Goethe-Lieder: Der Dichterfürst und die Musik
Schon vor geraumer Zeit kam das Gespräch in einem der Kunstlied-Threads hier auf Vertonungen von Goethe-Gedichten. Ich wurde gebeten, doch einmal ein Thema dazu zu starten, habe es dann nie geschafft, aber nun, in vorweihnachtlicher Ruhe, ist hier, voilá, die Diskussionsplattform für alle Kunstliedverfallenen und Kunstliedneulinge. Das Thema ist umfangreich und bietet viel Diskussionsstoff, viel Platz für Liebesbekundungen und Missionierungsversuche, für Schimpftiraden und Neugierde, es ist nämlich, um mit einem geflügelten Wort zu sprechen "ein weites Feld". Die Gedichte und Texte wohl kaum eines Autors waren so oft Vorlage für Kunstlieder wie die Johann Wolfgang von Goethes. Das erstaunt nicht, denkt man daran, was für eine Ikone Goethe schon für seine Zeitgenossen war und wie er dann zu einer Art "Evangelist" deutscher Bildungstradition wurde, zeitweise direkt zum Synonym für Deutschlands Tadition als Land der Dichter und Denker. Bis heute ist Goethe wohl der populärste Dichter der deutschen Literaturgeschichte, kaum einer gehört so unbestritten zum schulischen Bildungskanon, kaum einer ist auch bei Leuten, die sich nur wenig mit Literatur auskennen, so bekannt und präsent. Manche Gedichtanfänge von Goethe ("Wer reitet so spät durch Nacht und Wind..." etc.) sind in der Literatur das, was die Anfänge von "Für Elise" oder der "kleinen Nachtmusik" in der Musik sind, omnipräsent und jeder hat sie schon einmal gehört.
Diese ungeheure Popularität und Ausnahmestellung Goethes in der Literaturgeschichte, die er von seiner Gegenwart bis heute immer hatte, ist sicher ein ganz wichtiger Faktor dafür, dass seine Gedichte so beliebt sind bei Liederkomponisten. Ein anderer Aspekt ist meiner Meinung nach die große Sanglichkeit, die oft schon die Verse selbst haben. Von Heinrich Heine einmal abgesehen gibt es kaum deutsche Dichter, die Verse gescgrieben haben, in denen die deutsche Sprache so singt und klingt und tanzt. Man lese einmal das "Mailied" - da ist schon die Sprache allein Musik! Goethes frühe gedichte sind, auch das trägt meiner Meinug nach nicht wenig zu ihrer Popularität als Textvorlage für Kunstlieder bei, von einer unerhörten Modernität, die dem modernen Leser oft kaum noch bewusst ist. In den "Sesenheimer Liedern" dichtet zum ersten Mal ein Autor aus eigenem emotionalen Erleben heraus, schafft im Alleingang das, was wir heute landläufig unter einem Gedicht verstehen: Der Ausdruck starker Gefühle in "verdichteter" Sprache, nicht mehr die perfekte Einhaltung einer Konvention. Goethe vollendet und popularisiert hier die lyrische Revolution, die die Empfindsamkeit mit sich gebracht hatte. Der wunderbare Goethe-Forscher Dieter Borchmeyer schreibt dazu: "Goethes Gedichte an Friederike Brion, die sogenannten Sesenheimer Lieder – darunter Kleine Blumen, kleine Blätter, Willkommen und Abschied, Maifest (später Mailied) sowie das bald zum >Volkslied< werdende Heidenröslein – sind der revolutionäre Beginn einer neuen lyrischen Epoche, ja haben dem deutschen Leser den Begriff dessen vermittelt, was Lyrik eigentlich ist. Ihre revolutionäre Bedeutung besteht in der einzigartigen Beschwörung, Vergegenwärtigung des Liebesaugenblicks. Liebe wird nicht mehr an ihren Phänomenen beschrieben, nicht nur geschildert, sie ist einfach da. Das lyrische Ich spiegelt seine Stimmung in der äußeren Welt, diese Welt in seiner Stimmung. „Wie herrlich leuchtet / Mir die Natur!“ lauten bezeichnenderweise die ersten Verse des Maifests. Der Gefühlsstrom durchdringt die ganze Natur, diese das ganze Gefühl. Lyrik ist nicht mehr im Sinne der herkömmlichen Dichtungstheorie Nachahmung der gebildeten Natur (natura naturata), sondern im Sinne der neuen ästhetischen Prinzipien Goethes Schöpfung nach Art der bildenden Natur (natura naturans). Der Dichter ist ein neuer Prometheus, ein zweiter Schöpfer! Das soll ein Grundsatz der Genieästhetik werden, die Goethe und seine Freunde sich zueigen machen werden."
Das also sind erst einmal ein paar ungeordnete Gedanken von mir, warum denn Goethe als Vorlage für Liederkomponisten eine solche Popularität genoss und genießt. Die Vertonungen von Goethe-Texten ist Legion, von Zelter bis zu beliebigen modernen Musikern. Hier auch nur einen gerafften Überblick zu geben, wäre wahrscheinlich ein Thema für eine Doktorarbeit, man verzeihe mir also, dass ich mich daran hier erst gar nicht versuche, sondern das Thema schlicht und einfach zur Diskussion stelle. Es mag nun also jeder seine liebsten Lieder auf Goethe-Texte präsentieren, natürlich darf auch gezeigt werden, was man denn gar nicht mag. Welche Lieder erscheinen euch besonders, welche enttäuschen euch, was für Unterschiede gibt es zwischen Goethe-Vertonungen aus verschiedenen Jahrhunderten? Der Fragen sind so viele, der Lieder auch - das Buffet ist eröffnet!
PS: Fällt jemandem eine originelle und zündende Titelformulierung ein? Mir gerade nämlich nicht... :stumm: