel mir dann wieder beinahe so gut wie der erste. Sehr zwiespältiger Eindruck

    ja, wobei ich von Mahlers S. 9 mir eine Reihe Wiedergaben reingezogen hatte, die nicht an Karajans Wiedergabe herankamen, aber sehr viele andere Wiedergaben die mir mehr zusagen, als die mit den Berlinern (live + 2 x kommerziell) unter Karajan ...
    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Trotzdem kann ich mich (trotz des schwachen Tenors Vinson Cole) nicht davon losreissen

    Wenn nur Cole das einzige Problem wäre. Perrys Pürierstab-Vibrato lässt mich nicht nur losreißen...
    Da find ich diese doch sehr viel besser, zumal sie auch nicht so spätstilig ist, was wohl an der Frühe der Aufnahme liegt, wenn sie auch in der Mitte angesiedelt ist.


    Nuja, Schreier muss man mögen.

    Jetzt kommt sie auch endlich schmuck daher, bislang sah sie so aus:


    audiamus

    "...es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen." - Johannes Brahms

  • Hallo,

    von H. v. Karajan hat mir immer sehr gut seine Äußerung gegenüber D. Barenboim über das Dirigieren gefallen, wenn es ggf. auch eine Simplifizierung ist:

    Die Anweisungen eines Dirigenten könne man mit 6 Begriffen zusammenfassen:
    "Zu laut, zu leise, zu spät, zu früh, zu schnell, zu langsam."
    (Fischer, Jens Malte, Carlos Kleiber - der skrupulöse Exzentriker, Göttingen, 2. Auflage 2007, S. 26)

    Bis dann.

  • "Geldscheinsonate"-Polemiker Umbach?

    Das ist unverkennbar Klaus "Spiegel-Schmock" Umbach. Karajan, der philharmonische Hohepriester, dieser kleinwüchsige Österreicher, der greise Klang- und Finanz-Magier, die philharmonische Siegessäule - James Levine, der bullige Stabführer aus der Neuen Welt... :D

    Hübscher Artikel. Hachja, die achtziger Jahre... :D


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Alos, was ich schon über Umbachs HvK-Charakterisierungen gelacht habe, das geht auf keine Kuhhaut.

    Egal: Je mehr ich von Karajan kennenlerne, desto mehr stelle ich mir die Frage, welcher Dirigent ein ähnlich dichtes Vermächtnis an brillanten Aufnahmen hinterlassen hat (wobei Kaiser gar meint, der Aufführungs-Karajan sei äußerst schwach auf digitalen Tonträgern abgebildet, insbesondere die Oberton-Region). Da ist ein unsäglicher Kitsch und billiger Potpourri-Rummeldreck dabei, ohne jede Frage, aber auch Jahre in den Fünfzigern, die hat kein anderer in ähnlicher Manier aufzuweisen, mit mehreren Referenzaufnahmen in einem Jahr.

    Sicher war Karajan ein genialer Selbstvermarkter - obwohl man sich angesichts der völlig uncharismatisch wirkenden Person fragt, wieso: Die Interviews zeigen einen unsicheren, fast neurotischen Spießbürger, weder eloquent noch gewinnend noch beeindruckend. Die berühmte weltabgewandte Pose im Konzert ist ja in den frühen Jahren auch noch nicht zu bemerken. Also muß der Reiz sich doch zunächst über die Musik transportiert haben, und mit Sicherheit über die Tatsache, daß Karajan in dem Moment, wo die Schallplatte die Hausmusik mehr und mehr zu verdrängen begann, aufgrund seines Status' bei Legge zur marktbeherrschenden Figur wurde.
    Daß Muti, Rattle, Thielemann, Barenboim oder Christie heute einem gewandelten Stil frönen, dennoch aber die Selbstvermarktung und die auratische Inszenierung bis zur unfreiwilligen Komik pflegen, ist sicher Karajans Erfolg geschuldet, zeugt aber davon, daß sich die diesbezüglichen Anwürfe etwas unfairerweise fast ausschließlich auf eben den erfolgreichsten Schamanendarsteller Herbert konzentrieren.

    Noch zu den Stimmen: Gedda mag richtig liegen, van Dam oder Christa Ludwig beschreiben Karajan etwas anders. Gezwungen wurden Weltstars jedenfalls nicht, mit Karajan zu musizieren. Man denke an Birgit Nilsson, die ihm durchaus abgesagt hat.

