Michael Gielen war ja nie der bedingungslose Verfechter radikaler Musiktheaterregie, als den man ihn aufgrund seiner Frankfurter Zeit immer hat sehen wollen. Das konnte man schon seiner vor ein paar Jahren erschienenen Autobiographie entnehmen. Hier kritisiert Gielen sogar die von ihm selbst dirigierte Pelléas-Inszenierung von Ruth Berghaus an der Berliner Staatsoper. Inzwischen verkörpert für ihn anscheinend Calixto Bieito all das, was er in diesem Bereich ablehnt. Die Begründung des Unterschieds zwischen den Regieheroen seiner Frankfurter Zeit und z.B. Bieito scheint mir nicht überzeugend, ist aber immerhin bemerkenswert. Ausschnitte aus zwei Interviews der letzten Zeit (Gielen erhält in dieser Woche den Siemens-Musikpreis):
Gielen: Ich verabscheue den Begriff Regietheater. Es muss doch Musiktheater heissen, mit guten Regisseuren und klugen Dramaturgen. Die Regie kann nicht vorne stehen, das Werk muss vorne stehen! Sonst kommt das heraus, was Regisseure wie Calixto Bieito machen; die erfinden ein eigenes Stück, stülpen es über ein Werk und inszenieren das. Sie nehmen sich wichtiger als die Autoren.
Interviewer: Auch Ruth Berghaus, mit der Sie in Frankfurt intensiv zusammengearbeitet haben, galt als Vertreterin des Regietheaters.
Gielen: Aber ihre Idee war es, die Inhalte des Stücks zu entdecken und das, was eine schlechte Tradition verschüttet hat, wieder sichtbar zu machen! Sie hat nie etwas draufgepflanzt, was nicht drin war. Ich habe sie sehr bewundert, ihre Kompromisslosigkeit, die Originalität ihrer Konzepte.
Tagesspiegel von morgen, 4.5.:
Gielen: Es ging um die Inhalte, darum, mit den repräsentativen Schlampereien des Theaters zu brechen. Ich habe aufgehört, Oper zu dirigieren, weil ich genau das bei vielen jungen Regisseuren vermisse. Die erfinden sich eigene Stücke, die sie den Originalen aufpfropfen. Das Regietheater macht die ganze Opernpraxis kaputt, ich sage nur: Calixto Bieito. Furchtbar!
Interviewerin: Was unterscheidet einen Bieito denn von einem Neuenfels?
Gielen: Neuenfels, die Berghaus, der junge Peter Mussbach – das war Musiktheater, das war die Wahrheit! Selbst ein so fantasievoller und hochbegabter Regisseur wie Stefan Herheim hingegen ist in „La Forza del destino“ an der Lindenoper nicht davon abzubringen gewesen, dass das Volk die Hauptrolle spielt! Bei Verdi ist das durch nichts gedeckt, im Gegenteil, das Volk hat mit Abstand die schwächste Musik. Das war meine letzte Arbeit für die Oper.
Viele Grüße
Bernd