Brahms - Ein deutsches Requiem, op. 45

  • Zitat

    Wenn man mit dem Adjektiv "original" o.ä. wirbt, sollte auch Originales drin sein. Aber natürlich kann sich auch hinter einem falschen Etikett eine gute Sache verbergen. Ich habe im konkreten Fall allerdings Zweifel, weil ja wie gesagt in Brahms' Klaviersatz die Gesangsstimmen schon vorhanden sind und gesungen also verdoppelt werden, was mir wenig sinnvoll erscheint.

    ist diese Version identisch mit der von Heinrich Poos ? In meinen WDR3-Mitschnitt wird in der Anmoderation nicht behauptet, dass diese von Brahms sei.

    Zitat

    Ich habe im konkreten Fall allerdings Zweifel, weil ja wie gesagt in Brahms' Klaviersatz die Gesangsstimmen schon vorhanden sind und gesungen also verdoppelt werden, was mir wenig sinnvoll erscheint.


    der Einwand ist nachvollziehbar.. bei Poos sind aber die beiden Gesangssolisten berücksichtigt... ich bilde mir ein, dass die Klaviere der Poss-Sparversion sich auf den Orchestersatz beziehen...

    Dann: hat einer von Euch den Eindruck, die oder eine Spar- bzw. Easy-Version des Dt. Requiems klänge zu sehr nach Chorprobe... ? (mein Eindruck ist es bisher nicht)
    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Letzteres ist auch so. Die Poos-Fassung ist eine eigene Bearbeitung und wird in der Regel wohl auch als solche benannt. Sie hat deshalb nichts mit dem Brahms-Arrangement zu tun. Von Brahms gibt es zwei Bearbeitungen: Einen normalen Klavierauszug für ein Klavier zu zwei Händen mit unveränderten Chor- und Solostimmen und das besagte Arrangement für ein Klavier zu vier Händen, inklusive aller Gesangsstimmen. Letzteres ist also rein instrumental gedacht; der Text der Gesangspassagen ist nur zur Information im Klaviersatz mit abgedruckt.

    Viele Grüße,

    Christian

  • Niemand nach Elisabeth Grümmer hat das Solo eindringlicher, weiblicher, suggestiver, seraphischer gesungen als sie.

    Der junge Fischer - Dieskau, Chor und Orchester unter Rudolf Kempe musizieren auf vergleichbarem Niveau : Für mich die Referenzaufnahme schlechthin.

    :juhu: :juhu: :juhu:

    Ja, es ist eine herrliche Aufnahme! Im Beiheft ist die Rede von "tiefer Reinheit und Direktheit" - so würde ich Elisabeth Grümmers Stimme auch charakterisieren.

    Ich liebe besonders den 3. Satz, „Herr, lehre doch mich“. Wie FiDi allein die erste Zeile interpretiert, ist imposant. Da ist so ein leichtes Beben in seiner Stimme, ich höre hier Demut und Hingabe, wirkliche Beseeltheit. Ich möchte mich schluchzend nieder werfen vor Gott, meinetwegen auch vor FiDi – der ganze Satz ist ungemein aufwühlend. Auch das Wechselspiel zwischen Chor und Solist ist hier fantastisch. Kempes Dirigat ist insgesamt umwerfend.

    Im Booklet der BBC Legends-Aufnahme des Requiems unter Giulini (mit dem LPO, Ileana Cotrubas, FiDi – aus 1978) ist vermerkt, dass Kempe zu FiDi gesagt haben soll: „If I could do it half as beautifully as Furtwängler did it in Vienna then I would be happy.“

    Kennt jemand diese 1951-er Aufnahme aus Wien unter Furtwängler (mit FiDi)? Ich kann sie nirgends finden.

    Und was ist mit der Karajan-Aufnahme aus 1972 (auch mit FiDi) anlässlich der Berliner Festwochen? Gibt es hier einen Mitschnitt? Es heißt, dass der Maestro sein Pult verlassen haben soll noch bevor der Applaus nach der letzten Note begann.

    Ich liebe an diesem Requiem, dass eben keine spezifische christliche Botschaft vermittelt wird.; so bleibt m.E. mehr Raum für eigene Deutungen. In meiner Brahms-Biographie (Hans A. Neunzig) heißt es dazu:

    Das Requiem ist bestimmt vom Aufsichnehmen des Leidens ohne Selbstmitleid. Die Seligpreisungen der beiden Ecksätze „Selig sind die da Leid tragen“ und „Selig sind die Toten“ sprechen diese Sprache, die in den „Vier ernsten Gesängen“ nur noch konzentrierter zu vernehmen ist: „Da lobte ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr als Lebendigen, die noch das Leben hatten“.

    „Aufsichnehmen des Leidens ohne Selbstmitleid“ - vielleicht vermag das Requiem gerade deshalb so viel Trost und Kraft zu spenden – ich empfinde es zumindest so – weil eben der Hinweis auf die Erlösung und den Tag des Gerichts fehlt.

    Gruß, Cosima

  • Hallo Peter,

    deinen Einführungsbeitrag finde ich hervorragend. Vielen Dank dafür! Mir gibt er Anlass, mal wieder meine Requiem-CDs durchzuhören. Begonnen habe ich heute mit:

    Abbado, Berliner Philharmoniker, Schwedischer Rundfunkchor und Eric-Ericson-Kammerchor, Andreas Schmidt, Cheryl Studer, aufgenommen live in der Philharmonie 1992

    Die Aufnahme rangiert bei mir im hinteren Feld. Maßgeblich liegt das an der mäßigen Tonqualität, insbesondere der auf hohem Niveau singende Chor klingt eng und unscharf. Mit zunehmender Dauer gewöhnt sich das Ohr daran, aber es hilft nichts, wenn ich diese CD einlege, denke ich immer erst einmal, mit den Boxen stimmt etwas nicht (so schlimm ist es allerdings auch wieder nicht). Abbados Dirigat – und dem folgend das Spiel der Berliner Philharmoniker - ist für mich genau so, wie es sein soll. Nur die für meinen Geschmack zu große Amplitude des Crescendo/Decrescendo in „Denn alles Fleisch…“ ist mir negativ aufgefallen, ansonsten sitze ich da und finde alles gut. Andreas Schmidt macht seine Sache gut, ohne zu begeistern. Ich finde seinen Gesang zu unflexibel. Cheryl Studer hat mich mal wieder enttäuscht. Mir singt sie mit zu viel Vibrato, den Text nimmt sie zudem auch nicht sonderlich ernst („gefunden“ wird z. B. zu „funden“[Nachtrag: Das war wohl ein Fehler von mir. Im Booklet der Abbado-Aufnahme, das ich zum Mitlesen benutzt habe, steht "gefunden", in den Booklets bei Shaw und Norrington steht "funden"]). Keine Empfehlung dieser Aufnahme also von mir.