    Und zur Nazimitläuferschaft: Karajan hat sich sicher nicht mit Nachruhm bekleckert in einer Zeit, wo er nach eigener Aussage tatsächlich über Leichen gegangen wäre, um seinen Kapellmeistertraum zu erfüllen. Er hat sich dem Regime angedient, unerheblich, mit welcher Überzeugung etc. Interessant nur, daß dem Karrieristen Karajan dafür nun mehr Kritik entgegenschwappt als Knappertsbusch, Böhm, Richard Strauss und anderen.

    Also: Licht und Schatten, die Schatten dicklich-schmierig und anfänglich leicht gebräunt, das Licht aber äußerst gleißend, und in manchen Zeiten das ganze Jahr über leuchtend.
    Beeindruckend bleibt mir der Herbert, und ich kann mir gut vorstellen, daß von ihm weit mehr überleben wird als von den meisten seiner großen Zeitgenossen.

    LG

    GI

    "Scheiter', Haufen!"

  • Seit längerer Zeit war mal wieder eine Karajan-Aufnahme im Player, Bruckners Vierte mit den Berliner Philharmonikern, eingespielt 1975:


    Karajan lässt zwar nominell die Haas-Fassung spielen, reichert diese aber mit einigen Details aus der korrumpierten Loewe-Fassung unseligen Angedenkens an. Da spielen mal die Geigen eine Oktave höher, dann wird ein Paukenwirbel hinzugefügt - und als Höhepunkt erklingt am Anfang des Finales (Dur-Durchbruch des Hauptthemenkomplexes) ein hier wirklich einmal sinnfreier Beckenschlag. Dass sich jemand so etwas noch Mitte der 70er Jahre getraut hat, verdient je nach Standpunkt Respekt oder Kopfschütteln. Von meiner Seite aus :thumbdown:. Festzuhalten bleibt, dass Karajan nicht als der skrupulöse Philologe unter den Dirigenten in die Musikgeschichte eingehen wird.

    Davon abgesehen ist das keine schlechte Aufnahme, in mancher Hinsicht sogar bemerkenswert. Karajan lässt die Vierte straightforward spielen, mit meist zügigen Tempi. Besonders den zweiten Satz habe ich noch nie so schnell gehört, wirklich einmal quasi allegretto. Darüber hinaus hat mich die Interpretation des Seitenthemas beeindruckt. Häufig mäandern ja hier die Bratschen melancholisch vor sich hin - Karajan setzt aber die mit Forte bezeichnenden Partien scharf ab, fast wie Schreie, begleitet von heftigen Pizzicato-Peitschenhieben.

    Trotzdem mehr Schatten als Licht, und zwar aufgrund einer alten Karajan-Unart: Zu oft gehen Gegen- bzw. Nebenstimmen verloren. Bruckner frönt ja nicht nur in dieser Sinfonie der Eigenart, bei Tutti-Passagen ausschließlich den Hörnern wichtige abweichende Stimmen anzuvertrauen. Da muss sich ein Dirigent halt bemühen, das hörbar zu machen. Bei HvK absolute Fehlanzeige, die Hörner gehen im Tutti-Klang hoffnungslos unter, die Musik klingt dadurch simpler als sie notiert ist. Probehalber habe ich in die fast gleichzeitig entstandene Karl-Böhm-Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern reingehört: In mancher Hinsicht klingt die konventioneller (das behäbige Scherzo z.B.), aber Böhm ist wirklich rührend um die Hornstimmen besorgt, die zudem klangtechnisch fast schon unnatürlich in den Vordergrund gezogen sind.

    Nicht verschwiegen sei, dass Karajan fast wie Jochum, nur etwas verschämter, gerne bei großangelegten Crescendi das Tempo anzieht.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • in dem "eben gehört" Thread habe ich heute eine kleine Karajan-Diskussion entfacht, die ich zum Anlaß nehme, diesen Thread wieder hervorzuholen. Manches Neu-Mitglied kennt vielleicht den Thread noch nicht.

    Zitat

    [Khampan:]

    [dirigent:]
    Diese Aussage ohne Niveau :stumm: kann man sich doch sparen! Und das am Sonntag!!!!!!!

