Rihm, Wolfgang – Vom Innersten zum Äußersten

  • Rihm, Wolfgang – Vom Innersten zum Äußersten

    Wolfgang Rihm, Jahrgang 1952, gehört vielleicht zu den bekanntesten nach 1945 geborenen Komponisten Deutschlands; ganz sicher gehört er zu den vielseitigsten und produktivsten, vermutlich auch zu den provokativsten. Seine Biographie läßt sich leicht ergoogeln und muß daher hier nicht im Detail wiederholt werden. Erwähnt werden soll allein, daß er im Jahr 1972, gleichzeitig mit dem Abitur, ein Diplom für Komposition und Musiktheorie erwarb (er hatte ab 1968 an der Karlsruher Musikhochschule bei Eugen Werner Velte studiert). In der Folgezeit setzte er seine Studien in Karlsruhe unter anderem bei Wolfgang Fortner und Humphrey Searle fort; in den Jahren 1972/73 studierte er dann zudem in Köln bei Karlheinz Stockhausen.

    Rihms Werk umfasst ein überaus breites Spektrum: von Klavierstücken bis zu groß besetzten Orchesterkompositionen, Ensemble- und Kammermusik (darunter bisher 12 Streichquartette; ein 13. wird in der Saison 2008/09 in Essen uraufgeführt werden), Klavier- und Orchesterlieder, Chor- und Passionsmusik, Oper, Ballet und synästhetisches Musiktheater. Eine enge Verschränkung von Literatur/Dichtung/Drama (insbesondere Autoren wie Friedrich Nietzsche, Paul Celan und Antonin Artaud stellen hier Fixpunkte dar) und Musik stellt dabei ein Zentralcharakteristikum des Rihmschen Schaffens insbesondere seit den 1980er Jahren dar.

    Wenn man die Entwicklung des Komponisten Rihm seit den späten 1960er Jahren betrachtet, so lassen sich bisher grob vier Stil-Phasen unterscheiden:


    Serielle Anfänge und »Neue Einfachheit«

    Die ersten, zwischen 1968 und 1972 entstandenen Werke Rihms sind deutlich dem bis in die 1960er Jahren dominierenden kompositionstechnischen Paradigma des Serialismus verpflichtet. Neben kleineren Klavierwerken gehören zu der Werkgruppe dieser 1. Phase u.a. die 1968 entstandenen Lieder nach Texten von August Stramm (op. 1), das 1. Streichquartett (op. 2, 1970) sowie eine 1. Symphonie für großes Orchester (op. 3, 1969/70).

    Eine 2. Phase – und diese läßt sich sicherlich als Rihms provokativste fassen – ist von einer radikalen Abwendung vom Paradigma des Serialismus gekennzeichnet. Bestimmend für die Kompositionen dieser Phase wird eine orientierende Rückbesinnung auf das Werk von Alban Berg und Gustav Mahler und eine Einbeziehung von Ausdrucksmustern der Spät- und Spätestromantik. Das Primat des musikalischen Materials weicht hier – nicht sukzessive, sondern abrupt und radikal – einer Rückkehr zu einer Unmittelbarkeit des Ausdrucks. So löste die Uraufführung von Rihms 40minütiger »Morphonie für Orchester mit Solostreichquartett« (1972) im Rahmen der Donauseschinger Musiktage 1974 aufgrund der hier offensichtlich formulierten Absage an die materialorientierte Avantgarde einen Skandal aus.
    Rihm galt von nun an als das enfant terrible der deutschen Musikszene, dem man das Etikett der »Neuen Einfachheit« anklebte, den man gar zum Kopf einer Komponistengruppe stilisierte, die ebenfalls unter diesem Label zusammengefaßt wurde (u.a. Manfred Trojahn, Detlef Müller-Siemens, Hans-Jürgen von Bose, Heinz Winbeck, Reinhard Febel ...).

    »Neue Einfachheit« – dieses Etikett ist dabei so ziemlich alles- und nichtssagend: Einerseits trifft es sicherlich zu, daß Rihm seit den 1970er Jahren um eine Unmittelbarkeit des Ausdrucks und eine recht radikale Subjektivität bemüht ist (bisweilen tragen seine Werke dies auch mit ihren Titeln plakativ/provokativ vor sich her; etwa das 1976 entstandene 3. Streichquartett, das mit dem Titel Im Innersten versehen ist). Andererseits spielen formale und konstruktivistische Aspekte in Rihms Kompositionsweise weiterhin eine herausragende Rolle, ja Form und Konstruktion selbst werden hinsichtlich ihrer Ausdrucks- und Suggestionskräfte ausgelotet.

    Deutlich wird dies etwa anhand einer Reihe kürzerer Orchesterkompositionen, die Rihm in den 1970er Jahren folgen ließ und in denen er das in der »Morphonie« formulierte Programm weiterentwickelte. Zu nennen wären hier insbesondere »Dis-Kontur für großes Orchester« (1974), »Sub-Kontur für Orchester« (1974/75) (beide Werke machen ja bereits über die Titel wieder die Relevanz der Arbeit an formalen Parametern deutlich), »Lichtzwang. Erste Musik für Violine und Orchester« (1975/76), sowie die Symphonien Nr. 2 für großes Orchester (1975) und Nr. 3 für Soli, Chor und großes Orchester nach Texten von Friedrich Nietzsche und Arthur Rimbaud (1977, revidierte Fassung 1996).

    In dieser zweiten Phase entstanden auch erste musikdramatische Werke: die Kammeropern Faust und Yorick (1977) und Jakob Lenz (1979; nach Georg Büchner). Das zuletzt genannte Werk, das keineswegs - wie der Titel vielleicht suggerieren mag - an die gute alte Literaturoper anschließt, sondern im Gegenteil radikal mit ihr bricht, indem die Handlung eigentlich allein als verspiegelte Reflexion des Protagonisten (»im Innersten« eben) präsentiert wird, ist bis heute Rihms am häufigsten gespieltes Bühnenwerk.

    Ende der 1970er Jahre zeichnet sich allerdings bereits wieder eine Veränderung im Ausdrucksgestus der Rihmschen Werke ab: Das ebenfalls 1979 entstandene »Konzert für Bratsche und Orchester« ist zwar noch dem Kompositionsstil dieser Phase verpflichtet, weist aber mit der sich abzeichnenden Tendenz zur Andeutung, zur Verknappungen und einem zwar immer noch expressiven jedoch nüchterneren Gestus Charakteristika auf, die für die Rihmsche Instrumentalmusik der 1980er Jahre, der 3. Werkphase, bestimmend werden sollte.


    »Theater der Grausamkeit« und »Chiffren«

    In dieser 3. Phase sind zwei Werklinien auffallend: Zum einen die Fortsetzung musikdramatischer Beschäftigung, zum anderen eine Fortsetzung der sich im Bratschenkonzert abzeichnenden Reduktion und Konzentration des Ausdrucks.

    In Kontext des Musiktheaters gewinnt für Rihm während der 1980er Jahre die Beschäftigung mit Antonin Artaud (1896-1948 ) große Bedeutung und führt zu einer grundsätzlichen Neuorientierung seiner Arbeiten für das Musiktheater. Erstes Ergebnis dieser Auseinandersetzung ist »Tutuguri. Ein Tanzpoem« (1980/82). Das Werk basiert auf Antonin Artauds post-surrealistischem Text Tutuguri - La rite du soleil noir, der im Zusammenhang von Artauds Beschäftigung mit Riten und Kulten, Totemismus und Magie der indigenen Bevölkerung Mexikos entstanden war. In ihrem Kultus erkannte Artaud eine Kultur, die dem europäischen Logozentrismus entgegenzustehen schien. Im »Tutuguri«, dem »Tanz der schwarzen Sonne« entwarf Artaud das Bild einer vom europäischen Kolonialismus und der Hegemonie Europas geschändeten mesoamerikanischen Kultur.
    Allerdings legt Rihm seinem Tanz-TheaterWerk nicht allein den »Tutuguri«-Text zugrunde, sondern er folgt auch explizit Artauds Konzept eines »Theaters der Grausamkeit«, das dieser dem klassischen Sprechtheater diametral entgegensetzte: Abkehr vom Logozentrismus - Zerschlagung des Textes, der keiner diskursiven Logik mehr folgen sollte; Emanzipation der Körperlichkeit und Bewegung vom Text; Unterdrückung der Stimme; Gleichberechtigung von Geräusch und Stille (Artaud prägte hierfür die Formel der »schreienden Stille«); radikale Akzentuierung des Performativen. Dies alles mündet in einer zunächst archaisch anmutenden rituellen und kultischen Vorstellung von Theater.
    Diese Überlegungen habe natürlich Auswirkungen auf Rihms Musik, die in Tutuguri zu einer grellen Rauschhaftigkeit geführt wird. Wer bereit ist, seine Ohren aufzusperren, der wird sich der hypnotischen Kraft der Agressionen, Ängste, der unstillbaren Sehnsüchte und des verzweifelten Begehrens kaum entziehen können, die in dieser, häufig von ostinaten Figuren und massivem Schlagwerk bestimmten, ja getriebenen Musik Klang geworden sind.

    Ein weiteres MusiktheaterWerk, das in unmittelbarer Auseinanderstzung mit Artauds Theatertheorie und seinen Mexikoschriften entstand, ist Die Eroberung von Mexiko (1988/89; nach Texten von Antonin Artaud). Aber auch Die Hamletmaschine (1983/86; Text Heiner Müller) ist der Idee des Artaudschen Theaters der Grausamkeit durchaus verpflichtet.

    Die andere Linie des Rihmschen Schaffens der 1980er Jahre betrifft, wie gesagt, die Instrumentalmusik: hier zeichnet sich eine Tendenz zur Verknappung und Konzentration ab, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Zunächst auf der Ebene des Orchesterapparats/der Ensembles, der/die in den Instrumentalwerken dieser Phase gegenüber den Werken der 1970er häufig deutlich reduziert wird/werden. Dann auch auf der Ebene der Ausdrucksmittel: statt der wuchernd-gewaltigen Klangblöcke, die die Werke der 1970er bestimmten, treten zunehmend Andeutungen; statt ungebremst-überschäumender Expressivität findet sich eine Chiffrisierung des Ausdrucks. Beispielhaft sind hier die Ensemble-Musik Chiffre-Zyklus (1982-2004) oder »Dunkles Spiel für kleines Orchester« (1988/90).


    Synthesen und »Überschreibungen«

    Für die 1990er Jahre lässt sich dann eine 4. Phase feststellen, die vielleicht als eine Synthese der die Phasen 2 und 3 bestimmenen Charakteristika begriffen werden kann. Rihm kehrt hier in seinen Orchesterwerken wieder zu größeren Besetzungen zurück, auch die explosive Blockartigkeit der 1970er Jahre ist wieder deutlicher präsent. Allerdings wird der Orchesterapparat weniger massiert eingesetzt, bestimmend bleibt eine nüchternere, reduziertere Tonsprache, die als Ertrag der »Chiffre«-Phase verstanden werden kann. Bemerkenswert ist auch eine Hinwendung zu konzertanten Formen (»Gesungene Zeit. Zweite Musik für Violine und Orchester« [1991], »Dritte Musik für Violine und Orchester« [1993], »Musik für Oboe und Orchester« [1993/95; rev. 2002] und »Styx und Lethe. Musik für Violoncello und Orchester« [1997/98]). Außerdem beginnt in den 1990er Jahre eine charakteristische Verarbeitung musikalischer Formaspekte in einem permanenten Transformationsprozess. Paradigmatisch war hier zunächst das 1995 entstandene Orchesterwerk – der Name ist Programm – Gejagte Form [1995]. Ist hier der Prozess der Formtransformationen auf das Material eines einzelnen Werkes beschränkt, so zeichnet sich diese Arbeitsweise seit den späten 1990er Jahren (womit vielleicht eine 5. Phase begonnen hat) auch werkübergreifend ab: Das Material älterer eigener Kompositionen unterzieht Rihm einer transformierenden Neubearbeitung. Rihm selbst nennt diese Arbeitsweise »Überschreibungen« oder »Übermalungen«.