    Von Interesse ist hier womöglich der Hinweis des Bookletautors Siegmar Keil auf die Struktur des Werkes: Der erste und der letzte Akt entsprechen sich in Aussage (Seligpreisungen) und musikalischem Gehalt. Der zweite Satz (Vergänglichkeit) korrespondiert mit dem sechsten (Überwindung des Todes), der dritte (Klage) mit dem fünften (Trost). Der vierte Satz bildet die Spiegelachse des Requiems. Er ist der Übergang von der Klage zur Zuversicht.

    Ach ja, im Fernsehen gesehen habe ich vor einiger Zeit eine Aufnahme mit Thielemann, den Münchner Philharmonikern, Gerhaher und dem Chor des Bayerischen Rundfunks (wer Sopran gesungen hat, habe ich vergessen). Beim Chor stimmten mehrfach die EInsätze nicht (hörte sich nach "Das haben wir so oft gesungen, da brauchen wir nicht zu proben" an. Thielemann dirigierte meiner Meinung nach zu langsam. An den Sopran habe ich keine Erinnerung, ABER: Gerhaher zuzuhören war eine Wonne! Was dieser Mann aus seinem Part herausgeholt hat, wie vielfältig er sein Vibrato eingesetzt hat, hat mich schwer beeindruckt. Wenn eine Aufnahme dieses Werks mit Gerhaher erscheint, ich kaufe sie.

    Viele Grüße
    Thomas

  • Robert Shaw, Atlanta Symphony Orchestra and Chorus, Arleen Auger, Richard Stilwell, aufgenommen 1983

    Besonders interessant an dieser Aufnahme finde ich das Chor-Orchester-Verhältnis. In ihr steht mehr als in allen mir bekannten Aufnahmen der Chor im Vordergrund. Das hat Vorteile, aber auch Nachteile. Der größte Vorteil besteht darin, dass man dem Chorgesang auch in den Forte/Tutti-Passagen sehr gut folgen kann, was auch deshalb eine Freude ist, weil der Chor hervorragend singt. Allerdings ist dieser Vorteil teuer erkauft. Denn es gibt Stellen in diesem Werk, an dem ein zurückgehaltenes Orchester seiner Aufgabe nicht mehr gerecht werden kann. Besonders im zweiten Satz fällt das auf. Beklemmung stellt sich nicht ein, wenn das Orchester - die Pauken - irgendwo im Hintergrund werkeln. Von einem bedrohlichen Dreinfahren ist hier nichts zu hören. Transparenz und Tiefenstaffelung sind bezogen auf das Orchester kaum vorhanden. Dem Chor zuzuhören, ich schrieb es schon, ist hingegen ein Vergnügen. Sehr homogen und wunderbar warm singt er. Gerade im ersten Satz geht mir das Herz auf. Shaw, der meines Wissens in erster Linie Chor-Dirigent ist, gibt dem Chor die Zeit, um die Linien auszusingen. An der Aussprache gibt es nichts zu kritisieren. Im weiteren Verlauf allerdings wirft die fortwährende Wärme des Chors eine zentrale Frage auf:

    Aus welcher Perspektive wird das Werk dargeboten, aus der des miterlebenden oder aus der des das alles bereits erlebt habenden und bereits getrösteten Menschen? Im ersten Fall durchlebt der Hörer, der Sänger insbesondere in den Sätzen zwei und drei, aber auch in der Schilderung des Jüngsten Gerichts – Dies Irae, schreibt Peter oben – Angst und Schrecken. Im zweiten Fall schützt die Glaubensgewissheit, das Zutrauen in Gott den Menschen – Hörer/Sänger – davor, den Schrecken zu durchleiden. Die Schrecken, die Pauken usw., sind da, können einem aber nichts anhaben.

    Die Aufnahme Shaws geht den zweiten Weg. Hier gibt es keine emotionalen Abgründe. Die Spannweite der dargebotenen Gefühle ist gering. Über allem steht die Wärme, der gläubige Trost.

    Mein Zugang ist das nicht. Ich mag die emotionale Achterbahnfahrt. Das Erreichen des Paradieses ist umso schöner, wenn man zuvor die Schrecken durchlitten hat.

    Richard Stilwell singt ein sehr amerikanisches Deutsch. Die typischen Aussprachefehler sind alle zu hören (Problem mit dem ch, das e wird zum ä, kein offenes o und a usw.). Arleen Augers Stimme ist Geschmacksache. Für mich klingt die Stimme etwas zu gläsern/ausgehöhlt, fehlt ihr etwas lyrische Wärme, was gerade im Vergleich zur Wärme des Chors auffällt. Zudem habe ich bisweilen den Eindruck, dass die Stimme im Piano nicht gut anspricht, dass Auger daher übermäßig Druck aufbauen muss, was leider dem erstrebten Gefühl der Leichtigkeit, der paradiesischen Erdenschwerelosigkeit entgegensteht.

    Alles in allem fällt es mir schwer, die Aufnahme zu bewerten. Im Vergleich zu der Aufnahme von Abbado z . B. ist sie nicht besser oder schlechter, sondern ganz anders.

    :wink: Thomas

  • Solti und Giulini

    Hallo Thomas,

    ich finde es immer sehr gut, wenn nicht immer über seine eigenen CD´s "gelobhudelt" wird, sondern, wei in deinem Falle zwei mal hintereinander kritische Anmerkungen kommen. Als Ergebnis ist man dann gleich vorgewarnt und weis welche Aufnahme nicht für den eigenen Kauf vorzuziehen ist.
    Auch bei DG ist es hin und wieder mal klanglich nicht so stimmig, wie im Falle der Abbado-Aufnahme !
    :wink: Du scheinst offenbar Deine Aufnahme des Brahms Requiems noch nicht gefunden zu haben ? Oder welche wäre Dein Favorit ?

    Ich besitze das Brahms-Reqiuem zwei mal auf CD --- mit Solti / Chigago SO (Decca) und Giulini / Wiener PH (DG). Rein klanglich kann ich an beiden Aufnhmen nichts negatives feststellen. Orchester und Chöre sehr sauber und klar aufgenommen; die Chöre gut verständlich; die Paukenstellen nicht zurückhaltend, sondern massiv und prägnant. Von den Solistenstimmen erwartet bitte von mir keine Wertung, die kann ich nicht beurteilen (und will es auch nicht). Ich kann keiner der beiden Aufnahmen einen wirklichen Vorzug gegenüber der Anderen einräumen - was bei der einen nicht so prägnant oder begeisternd rüber kommt, ist bei der Anderen wieder gegeben. Und das obwohl beide Interpretationen einen immensen Unterschied aufweisen und wirklich zwei unterschiedliche Auffassungen vertreten - Beide aber schlüssig und Beide sind dramatisch zupackend und langweilen den Hörer in keinster Weise.

    Wie komme ich gerade auf diese Aufnahmen ?

    Solti hatte ich gewählt, weil mir seine Brahms-Sinfonien über Jahrzehnte äußerst angenehm waren und er für mich ein herausragender Brahms-Dirigent ist. Das beweist er auch in dieser packenden Aufnahme des Brahms-Requiems.
    Giulini war eher Zufall, durch eine CD-Sammlungsübernahme im Jahre 2008. Diese CD ließ mich aufhorchen und ich behielt sie zurück. Sie wurde hier bereits von dem Capriccio Maurice_Hol favorisiert und abgebildet. Wie Giulini das Finale mit Hochspannung inzeniert ist absolut grandios.


    DEcca, 1997, DDD .....................................................DG, 1988, DDD

    ______________

    Gruß aus Bonn

    Wolfgang

  • Lieber Wolfgang,

    dass ich meine Aufnahme noch nicht gefunden habe, kann ich nicht sagen (s. z. B. unten). Sondern ich bin gerade dabei, meine Aufnahmen (ja, ich habe noch mehr) der Reihe nach durchzuhören und über meine Eindrücke zu berichten. Mit Abbado und Shaw habe ich schlicht angefangen, weil ich sie am längsten nicht mehr gehört hatte (den Grund dafür liest du oben). Beim Shaw übrigens ist mir völlig klar, dass er dir nicht gefallen wird. Anderen aber, denen Shaws Ansatz zusagt und denen die Aussprache des Baritons nicht so wichtig ist, mag er durchaus die liebste Aufnahme gemacht haben. Die beiden von dir genannten Aufnahmen von dir kenne ich übrigens nicht. Danke für die Vorstellung. Zur Aufnahmetechnik: Eine Live-Aufnahme des Deutschen Requiems dürfte so ziemlich das Anspruchsvollste sein, was ein Toningenieur können muss. Dass da mal etwas nicht so klappt, kann ich gut verstehen. Oben war ja bereits über einen Mitschnitt unter Young ähnliches berichtete worden, wie das, was ich zu Abbado gesagt habe.

    Soeben verklungen ist bei mir eine meiner Lieblingsaufnahmen des Requiems:

    Norrington, London Classical Players, Schütz Choir of London, Lynne Dawson, Olaf Bär, aufgenommen 1992

    Norrington und die London Classical Players sind vor allem mit den Beethoven-Sinfonien bekannt geworden. Die Vorzüge (aber auch Nachteile, für mich überwiegen die Vorteile deutlich) jener Aufnahme finden sich auch hier. Zunächst einmal wird historisch informiert musiziert, a’ = 435 Hz. Das Dirigat ist sehr akzentuiert, das Orchesterspiel sehr transparent. Der Klang ist schlank. In den Streichern fehlt Wärme, sie neigen in bekannter Art bisweilen zur Strähnigkeit. Aber einher geht eine hervorragende Fokussierung und Schlagkraft, ja, Fähigkeit zur punktgenauen Explosion.

    Die Stellen, in denen sich diese besonderen Eigenschaften zeigen, kann sich jeder denken. Nur soviel: Zum Beispiel empfinde ich die im rhythmische Akzente im vierten Satz in der Zeile „mein Leib und Seele freuen sich“ auf Leib und Seele als überakzentuiert. Norringtons Hang, den Puls der Musik deutlich aufzuzeigen, missfällt mir auch im fünften Satz (besser gesagt, ich finde, Norrington übertreibt). Böse gesprochen hat Taktschlägerei im fünften Satz nun wirklich nichts zu suchen. Andererseits – und damit bin ich wieder bei den Vorzügen - sind die dynamischen Steigerungen und Spitzen jedes Mal gigantisch gut. Überhaupt sind die Dynamikänderungen, die Übergänge hier in Vollendung zu erleben (das gilt auch und gerade für den Chor). Die in meinen Ohren fehlende Wärme der Streicher zeigt sich leider ganz am Anfang. Zum „Selig sind …“ passt Wärme besser, finde ich (der ich aber auch gerade in der Wärme Shaws gebadet habe).

    Das Tempo ist schnell. Oben wurde gesagt, Kegel habe es eilig. Nun, gegen Norrington ist Kegel gar nichts (wenn ich meine Aufnahmen durch habe, erstelle ich eine kleine Übersicht, vorab: Kegel braucht insgesamt ca. 72 Minuten, Norrington ca. 62). Im vierten Satz aber („Wie lieblich sind deine Wohnungen“) ist Norrington plötzlich, nachdem er überall viel schneller war als die anderen, deutlich langsamer (er nimmt sich 5:39 Minuten). Es stellt sich dadurch ein wundervoller Eindruck des zur Ruhe Kommens ein.

