Francesco Merli - Der "Kapitän des B-Teams"

  • Francesco Merli - Der "Kapitän des B-Teams"

    Wer sich einmal den Spaß macht, ein All-Star-Team aller italienischen Tenöre zusammenzustellen, hat einige schwierige Entscheidungen zu treffen. So wird man sich bei den lyrischen Tenören wohl oder übel zwischen Gigli und Di Stefano entscheiden müssen, und bei der wichtigen Position des "tenore spinto" steht man vor der Frage, ob es wirklich vertretbar ist, den ehrgeizigen Giovanni Martinelli aufzustellen, wenn man damit den großen Techniker Aureliano Pertile zu Publikumsliebling Franco Corelli auf die Reservebank befördert. Ein weiterer Kandidat wird aber bei den meisten Hobbytrainern gar nicht im Aufgebot sein: Francesco Merli.

    Dieser Sänger hatte das Pech, einer Generation von legendären Tenören wie Giacomo Lauri-Volpi und eben Pertile und Martinelli anzugehören, die stimmlich vergleichbar ausgestattet waren und im selben Repertoire sangen. Irgendwo wurde Merli deshalb mit Blick auf seine aus heutiger Sicht bekannteren Zeitgenossen als "Kapitän des B-Teams" bezeichnet. Auch Jürgen Kesting, der sich sonst sehr positiv äußert, reiht Merli in "die zweite Garnitur" ein. Das alles suggeriert Zweitklassigkeit; davon ist Merli allerdings weit entfernt.


    I.
    Geboren wurde Merli am 27. Januar 1887 in Mailand. In den Annalen der Gesangsgeschichte taucht er erstmals im Jahr 1914 auf: Er nahm an einem Gesangswettbewerb in Parma teil und belegte dort den zweiten Platz. Dieses Ergebnis hat weder für Merli noch für die Preisrichter als Schande zu gelten; es siegte nämlich kein geringerer als Beniamino Gigli.

    Mit Merlis Karriere ging es seither schnell voran. Von 1916 bis 1942 trat er regelmäßig an der Scala in Mailand auf und wurde dort von Toscanini gefördert. Bis zu seinem Bühnenabschied Ende der 1940er Jahre gastierte er aber auch an zahlreichen anderen Opernhäusern auf der ganzen Welt, unter anderem in Argentinien und Australien. Er sang fast alles, was in der italienischen Oper als schwer zu gelten hat, zum Beispiel die Rollen Calaf, Chenier, Radames, Manrico, Alvaro, Canio sowie ab 1935 auch den Otello. Er hatte aber auch Wagnerpartien wie Lohengrin und Stolzing im Repertoire.

    Fast neunzigjährig starb Francesco Merli am 12. Dezember 1976 in Mailand.


    II.
    Überspitzt gesagt, ist Merli für mich der bessere Franco Corelli. Denn alles, was an Corelli geschätzt wird, besitzt Merli auch: kraftvolle Stimme, baritonales Timbre, sichere Höhe, ein tolles Squillo. Er sang, wie Corelli einmal selbst betonte, auch mit einer ähnlichen Technik, so dass Merlis Aufnahmen zumindest mich tatsächlich manchmal an Corelli denken lassen. Merli zeichnet allerdings darüber hinaus aus, dass er die deutlich bessere Diktion hat und in seinen Aufnahmen auch musikalische Präzision und Geschmack beweist.

    Von der Stimmqualität war Francesco Merli reich begnadet: eine große, kernige, eher schnell vibrierende Stimme, das Timbre angenehm und dunkel, wenn auch nicht übermäßig individuell. Der gesungene Text ist bei Merli gut verständlich. Er neigte allerdings dazu, bei einigen hohen Tönen die Vokale hörbar abzudecken, so dass diese etwas dunkel klingen, wenn auch nicht in dem Ausmaß, wie man das bei Mario Del Monaco erleben kann. Andererseits war Merli aber auch in der Lage, den Klang seiner Stimme in der hohen Lage metallisch, schlank und hochkonzentriert zu halten, wie es zum Beispiel auch Jussi Björling konnte.

    Ein "Brülltenor" war Merli nicht; auch zu leisen Tönen war er in der Lage, selbst wenn man sich bei einigen Einzelaufnahmen, wie zum Beispiel im Otello-Duett aus dem ersten Akt ("Già nella notte densa") mit Claudia Muzio, noch etwas mehr piano gewünscht hätte. Dennoch hat der Tenor sein großes Organ auch hier bemerkenswert gut unter Kontrolle und hält sich an fast alle Vortragszeichen. Uneingeschränkt erstklassig sind die anderen Otello-Auszüge, die Merli hinterlassen hat. "Ora per sempre addio" beeindruckt vor allem in stimmlicher Hinsicht, ist vom Ausdruck aber weniger trotzig oder verzweifelt als eine echte Reminiszenz an vergangenes Heldentum. Besonders eindrucksvoll ist auch "Dio mi potevi scagliar", in dem Merli sowohl Selbstmitleid als auch ohnmächtige Wut und Hass ausdrücken kann. Man ahnt, warum Merli in Italien als der bedeutendste Otello der späten 1930er Jahre galt.

    Vergleicht man Merli mit seinem direkten Konkurrenten Aureliano Pertile, war er der weniger expressive Sänger. Nennenswerte Verismo-Eskapen finden sich in seinen Aufnahmen nicht; Merli nutzte eher subtile gesangliche Möglichkeiten zur Charakterisierung. Ohnehin war er ein Interpret, der sehr eng am Notentext blieb. Das geht sogar so weit, dass er in der Arie "Nessun dorma" darauf verzichtet, das hohe H am Ende ("splen-de-rà"), wie man dies wohl von fast allen anderen Tenören kennt, in die Länge zu ziehen, sondern es nur wie vorgeschrieben als kurze Sechzehntelnote singt.


    III.
    Merlis Stimme ist in insgesamt vier Operngesamtaufnahmen zu hören:

    1930 – Leoncavallo: Pagliacci – Lorenzo Molajoli mit Pampanini, Galeffi

    Wer noch auf der Suche nach einem sehr guten, ich bin fast versucht zu schreiben dem besten, Canio ist, hier ist er: Francesco Merli. Dies ist die Gesamtaufnahme, die mich unter den vier ohnehin schon überzeugenden Operneinspielungen Merlis am meisten begeistert hat. Man kann hier wirklich exzellenten dramatischen Tenorgesang hören, einen Pagliaccio von selten zu hörender stimmlicher Sicherheit und großartiger Intensität. Und das Beste dabei ist: Merli bleibt dabei doch stets sängerisch diszipliniert.

    Die Interpretation des "Vesti la giubba" ist leidenschaftlich, aber nicht ungezügelt. An Effekten zu hören sind ein hysterisch-sarkastischer und wirklich gut gelungener Lacher im Rezitativ sowie einige Staccato-Schluchzer nach dem finalen "il cor", die leider etwas weniger überzeugen. Damit bewegt sich Merli dennoch eher im unteren Bereich der Naturalismus-Skala - fast nichts im Vergleich zu dem, was zum Beispiel Merlis Zeitgenossen Martinelli und Pertile in dieser Arie veranstaltet haben. Auch Gesangspuristen werden hier nicht viel Grund zur Beanstandung haben.

    Herausragend ist Merli im Finale ab "No, pagliaccio non son". Hier beeindrucken vor allem die Kraft und die Schönheit der Stimme, aber auch, dass sich Merli aller Übersteigerungen enthält, ohne dabei dramatische Glaubwürdigkeit einzubüßen. Wenn ich mich nicht täusche, spricht Merli auch die eigentlich für Tonio vorgesehene Schlusszeile.

    1930 – Puccini: Manon Lescaut – Lorenzo Molajoli mit Zamboni, Conati, Bordonali

    Den Des Grieux von einem Tenor dieses Kalibers zu hören, ist vielleicht ein wenig ungewohnt, aber Merli gelingt das, was Mario Del Monaco in seiner Manon-Lescaut-Aufnahme nicht vermochte: Im ersten Akt drosselt er seine große Stimme und klingt überraschend galant. "Tra voi belle" ist tatsächlich "con grazia" gesungen. Nichtsdestotrotz bevorzuge ich gerade für den ersten Akt einige lyrischere Tenöre, die dem Cavaliere noch mehr Eleganz verliehen haben.

    Aber es gibt auch Passagen, wo sich die Stimmstärke Merlis positiv bemerkbar macht, zum Beispiel das Duett mit Manon im zweiten Akt, bei dem man sich ohne weiteres von Merlis sonorem Wohlklang überwältigen lassen kann. Auch beim "pazzo son" in der Le-Havre-Szene verlässt Merli nicht die Gesangslinie. Also eine gute Aufnahme, aber insgesamt wohl nicht Merlis beste Rolle.

    1930 – Verdi: Il Trovatore – Lorenzo Molajoli mit Scacciati, Zinetti, Molinari

    In der Aufnahme des Trovatore erinnert mich Merlis Timbre gerade in den beiden ersten Akten wirklich frappant an Corelli – nur eben ohne dessen verfälschte Konsonanten, Aspirationen und Portamenti. Das "Ah sì, ben mio" singt Merli recht schön, auch wenn er hier wie in der gesamten Oper alle notierten Triller ignoriert. Die Stretta ist eine eindrucksvolle Entladung bei bemerkenswert guter Diktion, allerdings wurde sie um einen Halbton nach unten transponiert. Das ist schade, da nichts dafür spricht, dass Merli die Cs nicht gehabt hätte. Insgesamt ist das eine stimmlich überzeugende und auch musikalisch blitzsaubere Aufnahme Merlis, allerdings klingt sein Troubadour weder besonders intelligent noch sonderlich sympathisch. Das könnte aber auch an der Rolle liegen.

    Bei dieser Aufnahme möchte ich auch die Leistung von Enrico Molinari als Luna hervorheben: ein sehr textverständlicher Verdi-Bariton allererster Güte!

    1938 – Puccini: Turandot – Franco Ghione mit Cigna, Olivero, Neroni

    Als diese Gesamtaufnahme - die erste der Oper - entstand, war Merli bereits 51 Jahre alt. An der Stimme sind allerdings kaum Verschleißspuren auszumachen. Man muss sogar lange suchen, um einen Calaf von dem Niveau zu finden, wie Francesco Merli ihn hier eingesungen hat.

    Kurz nachdem im ersten Akt der Prinz von Persien verspielt hat und Turandot erscheint, hat Calaf beim "Turandot, Turandot, Turan-dooot" ein ziemlich exponiertes hohes B zu singen. Bei Merli ist die Sicherheit in der Attacke beeindruckend: Auch das ist einer dieser schlanken, konzentrierten, völlig unforcierten Töne, die schon für sich genommen sehr aufregend klingen. Wenig später bietet Merli ein sehr schönes, dynamisch abgestuftes "Non piangere Liù". Die Qualität seines Calaf zeigt sich aber besonders auch im letzten Akt. Das "Nessun dorma" ist eine intelligente, introvertierte Interpretation, zurückgenommen in den ersten Phrasen, aber am Ende "con anima". Auch im Alfano-Finale gehört Merli zu den wenigen Tenören, die sich nicht einfach durchbrüllen.

    IV.
    Es überrascht, dass ein Sänger mit derart herausragenden Qualitäten heute so wenig bekannt zu sein scheint oder sogar unterschätzt wird. Worauf gründet sich der Ausspruch vom "Kapitän des B-Teams", der auch in dieses Horn stößt? Möglicherweise darauf, dass Merli ein Interpret war ohne große Auffälligkeiten oder Allüren, vielmehr ganz einfach ein ausgezeichneter Sänger – also eher ein der Mannschaft dienender Spieler als ein Superstar. Für mich gehört Merli jedenfalls zu den ganz großen Tenören der Vergangenheit.

    Nun seid Ihr gefragt: Wie schätzt Ihr die Aufnahmen Francesco Merlis ein, gern auch im Vergleich zu anderen Tenören (z.B. Martinelli, Pertile, Vinay, Del Monaco, Corelli, Vickers)?

    Einmal editiert, zuletzt von Zauberton (3. Juni 2009 um 19:16)

  • Wie schätzt Ihr die Aufnahmen Francesco Merlis ein?

    Ich kenne keine einzige davon, aber ich hoffe, daß sich das jetzt ändern wird! So, wie Du ihn beschreibst, könnte das ein Sänger nach meinem gusto sein. YouTube verzeichnet ja immerhin so einiges, werde mal reinhören! Vielen Dank für das informative Sängerprotrait!

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Ich kenne keine einzige davon, aber ich hoffe, daß sich das jetzt ändern wird! So, wie Du ihn beschreibst, könnte das ein Sänger nach meinem gusto sein. YouTube verzeichnet ja immerhin so einiges, werde mal reinhören! Vielen Dank für das informative Sängerprotrait!