    Soviel zu Rihm erstmal von meiner Seite. Sicherlich habe ich alles ziemlich verknappt und verkürzt, sicherlich nur einige wenige Aspekte seines Werkes genannt. Die angeführten Werke spiegeln kaum einen Bruchteil seines umfangreichen Schaffens wider (über die Kammermusik ist ja fast noch gar nichts gesagt). Daher hoffe ich jetzt auf regeste Beteiligung an diesem Thread und bitte um Ergänzungen in jedweder Hinsicht.

    Also: Was kennt ihr von Rihm? Welche Aufführungen habt ihr gesehen, welche Einspielungen besitzt ihr? Welche seiner Werke schätzt ihr besonders, welche schätzt ihr nicht besonders – und warum ist das so?

    Ach so, wer sich noch ein wenig mehr hinsichtlich Rihms für das Drumherumherum interessiert: es gibt ein ganz instruktives Filmportrait als DVD (Gespräche und Statements mit und über den Komponisten, Ausschnitte aus Uraufführungen, Proben- und Konzerten + CD-ROM-Teil mit Werkverzeichnis, Bibliografie, Diskografie, Partiturausschnitten, Texten....):

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Symphonien 1 + 2

    So, damit das ganze mal direkt etwas Fleisch bekommt, möchte heute kurz zwei Werke von dieser CD vorstellen:

    Die CD bietet in einer bemerkenswerten Zusammenstellung einen Überblick über die Entwicklung des »symphonischen« Schaffens Rihms. Enthalten ist die 1969 entstandene 1. Symphonie op. 3 und die 1975 entstandene 2. Symphonie für großes Orchester, die den etwas befremdlichen Titel »Erster und letzter Satz« trägt. Damit sind also zunächst zwei Beispiele aus Rihms frühen Schaffensperioden enthalten, denen mit Vers une symphonie fleuve III (1992/95) ein Beispiel für Rihms Auseinandersetzung mit der symphonischen Form aus den 1990er Jahren entgegengesetzt ist. Außerdem finden sich auf der CD zwei Vokalwerke: Nachtwach für 8 Soli, gemischten Chor, 4 Posaunen und Woodblock (1987/88 ) und Raumauge für Chor und Schlagzeug (1994).

    Die zweisätzige, mit kaum 10 Minuten sehr knappe 1. Symphonie, gewidmet dem Andenken Karl Amadeus Hartmanns, ist – das steht ja schon in der Threaderöffnung – der Reihentechnik der Neuen Wiener Schule verpflichtet, zeigt aber gleichzeitig deutliche Anklänge des expressiven Stils Hartmanns. Der kurze Appassionato-Kopfsatz (3:41) beruht auf einer Zwölftonreihe, die weitgehend streng verarbeitet wird, dabei ist die Musik – typisch Rihmisch – ausdrucksstark und unmittelbar zugänglich. Eine von schroffen Gesten bestimmte zugleich jedoch homogen entwickelte Musik, die die blockartige Konstruktion späterer Kompositionen Rihms nur von ferne erahnen läßt. Der zweite Satz ist ein Adagio (6:35), das durchaus an den Hartmannschen Adagio-Typus denken läßt, in der Faktur allerdings kammermusikalische Transparenz aufweist. Während der erste Satz dynamisch vorwärtsdrängt und mit harten Konturen arbeitet, ist das Adagio verhaltener, zielt aber – da wieder am Hartmannschen Adagio-Typus orientiert – auf eine energiegeladene Klimax hin. Nach einer langen Generalpause folgt eine Rückkehr zum verhaltenen Adagio des Satzbeginns. Es handelt sich um einen konzentrierten, IMO sehr geschlossenen und gelungenen symphonischen Versuch des jungen Rihm.

    Im Booklet (Hans-Peter Jahn) ist zu lesen, daß sowohl die Bezeichnung des Werks als »Symphonie« als auch die Verwendung einer Opuszahl einen ironisch distanzierenden Kommentar zur Gattung »Symphonie« einerseits, eine »bewusste Provokation des Zeitgeistes in seinen Stereotypen Oppositionen gegen die Urformen der Musikgeschichte« formulieren würden. Während ich letzteres sofort anerkennen würde, scheint mir von einem ironischen Kommentar oder einer distanzierenden Auseinandersetzung mit der Gattung Symphonie wenig zu spüren zu sein. Im Gegenteil scheint mir hier eher der Versuch vorzuliegen, an die Hartmannsche Symphonik und damit an die symphonische Tradition dezidiert und (wenn man so will) durchaus affirmativ anzuschließen und diese fortzusetzten.

    Das sieht in der sechs Jahre später entstandenen 2. Symphonie schon ganz anders aus. Hier hat der Titel »Erster und letzter Satz« bereits eine solch ironisch-distanzierende Attitüde: Denn auch diese Symphonie besteht aus zwei Sätzen – eben dem ersten und dem letzten. Der Charakter der Musik ist dann alles andere als »ironisch«: Eine dunkle, gewichtige Musik hat Rihm hier komponiert. In der Struktur wird hier der blockartige Satz, der viele Rihmsche Kompositionen der 1970er Jahre bestimmt, mit den an Hartmann geschulten expressiven Entwicklungen, die die 1. Sinfonie bestimmt hatten kombiniert. Der etwa 10minütige »Erste Satz« hebt an mit einem an der Grenze der Hörbarkeit artikulierten Orgelpunkt der tiefen Streicher, der über ein etwa 1:10 währendes Crescendo ins forte gesteigert wird, um dann plötzlich abzubrechen. Es folgt eine quälend lange Generalpause (geschlagene 35 Sekunden), bevor sich eine expressive, deutlich von den Streichern, Xylophon, Pauken und Schlagzeug beherrschte, getragene Musik mit einer schwermütige Melodie (ja tatsächlich: eine Melodie) entspinnt. Dieser getragene Charakter wird immer wieder von Blech/Schlagzeug Einwürfen aufgebrochen, bleibt jedoch zunächst bestimmend, bevor er durch expressiven Streicherpassagen (hier hatte ich mehrfach Assoziationen an Hartmanns 4.) die von einem percussiv eingesetzten Klavier unterstützt werden, abgelöst wird. Gegen Ende des Satzes gibt es eine gewaltige Schlußsteigerung, die aber keinen Auflösungs- oder gar Apotheosencharakter hat, sondern eher die dunkle Grundstimmung bestätigt.
    Der mit 4:57 nur halb so lange »letzte Satz« schließt attaca an. Überschrieben ist der Satz mit Marcia funebre. Mit wenigen Paukenschlägen wird ein Trauermarsch angekündigt, bevor eine schroffe, gewaltige, deutlich an die Schlußsteigerung des »Ersten Satzes« erinnernde Bläserkaskade einfällt. Hier findet sich ein ganz klarer blockartiger Bau, dessen aus dem Paukenrhythmus und der Bläserkaskade gewonnenes Material immer wieder – getrennt durch Generalpausen – gegeneinander gesetzt, transformiert und gesteigert wird. Gegen Ende des Satzes wird von den, hm, wie soll ich es nennen?, »gerissenen« Streichern der Marschrhythmus übernommen und immer stärker beschleunigt wird, bis der Marsch beinahe voran stürmt, dann plötzlich wieder abbricht und die Bläserkaskade ein letztes Mal einfällt, sich nach einem alleinstehenden Glockenschlag nochmals aufbäumt, um schließlich zu verklingen.

    Eigentlich hat man beim Hören den Eindruck eines einsätzigen Werks. Eine symphonische Entwicklung, wie sie für die 1. Symphonie IMO ganz klar noch zugrunde liegt, wird hier zunehmend in einen blockhaften Satz aufgelöst, die Unterscheidung in einen ersten und einen letzten Satz scheint mir hier tatsächlich eher eine ironisierende Wendung zu sein, in der zwar auf eine Tradition der Mehrsätzigkeit Bezug nimmt, diese aber im Verlauf der Musik, die über die knapp 15 Minuten des Werks zugleich überaus disparat und von scharfkantigen, unaufgelösten Gegensätzen bestimmt, dabei hinsichtlich des Materials aber sehr geschlossen ist, zugleich bestätigt (der »letzte Satz« gibt die Verlaufsform endgültig zugunsten des Blockhaften auf und erhält so eine eigenständige Struktur) und unterminiert, indem Material und Charakter der beiden Sätze eine große Enge zeigen, der »letzte Satz« beinahe wie eine Verdichtung oder Engführung des »ersten« erscheint.

    Beide Symphonien gefallen mir überaus gut – wobei man tatsächlich anmerken muß, daß man insbesondere in der 1. Symphonie den späteren Rihmschen Personalstil nur erahnen kann. Selbst die 2. Symphonie, die ja nach der gewaltigen Morphonie (1972) und auch nach Dis-Kontur (1974) entstanden ist, zeigt eine unmittelbarer faßliche Geschlossenheit und offensichtlichere Homogenität, als es für viele andere Orchesterwerke Rihms aus den 1970ern typisch ist.

    Der Veröffentlichung einer Einspielung der Symphonie Nr. 3 für Soli, Chor und großes Orchester (1977, revidierte Fassung 1996) darf man ganz sicherlich gespannt entgegensehen.

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Was kennt ihr von Rihm? Welche Aufführungen habt ihr gesehen,


    Ende der 90er habe ich in Weimar (nicht im Nationaltheater, das wurde gerade umgebaut, sondern im kahlen Ambiente einer Werkstattbühne) "Jakob Lenz" gesehen und war sehr beeindruckt. Das ist allerdings in hohem Maße der packenden Inszenierung und dem grandios exaltierten Hauptdarsteller (Namen müßte ich nachgucken) zu verdanken. Rihms Musik empfand ich als schrill und unangenehm, und zwar über so weite Strecken, daß es schon manchmal lästig wurde; und der arme Tenor tat mir ein bißchen leid ;+) . Die "ruhigeren" Abschnitte (da gibt's so eine Art Gespenstererscheinung - das war grandiose Musik!) reichten so gerade, um das Stück zu überstehen. Am Radio würde ich das vermutlich nicht durchhalten.

    Deine Beschreibung der 2. Symphonie macht aber Lust, das Stück kennenzulernen!

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur


  • Ende der 90er habe ich in Weimar (nicht im Nationaltheater, das wurde gerade umgebaut, sondern im kahlen Ambiente einer Werkstattbühne) "Jakob Lenz" gesehen und war sehr beeindruckt. Das ist allerdings in hohem Maße der packenden Inszenierung und dem grandios exaltierten Hauptdarsteller (Namen müßte ich nachgucken) zu verdanken. Rihms Musik empfand ich als schrill und unangenehm, und zwar über so weite Strecken, daß es schon manchmal lästig wurde; und der arme Tenor tat mir ein bißchen leid ;+) . Die "ruhigeren" Abschnitte (da gibt's so eine Art Gespenstererscheinung - das war grandiose Musik!) reichten so gerade, um das Stück zu überstehen. Am Radio würde ich das vermutlich nicht durchhalten.

    Hallo Bernd,

    ich habe den Jakob Lenz - leider - noch nie auf der Bühne sehen können, kenne die Oper aber recht gut von Konserve (eine alte Harmonia Mundi-LP, Richard Salter gibt den Lenz - übrigens eine Bariton-Partie - und Arturo Tamayo hat die musikalische Leitung). Mich hat diese explosive und - ja, Du hast wohl recht - streckenweise schrille Musik vom ersten Hören an gefesselt und ich höre die Oper immer wieder gern (leider hab ich aktuell keinen wirklich funktionierenden Plattenspieler). Mir gefällt die radikale Ausleuchtung dieses getriebenen Charakters, die Rihm hier mit seiner Musik betreibt. Naja, ich kann mich dem bei jedem Hören neu schwerlich entziehen, muß ich sagen.


    Zitat

    Deine Beschreibung der 2. Symphonie macht aber Lust, das Stück kennenzulernen!

    Das freut mich ... :)

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Lenz - übrigens eine Bariton-Partie

    Nee, so wie der stemmen mußte, kann das nur eine Tenorpartie sein :D. Dem Sänger gelang es halt, die enormen stimmlichen Anforderungen in ein Portrait der Figur umzusetzen! Das war schon klasse!

    Ich hab' mal gerade nachgesehen:

    02.10.1997
    Jakob Lenz
    Werkstattbühne des Deutschen Nationaltheaters Weimar
    Kammeroper von Michael Fröhling. Musik von Wolfgang Rihm
    Inszenierung: Ehrhard Waeneke. Ausstattung: Dieter Lange.
    Lenz: Mario Hoff, Oberlin: Herbert Dudzik, Kaufmann: Günther Moderegger, u.a.
    Staatskapelle Weimar. Musikalische Leitung: Torsten Petzold.

    Es wäre sicher interessant, Richard Salter mit dieser Rolle zu hören: den habe ich als völlig entgegengesetzten Sängertyp in Erinnerung (Dr. Schön/Jack the Ripper in D'dorf; außerdem müßte ich ihn vor Jahrzehnten mehrfach mit den King's Singers gesehen haben. Er ist Anfang diesen Jahres verstorben.)

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Hallo zusammen!

    Danke für diesen interessanten Rihm-Thread, die Symphonien habe ich schon länger auf meiner Einkaufsliste und jetzt werde ich mir diese CD sicher auch bald kaufen müssen ;+) .

    Ich möchte hier kurz ein Rihmsches Werk vorstellen, welches mir sehr gut gefällt:

    Deus Passus

    Dieses Werk wurde von Wolfgang Rihm im Bach-Jahr 2000 komponiert. Die Bachakademie beauftragte damals verschiedene Komponisten aus unterschiedlichen Kulturkreisen, Passionsmusik nach einem Evangelium zu schreiben. Rihms Passionsmusik richtet sich nach dem Lukas-Evangelium und konzentriert sich auf den leidenden Gott. Hier werden Teile aus der Karfreitagsliturgie und aus Paul Celans Dichtung "Tenebrae" verarbeitet.

    Die Musik erweist sich, im Gegensatz zu anderen Werken Rihms (zumindest für meinen Geschmack) als relativ
    "zugänglich". Vielleicht auch deshalb, weil an manchen Stellen Anklänge an Bachs Musik durchschimmern. Für mich ein sehr eindrucksvolles, modernes Passionsstück.

    Liebe Grüße

    Peter

  • :wink:

    Das Frühwerk ist mir leider unbekannt, aber ich hatte das große Glück eine Aufführung eines wunderbaren, interessanten Werkes zu hören: "Jagden und Formen". Algabal hat oben bereits die Grundidee skizziert, es ist ein Werk in stetiger Veränderung. Da das Konzert im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie stattfand, hatte man das Glück, dass der Komponist, der in Berlin lebt, das Werk erklärte. Aus der Urform von 1995 waren nur noch wenige Takte da, die anderen kamen über die Jahre dazu und haben die bisherigen ersetzt. Das Konzert präsentierte damals, Anfang diesen Jahrhunderts, den Zustand 10. Ein Festhalten im Moment um die Partitur spielen zu lassen. Das Ensemble Modern hat hervorragend, wie eigentlich immer, gespielt. Es hat das Werk dann auch aufgenommen:

    Ich habe jetzt beim Suchen für das Cover auch die Aufnahme der "Gejagte Form" gefunden, wäre also interessant zu vergleichen.

    Gruß, Beryllo

    Gruß, Frank

    Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so selten dazu.

  • Hallo! :wink:

    Von Rihm kenne ich aus dem Musikunterricht in der Schule "Raumauge". Die meisten Klassenkameraden waren nicht sonderlich angetan, ist schließlich - man kann es schwer leugnen - atonale Musik. Mir hat es meiner Erinnerung nach nicht auf Anhieb gefallen. Das Stück ist für Chor und Schlagzeug geschrieben; im Chor singen bzw. summen die Frauenstimmen das gesamte Stück lang ein ausgehaltenes a bzw. a', je nach präferierter Tonlage. Für die Männerstimmen schreibt Rihm vor: "rabiat, knurrend, wie durch die Zähne gebrüllt, "kabuki"-haft übertrieben, keinesfalls "offene" Sängervokale, insgesamt: wie wütendes Beschwören!" Wie gesagt, mir hat das erstmal nicht gefallen, aber wir haben es auch nur zweimal gehört, da müsste man sich sicher "intensiver" (nicht angestrengter, nur öfter!!) mit beschäftigen. Mit Hörschnipseln kann ich leider nicht auftrumpfen, aber vielleicht jemand anders? :) (Unsere Musiklehrerin, die an sich auch kein Atonalitätsfan ist, hat uns übrigens erzählt, sie habe mal in einem Chorstück von Rihm mitgesungen, und wenn man das sozusagen live in der Praxis erlebt, hat man eine ganz andere Perspektive zu dem Werk, und sie war danach relativ begeistert!)

    Die Hörschnipsel von "Jagden und Formen" gefallen mir übrigens ausgesprochen gut! :)
    Philipp

  • Im Juli 2010 wird bei den Salzburger Festspielen die Oper "Dionysos" von Wolfgang Rihm uraufgeführt:

    Ingo Metzmacher, Musikalische Leitung
    Pierre Audi, Regie
    Interpreten: Johannes Martin Kränzle, Mojca Erdmann, Elin Rombo, Matthias Klink, Virpi Räisänen
    Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
    Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor

    Koproduktion mit De Nederlandse Opera Amsterdam und der Staatsoper Unter den Linden Berlin - im Zweifelsfall ist ein Flug nach Berlin+Übernachtung und Opernticket immer noch billiger als Salzburg :stern:

    Es gibt kaum etwas Subversiveres als die Oper. Ich bin demütiger Diener gegenüber diesem Material, das voller Pfeffer steckt. Also: Provokation um der Werktreue willen. (Stefan Herheim)

  • Kennt wer die Einspielung von Rihms Violinkonzert "Gesungene Zeit" von Anne-Sophie Mutter?

    Meinungen, Deutungen- Alternativen? ;+)

    Herzliche Grüße, :wink: :wink:

    Christian

    Rem tene- verba sequentur - Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen

    Cato der Ältere

  • Kennt wer die Einspielung von Rihms Violinkonzert "Gesungene Zeit" von Anne-Sophie Mutter?

    Meinungen, Deutungen- Alternativen? ;+)

    Herzliche Grüße, :wink: :wink:

    Christian

    Ja, kenne ich recht gut. "Gesungene Zeit" hat eigentlich nicht so richtig den Charakter eines Konzerts im klassischen Sinne. Da wird nicht dialogisiert, sondern das Ganze hat eher den Charakter eines Monologs der Solovioline, das Orchester bleibt eher im Hintergrund (Knulp hat mal vor langer Zeit in einer anderen Forenwelt nicht unzutreffend geschrieben, daß das Werk eher den Charakter einer Solosonate für Violine habe).

    An der "Gesungenen Zeit" gefällt mir besonders der meditativ-melancholische Gestus sehr gut, der eigentlich nur genau einmal im ersten Teil durch eine Eruption des Orchesters aufgebrochen wird. Ein überaus ausgewogenes, ruhiges und dennoch suggestives Werk, das ich gern höre und durchaus auch als Erstkontakt mit der Musik Rihms für geeignet halte.

    Es scheint tatsächlich so zu sein, daß sich bisher kein Violinist neben ASM, ihr ist das Werk auch gewidmet, der »Gesungenen Zeit« angenommen hat, zumindest nicht für eine Einspielung auf Tonträger.

    Von Rihms drei mir bekannten Musiken für Violine und Orchester gefällt mir allerdings die erste, die den Paul Celan entlehnten Titel "Lichtzwang" trägt, am besten und zwar weil das Orchester hier erheblich stärker gestalterisch involviert ist. Die Tendenz zum Monologischen, die die »Gesungene Zeit« bestimmt und die für viele der mir bekannten Rihmschen Werke für Soloinstrument(e) und Orchester konstitutiv ist (die »Dritte Musik für Violine und Orchester«, die sich durch den Einsatz reichhaltiger Orchesterfarben etwas abhebt, ist da eher eine Ausnahme), ist in »Lichtzwang« zwar auch bereits deutlich ausgeprägt, dennoch bleibt der Orchesterpart selbstständig und gewichtiger.

    Eine Einspielung von "Lichtzwang" findet sich auf dieser CD:

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Lieber Medard,

    danke für Deine ausführliche Beschreibung. Was Du hier schreibst, deckt sich auch mit meinen Eindrücken:

    An der "Gesungenen Zeit" gefällt mir besonders der meditativ-melancholische Gestus sehr gut, der eigentlich nur genau einmal im ersten Teil durch eine Eruption des Orchesters aufgebrochen wird. Ein überaus ausgewogenes, ruhiges und dennoch suggestives Werk, das ich gern höre und durchaus auch als Erstkontakt mit der Musik Rihms für geeignet halte.

    Der besondere Charakter des Werks erklärt sich wohl so, dass Rihm ASM die Komposition gewissermaßen auf "den Leib geschneidert hat". Das Geschehen spielt sich ja weitgehend in der hohen Lage der Violine ab, das Spiel in dieser Lage gilt als eines der Charakteristika von ASM´s Personalstil. Das kann man auch Gubaidulinas Konzert für Anne-Sophie Mutter beobachten.