    Der Chor ist superb. Fantastische Klangkultur. Traumhaftes Miteinander. In der Tongebung äußerst variabel. Bisweilen nuanciert, dann aber auch wieder kraftvoll bis zum Abwinken. Über Themen wie Verständlichkeit, Idiomatik brauchen wir gar nicht erst zu reden. Besser geht´s nicht.

    Olaf Bärs Singen ist eine Wonne – wobei er den Vorteil hat, dass ich zuvor Stilwell hörte. Die zwei Zeilen von „Herr, lehre mich doch“ bis zum „muß“ sind fabelhaft gestaltet. Bär versteht es aufs Beste, die diesen Zeilen innewohnende Dringlichkeit musikalisch zu vergegenwärtigen. An anderer Stelle wirkt die Stimme auf mich etwas schwerfällig, aber die Eier legende Wollmilchsau ist ja bekanntlich noch nicht erfunden.

    Lynne Dawson singt wundervoll. Ihr Timbre hat vielleicht einen Hauch von Essig, der mich aber nicht stört. In der Höhe ist die Stimme überdies nicht mehr ganz frei. Das aber ist Kritik auf allerhöchstem Niveau. Ihr Piano z. B. ist traumhaft, die leichte Färbung der Stimme auf „Traurigkeit“ von erlesenem Geschmack.

    Fazit: Eine Spitzenaufnahme.

    :wink: Thomas

  • Ihr Lieben,

    vielen Dank für eure Teilnahme am Thread und für das empfangene Lob. Da macht es doch gleich viel mehr Spaß, solche Threads zu beginnen, wenn man merkt, dass sie auch ankommen!

    Lieber Thomas,

    ich finde es toll, dass du deine Aufnahmen hier gesondert besprichst! Die Norrington-Aufnahme ist leider schon wieder gestrichen. Schade, da hätte ich gerne mal reingehört.
    Das muss ich aber auf jeden Fall noch beim Giulini machen, die ein Kollege mir gestern auch als seine Lieblingsaufnahme vorgestellt hat.

    Gestern hab ich mir dann noch die Kempe-Aufnahme angehört und ich kann mich den positiven Äußerungen hier nur anschließen. Die Solisten sind hervorragend. FiDi nehme ich seine Verzweiflung im dritten Satz ohne Probleme ab und die Grümmer ist bestimmt auch im realen Leben eine tolle Mutter gewesen. Herausragend fand ich den Chor (der St.-Hedwigs-Kathedrale, quasi dem Vorläuferchor, in dem ich jetzt singe). Blitzsaubere und deutliche Aussprache, schöner Chorklang, tief empfundene Inhalte (die Stelle "wir werden aber alle verwandelt werden" hab ich noch nie so innig und eindringlich gehört).

    Die Aufnahme gibt es übrigens jetzt neben der EMI auch bei Naxos zu kaufen. Macht zwar preislich nicht so viel aus, aber vielleicht findet ja jemand das Cover schöner. :D

    Kennt eigentlich jemand die Aufnahme mit Frieder Bernius? Die würde mich auch noch interessieren. Seine Mendelssohn-Sachen finde ich weitestgehend überzeugend.

    :wink:

    Liebe Grüße,
    Peter.

    Alles kann, nichts muss.

  • Lieber Thomas,

    ich finde es toll, dass du deine Aufnahmen hier gesondert besprichst! Die Norrington-Aufnahme ist leider schon wieder gestrichen. Schade, da hätte ich gerne mal reingehört.


    Lieber Peter,

    ich finde es toll, dass du diesen Thread so schön eröffnet hast! Mal sehen, wie lange ich noch Lust dazu habe, Aufnahmen des Deutschen Requiems zu hören (einige habe ich noch und ich spüre bereits erste Ermüdungserscheinungen). Gestern jedenfalls gehört habe ich:

    Herbert Kegel, Rundfunkchor & Rundfunksinfonie-Orchester Leizpzig, Siegfried Lorenz, Mari Anne Häggander, aufgenommen 1985

    Die bereits viel gelobte Kegel-Aufnahme begeistert auch mich. Die Homogenität und Verständlichkeit des Chors, das Chor-Orchester-Verhältnis sind für meinen Geschmack ideal. Schon im ersten Satz ist das wiederholte warme Aufblühen insbesondere auf „getröstet werden“ ein Genuss und der weiteren Genüsse – vor allem vermittelt durch den Chor – sind viele.

    So ganz uneingeschränkt glücklich bin ich mit der Aufnahme allerdings nicht. Mehrere Kritikpunkte möchte ich anbringen. Den wohlverdienten Spitzenrang – das sei klar zum Ausdruck gebracht - möchte ich dieser Einspielung damit allerdings keineswegs absprechen und das Verhältnis zwischen Lob und Tadel in diesem Beitrag ist ein klares Missverhältnis.

    Der meiner Auffassung nach gewichtigste Kritikpunkt betrifft die Klangästhetik. Die Musik – das betrifft sowohl den Chor als auch das Orchester - ertönt in dieser Aufnahme – sehr weich und breit, mithin wenig konturenscharf. Ich als heutiger Hörer bin es nach den Erfahrungen mit HIP-Aufnahmen gewohnt, dass die Einsätze schärfer kommen (so klingen z. B. die Pauken im zweiten Satz weit weniger gefährlich/bedrohlich als bei Norrington), dass die Orchestergruppen abgegrenzter klingen. Hier hingegen ist noch das alte Klangideal des eingebettet Seins in, des umhüllt Seins von Klang, des wohligen Anschmiegens zu hören. Auf meine Ohren klingt das altmodisch (ähnlich habe ich das vor einiger Zeit übrigens mit Sawallischs Schumann-Sinfonien erlebt). Einigermaßen verwundert hat mich, dass Algabal ganz im Gegensatz zu mir das Wort "glasklar" verwandt hat, um die Einspielung zu charakterisieren. So unterschiedlich kann man das erleben (wobei ich allerdings zuvor Norrington gehört hatte, was den hier wiedergegebenen Eindruck deutlich verstärken dürfte).