    Dann fang doch mal damit an: "

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    Erst Pertile, dann Merli – beide auf ihre Art faszinierend. Was meinst Du?

  • Ich habe die Turandot und die Manon. Letztere habe ich noch nicht gehört :hide:, in ersterer hat er mir sehr imponiert. Überhaupt ist das von meinen leider nur sieben Turandots die überzeugendste, weitaus besser als etwa die Nilsson-Corelli-Scotto-Aufnahme. Gina Cigna ist eine überwältigende Turandot und die junge Magda Olivero als Liu sehr anrührend.
    Der Trovatore mit Merli kommt nach Deiner Empfehlung jetzt ganz oben auf meine Wunschliste!

    Grüße,
    Micha

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    [Vesti la giubba]
    Erst Pertile, dann Merli – beide auf ihre Art faszinierend. Was meinst Du?


    Auf die Schnelle:

    Merli gefällt mir außerordentlich! Zum einen, daß er der Musik vertraut und außermusikalische Effekte nur sehr gezielt (und sehr gekonnt!) einsetzt, sparsam damit umgeht und so eine umso größere Wirkung erzielt; dann eine ausgesprochen angenehmer Stimmklang, hell, ohne dünn zu sein, eine ausgezeichnete Diktion (selten habe ich so viele Wörter einzeln verstehen können). In der Höhe wird es z.T. etwas eng, oder der Ton gleitet leicht nach oben weg, aber nur in minimalem Ausmaß. Sicher eine der schönsten Aufnahmen der Bajazzo-Arie, die ich gehört habe. (Und das ist mir mein erstes animiertes smiley wert: :klatsch: ) Mehr von Merli werde ich mir dieser Tage hoffentlich anhören können, wenn mich mein DSL-Anschluß nicht wieder im Stich läßt.

    Über Pertile möchte ich lieber nichts schreiben, außer, daß diese Aufnahme möglicherweise ein Vorurteil verfestigt...

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Francesco Merli als Otello

    Schön, dass Dir die Stimme auch gut gefällt. Merli ist ein Sänger, der wirklich etwas mehr Aufmerksamkeit verdient hat. Dass Du die Pertile-Aufnahme nicht magst, war mir übrigens schon von vornherein klar. Wenn Dir selbst Di Stefano zu naturalistisch ist, dann musste Dir dabei einfach Dein Hut hochgehen. :D

    Ich setze noch gleich mal den nächsten Link auf "Dio mi potevi scagliar": "

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    Gerade im ersten Teil ist das nicht ganz schluchzfrei, aber das stört mich überhaupt nicht. Merli deklamiert derart ausdrucksstark und textverständlich, dass das den Effekt noch verstärkt. Schon der Stimmklang ist wunderschön, aber was hat er in dieser Aufnahme für ein Finish! Diese echte Tenorhöhe mit dem Höhenstrahl ist beim Otello so rar, dass ich das regelrecht als Offenbarung empfinde.

  • RE: Francesco Merli als Otello

    ["Dio mi potevi scagliar"]
    Gerade im ersten Teil ist das nicht ganz schluchzfrei, aber das stört mich überhaupt nicht. Merli deklamiert derart ausdrucksstark und textverständlich, dass das den Effekt noch verstärkt.

    Das ist in etwa das, was ich nebenan im Callas-thread meinte: hier sind die Schluchzer (eigentlich nicht mal das, er läßt die Stimme immer nur kurz "brechen") in den Vortrag eingebaut, statt sie neben den Vortrag zu stellen. Das ist zwar "maniera verista" und beim Otello nicht ganz problemlos, aber eine akzeptable Umsetzung von "voce soffoccata". Die Deklamation ist auch nach meinem Eindruck beispielhaft.

    Zitat

    Schon der Stimmklang ist wunderschön, aber was hat er in dieser Aufnahme für ein Finish! Diese echte Tenorhöhe mit dem Höhenstrahl ist beim Otello so rar, dass ich das regelrecht als Offenbarung empfinde.