    Ich kenne sonst von Rihm allerdings kaum etwas- und nichts halb so gut, wie ich gerne möchte. Aber man kann nicht alles haben, geschweige denn hören ;+)

    Herzliche Grüße, :wink: :wink:

    Christian

    Rem tene- verba sequentur - Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen

    Cato der Ältere

  • Eben gehört:

    ET LUX
    für Vokalensemble und Streichquartett [2009]
    Radiomitschnitt der Aufführung in der Saarbrücker Ludwigskirche am 13. Mai 2011
    Arditti Quartett / Hilliard Ensemble

    Das erste Mal, dass mir ein Werk von Rihm wirklich gut gefällt. Keine Ahnung, ob es daran liegt, dass ich gerade zufällig in der richtigen Stimmung war, genau diese Musik zu hören, oder ob ich vielleicht durch Hörerlebnisse der letzten Zeit (Gervasonis "Dir - In Dir" und Posadas' "Vocem flentium" bei den Wittener Tagen am letzten Wochenenden gingen in ähnliche Richtungen - dazu schreibe ich bald noch etwas im Witten-Thread) gut eingestimmt und sensibilisiert war für diese Musik. Vielleicht ist es aber auch so, dass Rihm mit diesem Werk tatsächlich (so schien es mir) entspannter und konzentrierter daherkommt und vor allem nicht darauf aus, irgendetwas zu demonstrieren oder zu beweisen. Bei Werken aus früheren Phasen, die ich gehört oder auch nur angehört hatte, war es oft dieser Eindruck, der mich verstimmte. Hier also nicht.
    "Et Lux" ist ein einstündiges Werk nach dem Text des lateinischen Requiem. Ich zitiere der Einfachheit halber aus einem guten Einführungstext der Berliner Festspiele (das Werk wird am 11. September im Rahmen des musikfest berlin in der Gethsemanekirche zu hören sein):

    Zitat

    In Wolfgang Rihms Et Lux aus dem Jahr 2009 treffen das Vokale und das Instrumentale gleichberechtigt aufeinander, ein vierstimmiges Vokalensemble und ein Streichquartett. »Ich fand es sehr reizvoll, die beiden Klangsphären zusammenzubringen«, sagte der Komponist einmal in einem Interview über seine Komposition. Assoziationen an mittelalterliche Motetten, die Vokalpolyphonie der Renaissance, geistliche Madrigale und die große Tradition des Streichquartetts von der Klassik bis heute schwingen mit. Eine Besetzung, die aus historischer Perspektive mit Bedeutung aufgeladen ist. Der Text für die vokale Schicht von Et Lux besteht aus Fragmenten des Requiems: »Sie erscheinen jedoch nicht ›intakt‹ und in liturgisch korrekter Folge. Eher tauchen sie auf als erinnerte Bestandteile eines – wie in einer Anamnese – schrittweise vergegenwärtigten Zusammenhanges«, hat dies Wolfgang Rihm kommentiert. »Es sind einzelne Wortverbindungen, die – immer wiederkehrend – zentrale Bedeutung ausstrahlen. Ganz im Zentrum: ›… et lux perpetua luceat …‹. In kreisendem Reflektieren werden die sowohl tröstlichen als auch tief beunruhigenden Schichten dieser Worte vielleicht spürbar.« Eine Komposition also wie eine Meditation über einzelne Momente des Requiemtextes.

    Der eine oder die andere wird "Et Lux" live in Saarbrücken oder am Radio gehört haben. Ich bin neugierig, wie es euch mit dieser Musik erging, vielleicht auch vor dem Hintergrund größerer Erfahrung mit Rihmmusik, als ich sie bisher habe.

    Grüße
    vom Don

  • ET LUX

    Der eine oder die andere wird "Et Lux" live in Saarbrücken oder am Radio gehört haben. Ich bin neugierig, wie es euch mit dieser Musik erging, vielleicht auch vor dem Hintergrund größerer Erfahrung mit Rihmmusik, als ich sie bisher habe.

    Ja, ich hab's gestern live in der Ludwigskirche gehört - in einer sehr konzentrierten Atmosphäre, allerdings waren auch nur etwa 150 Leute anwesend.

    Meine Erfahrungen mit Rihms Musik beschränken sich auf diverse Live-Erlebnisse und einige wenige, eher selten gehörte CDs. Meist bilde ich mir ein, ganz gut zu seinen Werken Zugang zu finden, gestern aber interessanterweise weniger: Dabei hat mich der Zusammenklang von Streich- und Vokalquartett sehr angesprochen, die Harmonik ist reich und irgendwie auch schön. Die Sänger ergehen sich überwiegend in großen Notenwerten - ein sehr kantables Werk von fast gediegener Melancholie. Das gilt häufig auch für die Streicher, die allerdings immer wieder mal heftige Akzente dagegensetzen. Mein Hauptproblem: die beachtliche Dauer des Werks (eine Stunde!) und die dabei für mich nicht erkennbare Großstruktur. Ich tu mich immer leichter, wenn ich Abschnitte etc. unterscheiden kann... Furchtbar, ich weiß ;+). Hier ein großer, ruhiger Strom - auf den ich mich auf die Dauer nicht einlassen konnte/wollte. Das ist ja auch schon durch die Fragmentierung des Textes, die ständigen Wiederholungen derselben Textteile und die Weglassung der bildhafteren Bestandteile des Requiem-Textes vorgegeben. Bei wiederholtem Hören würde sich meine Meinung vielleicht ändern.

    Der Parforceritt von Olga Neuwirths vorher gespieltem Streichquartett hat mich mehr angemacht, aber dazu in einem anderen Thread.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Nochmal: ET LUX

    Was ich noch vergessen habe: Erstaunlich oft sind alle vier Streicher und Singstimmen gleichzeitig aktiv. Anfangs wurde das noch von reinen Streichquartett-"Ritornellen" unterbrochen, später setzten allenfalls mal für eine Weile eine oder zwei der vier Singstimmen (Countertenor, zwei Tenöre, Bariton) aus. Es herrschte also permanent ein dichtes Geflecht aus sechs bis acht Stimmen, dazu noch die großen Notenwerte, das getragene Tempo, die fast immer stark zurückgenommene Dynamik, nur von gelegentlichen härteren Akzenten der Streicher attackiert... An eine einzige Stelle kann ich mich erinnern, bei der der Bariton mal einen errregteren, rezitativischen Tonfall einbrachte.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Das erste Mal, dass mir ein Werk von Rihm wirklich gut gefällt.

    Mir sagen die neuen Arbeiten von Rihm, soweit ich sie kenne (»Et Lux« kenne ich allerdnigs nicht), nicht sonderlich zu. Ziemlich philharmonisch und mehrfach gesättigt scheint mir die Musik zu sein, die er so in den letzten Jahren schreibt. Dieser Eindruck stützt sich u.a. auf Verwandlung 1-4 (2002-2008), Quid est Deus (2007) und Sotto voce 2 (2007). Von der (streckenweise verstörenden) erratischen Expressivität, die nahezu alle Werke bis zur Jahrtausendwende (und auch noch knapp darüber hinaus, wie das 12. Streichquartett [2000/01] und die großartigen Fetzen für Akkordeon und Streichquartett [1999-2004] zeigen) bestimmt hatte, ist wenig übrig geblieben. Stattdessen symphonischer Wohlklang, in den Verwandlungen ein deutlich neoromantisch-symphonisches Geschwelge. »Gediegenheit«, wie Zwielicht schreibt, trifft den Charakter IMO ganz gut.

    Naja, in der nächsten Spielzeit ist ASM ja mit Rihms neuer Musik für Violine und Orchester (»Lichtes Spiel«. Ein Sommerstück :S ) auf Tour - deutsche Erstaufführung im Konzerthaus Dortmund am 23. Mai 2012. Werde ich mir sicherlich anhören - wenn das nicht wieder innerhalb von 10 Minuten ausverkauft ist. ASM zieht ja sogar im Ruhrgebiet das Pubilkum (und sie spielt zudem auch noch Mozarts Violinkonzerte 3 und 5).

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.


  • ET LUX
    für Vokalensemble und Streichquartett [2009]

    ...ist demnächst in Berlin zu hören, und zwar am 2. September im Rahmen des Musikfestes Berlin in der Gethsemanekirche. Ausführende sind hier das Huelgas Ensemble und das Minguet Quartet. Ich werde es mir auf Deutschlandradio Kultur anhören, das live überträgt.

    Grüße
    vom Don

  • Nächstens (angekündigt eigentlich für den vergangenen Februar) wird eine erste Biographie oder sowas über Wolfgang Rihm erscheinen. Verfasserin: Eleonore Büning ...

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Bemerkung 1)
    Folgendes wurde mir von einem Verlagslektor berichtet:
    Es galt, das neue Werk eines sehr schnell schreibenden Komponisten zu edieren. Der Lektor, dem diese Aufgabe zufiel, wunderte sich: Ihm kam einiges in diesem Werk sehr bekannt vor, so als habe er es just so schon unter seinen Augen gehabt; anderes hingegen war ihm völlig neu. Und das in relativ regelmäßigen Abständen, also vier bekannte Takte, acht neue Takte, sieben bekannte, sieben neue, acht bekannte etc. etc. Dann hatte er plötzlich die Erleuchtung: Der Komponist hatte von einem vorhandenen Werk jede zweite Seite herausgenommen und diese neu hinzukomponiert.
    Wieso das im Rihm-Thread zu stehen kommt? Nun ja...

    Bemerkung 2)
    Ernst Krenek über Wolfgang Rihm und die neue Einfachheit: "Da ist mir die alte Kompliziertheit schon lieber."


    Rihm hat viel zu viel geschrieben, und wie bei den meisten hemmungslosen Vielschreibern nivellieren sich die Werke irgendwie, keines bleibt mir wirklich im Gedächtnis haften, viele sind für mich ziemlich verwechselbar. Rihm hat der im Serialismus erstarrten Musik zweifellos ihr Ausdruckspotential zurückgegeben - aber das macht ja die ganze "Neue Einfachheit", und verglichen mit von Schweinitz ist Rihm zwar der Gefördertere, aber meiner Meinung nach nicht der bessere. Wenn man Rihms Posen zwischen völliger Verinnerlichung mit eher diffusen Klängen, plötzlicher Eruption und "Seelenergießung" (postmahler'sche Kantilene) einmal durchschaut hat, bietet kein Werk wirklich Neues oder Überraschendes. Andererseits muß man anerkennen, daß Rihm ein hervorragender Techniker ist, mit seinem Material umgehen kann - und in "Jakob Lenz" eine der wenigen deutschsprachigen Opern der avancierteren Richtung geschrieben hat, die in ihrer Dichte und Erzählkraft wirklich aufführenswert sind.
    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • Gerade gelesen: einen ziemlich vergifteten Geburtstagsartikel für Wolfgang Rihm, geschrieben von Arno Lücker in der NMZ:
    "http://www.nmz.de/artikel/der-ei…der-neuen-musik

    Lücker nennt Rihm zwar den "einzige(n) große(n) Künstler innerhalb der Neuen Musik", aber er meint das nicht positiv - es geht ihm um Rihms Dandyismus und um sein Haupttalent, sich unangreifbar zu machen, einen ähnlichen Status zu erreichen, wie ihn Gerhard Richter und Jonathan Meese in der bildenden Kunst erlangt haben.

    Die einzige greifbare Kritik Lückers an Rihms Musik betrifft deren Länge:

    Zitat

    Rihm fehlt eine für das Schaffen von Musik wesentliche Fähigkeit: die Fähigkeit, einzuschätzen, wie lange eine Idee trägt. Das Gefühl für Zeit und Form ist bei Rihm praktisch nicht vorhanden. Helmut Lachenmann hat mal über ein 30-sekündiges Werk von Rihm gesagt, auch dieses sei wieder zu lang geraten.

    Grüße
    vom Don

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