    Siegfried Lorenz macht seine Sache sehr gut. Seinen Gesang finde ich durchweg richtig. Restlos glücklich bin ich allerdings auch mit ihm nicht. Es fehlt das Besondere, die Gestaltung des Parts. Am deutlichsten wird das von mir Gemeinte an der Zeile „Nun Herr, wes soll ich mich trösten?“. Diese singt Lorenz derart teilnahmslos, als ob er fragte: „… was gibt es zu essen?“ Man höre nur, wie der Chor reagiert, dann merkt man, was Lorenz hier an Möglichkeiten verschenkt. Auch die Dringlichkeit, die Olaf Bär dem „Herr, lehre doch mich…“ verleiht (s. o.), ist hier nicht zu erleben.

    Wenn wir schon bei diesem Satz sind: Bei der anschließenden Fuge („Der gerechten Seelen sind in Gottes Hand“) wirkt mir persönlich der Chor zu zahm, hat die Musik zu wenig Kraft, zu wenig Strahlen. Später allerdings, im Dies irae („Tod, wo ist dein Stachel“) zeigt der Chor, dass er die von mir hier vermisste Kraft durchaus hat. Die vergleichsweise moderate Kraft in dieser Fuge ist somit Kegel (aus meiner Sicht) anzulasten. Allerdings handelt es sich dort um eine gewalttätige Kraft, hier um eine strahlende Kraft, also womöglich doch etwas anderes.

    Nebenbei bemerkt: Die Worte „ewige Freude“ im Forte (bei Kegel 9:20) erinnern mich immer wieder an den Ruf „Thüringens Fürsten“ aus dem Tannhäuser. Zufall (Noten habe ich weder von der einen noch von der anderen Stelle)?

    Am deutlich schlechtesten in dieser Aufnahme gefällt mir der Sopran: Auf den Punkt gebracht missfällt mir, dass sie nicht mit einer Lied/Oratorium-Stimme, sondern mit einer Opernstimme singt. Vor allem die Übergänge vom Piano zum Forte finde ich unschön. Deutlich zu hören ist das bei 3:23. „Ich habe eine kleine Zeit“ singt Häggander da. „Ich habe eine“ singt sie normal, d.h. gewissermaßen als Rezitativ, auf „kleine“ attackiert sie plötzlich und unvorbereitet sogleich mit ihrer Opernstimme, „Zeit“ singt sie dann wieder normal. Diese Opernstimme hat für meinen Geschmack zudem noch etwas orgelig-quäkiges. Häggegard scheint ihr Vibrato zudem nur mittels eines einzigen Schalters anwenden zu können: an oder aus. Vielleicht handelt es sich um eine Geschmacksfrage, mag der eine oder andere die von mir als orgelig-quäikig empfundene Stimme als besonders ausdrucksstark empfinden. Mir jedenfalls fehlen Nuancierung und stimmliche (liedartige) Feinarbeit.

    Herzlich grüßt
    Thomas

  • Die Homogenität und Verständlichkeit des Chors, das Chor-Orchester-Verhältnis sind für meinen Geschmack ideal. Schon im ersten Satz ist das das wiederholte warme Aufblühen insbesondere auf „getröstet werden“ ein Genuss und der weiteren Genüsse – vor allem vermittelt durch den Chor – sind viele.

    Stimme Dir unbedingt zu. Das Ergebnis für mich: an einigen Stellen wahrhaft erschütternd!

    Zitat

    Am deutlich schlechtesten in dieser Aufnahme gefällt mir der Sopran: Auf den Punkt gebracht missfällt mir, dass sie nicht mit einer Lied/Oratorium-Stimme, sondern mit einer Opernstimme singt.

    Frau Häggander bildet auch für mich den Schwachpunkt dieser Aufnahme: Ihr opernhaftes Gebaren paßt so überhaupt nicht zu dem feinen Engelgesang, der Brahms da wohl vorgeschwebt hat.

    Ich habe im Requiem schon mehrfach mitgesungen, zuletzt vor einem Jahr. Leider ist es mir dadurch - und auch durch oftmaliges Hören (der großartige Einstieg ging damals über die erhabene Klemperer-Einspielung) - etwas verleidet und gehört für mich zu den (zweifellos großen) Werken des 19. Jahrhunderts, deren ich inzwischen müde bin. Vielleicht dereinst wieder...

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • John Eliot Gardiner, Monteverdi Choir, Orchestre Revolutionnaire et Romantique, Rodney Gilfry, Charlotte Margiono, aufgenommen 1990

    Die ersten Takte erklingen, schon wundere ich mich über das Tempo. „Das ist doch viel zu schnell und ohne Gefühl. Hat Gardiner denn kein Gespür dafür, kein Gefühl für Brahms?“, frage ich mich.

    Ein Blick ins Booklet, in dem Gardiner selbst sich zu Wort meldet, bringt die Lösung: Gardiner will gar kein Gefühl für Brahms haben. Gefühl ist von übel. Gardiner schreibt: „Derselbe lutherische Eifer [wie der in den Musikalischen Exequien von Schütz, Anm. v. Knulp] bestimmt in gewissem Grad beide Werke, und wenn bei Brahms der Trost des Requiems liebliche Formen annimmt – eine Falle für all jene, die das Werk allzu gefühlsselig angehen -, so darf uns dies nicht für die prinzipielle Schroffheit des Werks und seiner Konstruktion blind machen.“

    Des Weiteren legt Gardiner dar, dass er in der Aufnahme versucht habe, die Instrumente und die mit ihnen verbundenen Spielweisen eines Brahms-Orchesters aus den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts wieder aufleben zu lassen, um so die verschiedenen Schichten seines originellen Satzes freizulegen. Gardiner führt im Folgenden näher aus, welche Instrumente (Wiener Hörner und Wiener Oboe, kleinere, heller timbrierte Pauken, die mit harten Schlägeln gespielt werden) und welche Spielweise (insbes. die Bogentechnik bei den Streichern, Vibrato nur ausnahmsweise) verwandt worden seien.