    Sonntag ja, aber auch Reformationstag...
    Ich gebe zu, es war eine zeimlich provokante Äußerung, allerdings als Reaktion auf eine Liste von "eben gehört" CDs mit Karajan, die zumindest bei mir durch ihre schiere Länge den Anschein erweckte, als sollten hier Maßstäbe gesetzt werden (immer wieder diese Erinnerungen an alte Zeiten, Entschuldigung wenn ich damit völlig daneben liege).


    Zitat

    [Khampan:]

    [Peter Brixius:]
    Es gibt schon einiges von Karajan, an dem man nicht vorbei gehen kann, z.B. den frühen Beethoven-Zyklus und die Kölner Lucia mit Callas. Karajan ist für mich nicht mehr so wichtig als Hassfigur, dass ich nun eine Positivliste von Karajan-Aufnahmen aufstellen möchte. Aber dass sein Erfolg auch auf der Qualität seiner Arbeit beruhte, sollte man auch als Gegner seiner Politik nicht übersehen können.

    Klar kenne auch ich viele Karajan-Aufnahmen und habe in meiner Jugend manche Werke mit ihm erst kennengelernt. Aber es gibt kaum ein Werk, für das ich nicht später eine (für mich) bessere Aufnahme gefunden hätte. Dazu gehören zuallererst die Beethoven-Sinfonien, die mir durch Karajans Verstümmelungen sowohl in musikalischer Hinsicht (fehlende Wiederholungen) als auch in klangtechnischer Hinsicht (mangelnde polyphone Durchhörbarkeit) beinahe verleidet worden wären. Dies muss ich explizit für die erste Berliner Aufnahme sagen.

    Daß mir augenblicklich "eine einzige CD" verblieben ist, ist purer Zufall, da ich immer wieder CDs anteste, dann aber meist froh bin wenn sie wieder verkauft sind oder ich es anderweitig beim einmaligen Hören belassen kann. Der Grund ist also eher daß ich nicht der typische Jäger und Sammler bin, als daß ich Karajan jegliche Qualität abspreche. Trotzdem kam mir der oben zitierte Satz gerade zupaß, um der Sache unter Berücksichtigung der vorangegangenen Postings eine publikumswirksame Spitze zu geben. Ich wollte eben zeigen, es geht auch ohne Karajan (besonders wenn man kein Opernfan ist, aber um Opern ging es auch gar nicht).

    Zu dieser Aussage stehe ich weiterhin.

    Unseren neuen Karajan-Kenner Andreas lade ich herzlich ein, in diesem Thread zu erläutern, was an den einzelnen Aufnahmen so toll ist, am besten im Vergleich mit anderen Interpretationen.

    Khampan

  • Aber es gibt kaum ein Werk, für das ich nicht später eine (für mich) bessere Aufnahme gefunden hätte. Dazu gehören zuallererst die Beethoven-Sinfonien, die mir durch Karajans Verstümmelungen sowohl in musikalischer Hinsicht (fehlende Wiederholungen) als auch in klangtechnischer Hinsicht (mangelnde polyphone Durchhörbarkeit) beinahe verleidet worden wären. Dies muss ich explizit für die erste Berliner Aufnahme sagen.

    Wie gesagt, das Thema ist für mich zu unwichtig, dass ich mich da streiten möchte. Meine Philosophie ist, dass jede Aufnahme von Rang anders ist - und nicht besser oder schlechter.Wie im Umgang mit Menschen schreibe ich den anderen nicht vor, wie sie zu sein haben sollen, sondern versuche zu verstehen, wie sie sind. Nach dem oben genannten Kriterium könnte ich die Bernstein- und Walter-Einspielungen, die von Toscanini wie die von Furtwängler auf den Müllhaufen der Geschichte werfen. Was würde ich da an künstlerischen Erkenntnissen verpassen!

    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Ich würde die fehlenden Wiederholungen nicht überbewerten. Auch sie sind ein Teil der Tradition, in der Karajan steht. Außerdem ist Karajan bei Wiederholungen ohnedies skeptisch: Orff berichtet, daß er bei seinen "Trionfi" formbildende Abschnittswiederholungen gestrichen hat. Das zeigt, daß für Karajan primär das zählt, was als Entwicklung begriffen werden kann.
    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

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