    Das Unternehmen habe sich insofern gelohnt, resümiert Gardiner, als es gelungen sei, der potentiell verschwommenen Struktur zu mehr Klarheit zu verhelfen und sozusagen die „Felsgestalt von Brahms’ komplexem kontrapunktischen Stil herauszuarbeiten.“

    Nun denn, diese Sichtweise verändert die Maßstäbe. Denn wenn der liebliche Trost nur mit dosiertem Gefühl verabreicht werden soll, darf man dieser Aufnahme die fehlende Gefühlswärme wohl nicht vorwerfen. Oder doch?

    Erst einmal der Reihe nach:

    Der Monteverdi Choir ist bekanntlich weltspitze. Diesen Rang zeigt er auch hier. Grandioser Chorgesang ist zu hören. Die große Praxis gerade dieses Chors in barocker Chormusik kommt der Deutschen Requiem hörbar zugute. Artikulation, Aussprache, Transparenz, Kraft, alles perfekt.

    Gleiches ist zu sagen über das Orchester. Auch hier herrscht Perfektion.

    Chor wie Orchester kommt die hervorragende Tonqualität der Aufnahme zugute. Diese CD klingt im Vergleich zu den anderen Aufnahmen deutlich am besten. Allein die Plastizität der Instrumente ist eine helle Freude. Sogar der Chor wird sehr gut eingefangen, und zwar auch in den Dynamikspitzen. Ein Fest für die Ohren.

    Der Bariton ist kein Muttersprachler, seine Aussprache ist bei weitem nicht perfekt, die Phrasen erhalten dadurch leider eine leichte Holperigkeit, die mich stört, auch wenn Gilfry ansonsten sängerisch tadellos singt.

    Margiono gefällt mir, ohne mich zu begeistern. Mehr Mut zu Schlichtheit hätte ich ihr gewünscht, allerdings hätte Gardiner eine damit zumeist einhergehende Verinnerlichung wohl als gegen das Konzept verstoßend abgelehnt.

    Ach nein, es hilft nichts. Ich entledige mich dieser Pflichtübung und stelle fest:

    Meine Aufnahme ist das nicht. Sie ist wegen der genannten Vorzüge (Super-Ton, Transparenz, Fantastischer Chor) gewiss hörenswert. Aber sie ist und bleibt kalt. Brahms wird hier nicht mit Liebe dargeboten, sondern professoral seziert. Die Einspielung wirkt streberhaft. Über all die Perfektion geht jegliche Lebendigkeit (von Humanität will ich gar nicht erst reden) verloren. Kälte statt Gefühl. Trost ist hier nicht zu finden.

    Viele Grüße
    Thomas

  • wenn jetzt einige Wiedergaben etwas kritisiert werden, dann will ich auch nicht hinterm Berg halten. Der Janowski-Mitschnitt von letzter Woche (aus Berlin) hat mich leider nicht sonderlich beeindruckt, es wirkte alles zu teilnahmslos (Orchester + Chor) ... nach dem 3. Stück habe ich mir den dann nicht weiter reingezogen... bin auf Bychkov (WDR3 , siehe Radiothread) gespannt...

    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • nach dem 3. Stück habe ich mir den dann nicht weiter reingezogen...


    ...und ich bin im 3. Stück eingestiegen, weil ich zu spät nach Haus gekommen bin. Begeistert hat mich das aber auch alles nicht, abgesehen davon, dass mein Empfang zum Sender irgendwie gestört war und ich mir die ganze Zeit ein lautes Rauschen wegdenken musste.
    Einige Tempozusammenhänge fand ich sinnlos und nichtssagend, die Solisten waren okay, aber der Chor hatte eine gewisse Beliebigkeit, schien mir nicht ganz bei der Sache zu sein. Vielleicht war ihnen das Stück ja auch schon über, weil sie es ja in den Tagen für Pentatone aufgenommen haben.
    Diese Beliebigkeit (insgesamt gesehen) zeigte sich für mich dann übrigens am Ende des Stückes, das ja ganz engelsgleich und verklärt (für mich weisen die Harfen den Weg in den Himmel) aufhört. Es dauerte keine 3 Sekunden nach Verklingen des Schlussakkordes, als der Applaus einsetzte. Keine Ahnung, ob nun die Aufführung, der Dirigent oder nur das Publikum daran Schuld hatte, aber das gehört sich meines Erachtens für ein Requiem nicht.

    Wir haben ja am Totensonntag das Requiem ein paar Stunden früher gesungen und ohne unsere Aufführung jetzt zu sehr loben zu wollen, war die Atmosphäre so gespannt, dass wenigstens eine halbe Minute nach dem letzten Satz Ruhe war. Solange, bis jemand aus dem Publikum sein Husten nicht unterdrücken konnte und so den Startschuss für den Applaus gab. ;+)
    Wäre übrigens ein mal interessantes Threadthema...

    :wink:

    LG, Peter.

    Alles kann, nichts muss.

  • Danke Peter, schöner Thread.

    Ich möchte nur ganz kurz auf eine Einspielung hinweisen, die zwar Grammy-ausgezeichnet ist (ich glaube zudem noch von Gramophone), aber sich allgemein (so meine Erfahrung aus Tamino) keiner allzu großen Beliebtheit zu erfreuen scheint (ja hier auch noch nicht erwähnt wurde):

    Nun muss ich vermutlich auch gleich anmerken, dass ich im Großen und Ganzen kein ausgesprochener Freund von Requien bin. Vielleicht sagt mit diese Aufnahme deshalb besonders zu. Sie kommt meines Erachtens mit weniger Wucht aus, bleibt insgesamt ruhiger, strenger. Chor und vor allem Quasthoff sagen mir ausgesprochen zu. Nach wie vor meine Lieblingsaufnahme des Deutschen Requiem.

    Jein (Fettes Brot, 1996)

  • Die Aufnahme der Berliner Philharmoniker unter Fritz Lehmann von 1955

    sollte man nicht als einzige kennen, aber man sollte sie kennen, finde ich. Sie ist geprägt von einer innigen Frömmigkeit, die wuchtiger Überwältigungsästhetik ebenso fern steht wie analytischem Taktschlägertum. Und sie ist auf ihre Art radikal, so radikal, dass sie in meinen Ohren einen der Endpunkte auf der Skala dessen markiert, was interpretatorisch an Diversität bei diesem Werk möglich scheint.

    Radikal sind sicher schon auf den ersten Blick die Tempi, die Lehmann wählt. Für das gesamte Werk braucht er 79'37, für die einzelnen Sätze:
    I. 13'33
    II. 15'33
    III. 10'58
    IV. 5'41
    V. 8'09
    VI. 11'34
    VII. 14'09

    Insbesondere fallen die beiden Seligpreisungen, der erste und der letzte Satz, völlig aus dem Rahmen des Üblichen - ich zumindest kenne keine Interpretation, die auch nur annähernd so langsam ist. Es gibt Momente vor allem im ersten Satz, in denen diese Langsamkeit auf mich quälend schleppend wirkt, und andere, vor allem im letzten Satz, wo sie eine wahrhaft hypnotische Wirkung hat; das wirkt dann geradezu archaisch, fühlt sich an wie Gregorianisches oder sonst Rituelles und ist einfach ganz wunderbar und kaum zu glauben.

    Und Lehmann lässt den Chor viele echte ganz leise pianissimi singen. Obwohl die unter dem starken Grundrauschen der remasterten (?!) DG-"Originals"-CD manchmal nur noch zu erahnen sind, wirken sie sehr wohltuend. Im zweiten Satz ("Denn alles Fleisch"), der bei Lehmann gänzlich ohne das unangenehm Marschhafte, Überakzentuierte daherkommt, das ihm in vielen anderen Aufnahmen eignet, gelingt unter Ausnutzung aller dynamischen Möglichkeiten eine grandiose Schluss-Steigerung.

    Der Bariton Otto Wiener näselt ein bisschen, ist aber trotzdem für mich nahe an einer Idealbsetzung für das "Herr, lehre doch mich": sein Duktus ist völlig unprätentiös und klar, er setzt kein alttestamentarisches Röhren auf, sondern ist der demütig-ehrfurchtsvoll Bittende im Angesicht seines Herrn. Diesen Satz kann man vollkommen unterschiedlich verstehen - Wiener singt ihn nicht als Klage, als Anklage gar, sondern als vertrauensvolles Gebet, als gläubige Bitte um Trost. Diese Lesart ist, so wie er es macht, für mich absolut überzeugend.

    Maria Staders Sopran empfinde ich als leider etwas zu leicht, zu soubrettig für das "Ihr habt nun Traurigkeit". Das ist für mich (aber das ist wirklich Geschmackssache) ein Schwachpunkt an dieser Aufnahme, andere sind Momente wie das ungeheuer old fashioned klingende monumentale ritardando am Ende des sechsten Satzes - aber letztlich ist diese ganze Aufnahme ungeheuer old fashioned, da gehört dann sowas wohl einfach dazu.

    Grüße,
    Micha

  • Lieber Micha, danke für diese interessante Vorstellung. Bei mir kam heute Kempe mit der oben bereits mehrfach gelobten Aufnahme an die Reihe:

    Rudolf Kempe, Chor der St. Hedwigs-Kathedrale Berlin, Berliner Philharmoniker, Elisabeth Grümmer, Dietrich Fischer-Dieskau, aufgenommen 1955

    Diese Aufnahme ist insbesondere wegen Elisabeth Grümmer legendär. Ich sehe das etwas anders.

    Insgesamt gesehen ist die Aufnahme sehr langsam und romantisch warm gespielt. Ausdrucksextreme sind nicht zu finden. In dieser Aufnahme geht es nirgendwo um alles. Es gibt große Bögen. Zu den dynamischen Höhepunkten findet Kempe durchweg erst nach langem Anlauf.

    Von dem Chor der St. Hedwigs-Kathedrale habe ich unabhängig von dieser Aufnahme noch nie etwas gehört (was nichts heißen muss). Dafür, dass er offenbar kein Profi-Chor ist, macht er seine Sache ausgezeichnet, zumal er hörbar mit Hingabe singt. Er ist aber nach meinem Dafürhalten trotzdem mehrere Klassen schlechter als die oben lobend erwähnten Spitzenchöre (z. B. Monteverdi- oder Schütz-Chor). Egal, ob man das Ohrenmerk auf die Aussprache, die Präzision, die Verständlichkeit legt, durchweg kann man sagen, der Chor ist gut, aber andere sind deutlich besser, wobei man fairerweise anmerken sollte, dass der breite Chorgesangsstil eben alterstypisch ist und man daher mit Vergleichen mit heutigen, durch die HIP-Schule gegangenen Spitzenchören vorsichtig sein sollte. Gravierender finde ich daher die für meinen Geschmack zu geringe Ausdrucksvielfalt des Chores. Er kann durchaus strahlend kräftig klingen. Vergleiche ich aber Stellen mit ganz unterschiedlichen Inhalten, stelle ich fest, dass diese unterschiedlichen Inhalte doch ziemlich gleich gesungen werden. Beispiele dafür sind: Am Ende des zweiten Satzes wird die ewige Freude besungen. Peter sprach von Partystimmung. Freudvoll klingt der Chorgesang aber nicht wirklich, nur kraftvoll-strahlend. Hölle, wo ist dein Stachel, singt der Chor. Siegessicher reizt und provoziert der den Tod und die Hölle, schreibt Peter oben treffend. Das Herausfordernde bringt der Chor nicht zum Ausdruck. Schlimmer noch, die folgende Fuge, insbesondere der Teil „zu nehmen Preis und Ehre und Kraft“, klingt kaum anders.

    Kempe entlocke dem Orchester einen reichen, nie aber aufgedonnerten Klang, schreibt Alan Blyth im Booklet. Ja, so kann man es sagen. Anders formuliert – und mit Norrington und Co. im Ohr könnte man sagen, dass Kempe die angezogene Handbremse nie los lässt. In der Hölle Rachen schaut man mit dieser Aufnahme nicht. Kraftvoll und gewaltig, ja, aber nirgendwo gewalttätig und bedrohlich.

    Im ersten Moment klingt Fischer-Dieskau in meinen Ohren seltsam belegt, man könnte meinen, er wäre ein Fremdsprachler, ja, seine Aussprache wirkt auf mich bein den ersten Worten sogar leicht unnatürlich. Dieser irritierende erste Eindruck hält aber nur kurz an. Dann schon begeistert Fischer-Dieskau mit seiner fantastischen Wortgestaltung. Andere Sänger schaffen es nicht, ganze Sätze zu gestalten. Fischer-Dieskau hingegen erzählt eine ganze Geschichte mit der Gestaltung nur eines Worts. Der Beispiele sind viele: Die Aussprache des „sammeln“ in „Sie sammeln und wissen nicht“ trägt kopfschüttelnden, verärgerten Spott in sich. Die Aussprache des „Geheimnis“ im sechsten Satz („Siehe, ich sage euch ein Geheimnis“) macht deren Wichtigkeit deutlich. Wieder ganz anders klingt das „trösten“ in „Nun Herr, wes soll ich mich trösten“. Ganz wunderbar! Auffällig im positiven Sinne ist zudem die andere, deutlich flehendere und drängendere Gestaltung der Wiederholung des „Herr, lehre doch mich…“ Geht es besser? Kann ich mir kaum vorstellen.

    Über Grümmer schreibt A. Blyth im Booklet ganz zu Recht: „Insgesamt zeigte sie eine natürliche Fähigkeit, Güte und Reinheit darzustellen, zu der ihr voller und zugleich reiner Ton ideal passten“. In den Chor all derer, die Grümmer für die Idealbesetzung des Sopransolos halten, reihe ich mich gleichwohl nicht ein. Grümmers Forte ist mir persönlich dafür zu vibratoreich – da bin ich wohl von den Barock-Oratorien/Passionen anders geprägt – und auch etwas zu wenig lyrisch-warm. Für eine der besten Interpretinnen des Sopransolos halte ich Grümmer, das sei deutlich gesagt, aber dennoch. Nur ist es eben nicht so, dass die Zeit stehen bleibt, wenn ich Grümmer höre.

    Zum Tempo möchte ich noch bemerken, dass es unter den Dirigenten keine Einigkeit zu geben scheint, wie schnell der vierte Satz („Wie lieblich…“) im Vergleich zu den anderen Sätzen gespielt werden muss. Kempe macht es – wie auch Kegel - im Vergleich zu genau umgekehrt als z. B. Norrington: Das Tempo im Allgemeinen ist bei Kempe zum Einschlafen langsam. So benötigt er insgesamt 76.07 Minuten und gehört damit zu den langsamsten (Celibidache läuft außer Konkurrenz). Das „Wie lieblich …“ hingegen durcheilt er in 5:13 Minuten. Nur wenige (z. B. Kegel, Herreweghe) sind geringfügig schneller. Ich kann diese Tempodramaturgie nicht nachvollziehen. Für mich ist der umgekehrte Ansatz (wie z. B. bei Norrington) viel überzeugender: Rundherum Dramatik, im vierten Satz dann paradiesische Ruhe. Wenn umgekehrt – wie bei Kempe – im vierten Satz beschleunigt wird, geht der Zauber des vierten Satzes völlig verloren.

    Die Tonqualität - ich kann sie nur anhand der links abgebildeten Aufnahme, die ich besitze, beurteilen – ist für das Alter völlig in Ordnung und braucht niemanden, so er denn nicht highendige Ansprüche hat, vom Kauf abzuhalten.

    Um meine Einleitungsworte aufzugreifen: Diese Aufnahme schätze ich nicht in erster Linie wegen Grümmer, sondern wegen Fischer-Dieskau, der - da schließe ich mich Cosima unbedingt an - Großartiges leistet. Allerdings singt Fischer-Dieskau ja auch unter Klemperer ...

    Ganz durchgehört habe ich Kempe anlässlich dieser Besprechung seit langem wieder das erste Mal. Es ist eher eine dieser CDs, die im Schrank stehen und die man arienweise zum Vergleich heranzieht.

    Viele Grüße
    Thomas

  • :cry:

    Die schöne, schöne Einspielung. So unverstanden, so zerlegt. Du Scheusal, Du!

    :cry:

    Alex


    "In the year of our Lord 1314 patriots of Scotland, starving and outnumbered, charged the field of Bannockburn. They fought like warrior poets. They fought like Scotsmen. And won their freedom."

  • Andere Sänger schaffen es nicht, ganze Sätze zu gestalten. Fischer-Dieskau hingegen erzählt eine ganze Geschichte mit der Gestaltung nur eines Worts.

    Genau das ist es, was ich so sehr an Fischer-Dieskau liebe! Deshalb ist er m.E. auch ein so begnadeter Lied-Sänger (in Opern kommt diese Fähigkeit nicht so zum Tragen). Sein "Herr, lehre doch mich..." ist umwerfend, einfach grandios. Das geht nicht besser zu singen! :juhu: Allein dafür lohnt die Anschaffung der ganzen Aufnahme.

    Sehr gerne höre ich auch Irmgard Seefried in der alten Walter-Aufnahme. Sie hat so ein herrliches, leicht süßes, strahlendes und zugleich warmes Timbre.

    .

  • Allerdings singt Fischer-Dieskau ja auch unter Klemperer ...

    Ja schon, aber weder unter Klemperer, schon gar nicht unter Barenboim oder Giulini hat Fischer-Dieskau eine derart grandiose Leistung geboten, so meine Ansicht.

    Neulich hörte ich eine sehr alte Karajan-Aufnahme, mit Hans Hotter. Obgleich ich kein großer Hotter-Fan bin, war ich doch positiv überrascht: Er klingt so zutiefst ehrlich.

    .

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