    Ein bißchen Beckmesserei muß sein: bei dem piano-acuto etwa in der Mitte der Aufnahme wird die Stimme sehr eng und verliert an Farbe und Substanz, beim Schlußton gleitet sie ein wenig nach oben weg (so eine Stelle gab's auch in "Vesti la giubba"); aber das bitte ich als Kritik auf ziemlich hohem Niveau zu verstehen. Und, in der Tat: ein "echter" Tenor! Wie wunderbar! Und er hatte wirklich Power: Wie er als Kalaf Turandots Rätsel beantwortet (welch monströse Stimmgewalt bei Gina Cigna!) ist höchst beeindruckend! (Womit ich wieder einen Eintrag in meiner "künftig verarmt"-Liste zu machen hatte...)

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Ich kannte bisher von diesem Sänger nur den Namen, hatte bisher eine Turandot im Hinterkopf, die ich wegen Magda Olivero als Liú irgendwann einmal bestellen wollte - und irgendwie ist es bei dem Vorsatz geblieben.

    Nun habe ich mich bei youtube ein wenig umgehört und was ich höre, gefällt mir sehr gut, obwohl ich sonst eigentlich kein erklärter Fan der baritenori bin. Eine wirklich große Stimme und dabei sehr subtiles Singen! Ein Bravo für die nur angetippte Note im "Vincero" des Calaf, denn ich mag das herausgehobene "Vinceeeeeero" nicht. So hat es eine viel größere Wirkung, finde ich.

    Auch die Canio-Arie überzeugt mich, wie ich überhaupt finde, dass die Stimme und das Singen Merlis sehr gut zum Stil des Verismo passten. Er hat eben nicht durch exzessive Heulkaskaden aus dem Verismo ein Schauerkabinett gemacht, sondern außermusikalische Mittel sparsam und gekonnt eingesetzt.

    Trotz der großen Stimme wirkt das Singen auf mich eher zurückgenommen, zuweilen fast introvertiert. Vielleicht lag darin der Grund dafür, dass er neben Martinelli und Pertile zurückstehen musste? Pertile soll auf der Bühne ja ungeheuer expressiv gewirkt haben, und seine frühen Aufnahmen höre ich wirklich gern, seine späteren Übertreibungen allerdings nicht.

    Als Manrico habe ich Merli noch nicht gehört, aber in dieser Rolle höre ich am liebsten etwas weniger robuste, "nervösere" Stimmen, welche die Hin- Und Hergerissenheit der Figur und das eigentlich gar nicht so Heldenhafte betonen.

    Aber auf jeden Fall ist das ein Sänger, vonm dem ich gern mehr hören würde. Und wenn dieser Tenor ins "B-Team" gesteckt wurde, muss die italienische Oper damals wirklich ein Luxusproblem gehabt haben :faint:

    (Ein anderer Tenor, dem auch immer das B-Etikett umgehängt wurde und der wohl auch hinter Pertile zurückstehen musste, war Antonio Melandri, bei dessen Aufnahmen ich wohl etwas befangen bin, weil ich die Stimme einfach gern höre).

    Liebe Grüße
    :wink: Petra

  • Liebe Petra,

    mir ging es lange Zeit so wie Dir. Ich hatte einige Jahre Turandot und Trovatore mit Merli im Schrank, sogar gehört und Merli dabei als interessanten Sänger verbucht. Aber irgendwie hatte er nicht den ganz großen Namen, so dass ich mir erst einmal keine weiteren Aufnahmen angeschafft habe. Dann kamen vor etwa einem Jahr die Pagliacci. Danach wusste ich, dass ich von Merli möglichst alles haben wollte. (Bei den Schellacksängern ist das ja mit noch gerade so vertretbaren finanziellen Opfern verbunden. :S ) Die Otello-Auszüge haben ihn dann endgültig zu meinen ganz großen Tenören der Vergangenheit gemacht. Und deshalb versuche ich, hier zumindest unter den rauschaffinen Hörern ein wenig für den Sänger die Trommel zu schlagen. Vielleicht kann sich ja noch jemand begeistern.

    Zu Merlis Zeit herrschte in Italien an hochklassigen und vor allem individuellen Sängerpersönlichkeiten anscheinend wirlich kein Mangel, so dass heute viele unter den Tisch fallen, die es eigentlich nicht verdient haben. Auch Antonio Melandri gehört dazu. Den kenne ich bislang nur aus der Mefistofele-Aufnahme mit De Angelis und Favero. Da hat er mir gut gefallen, aber ohne echt zu beeindrucken, so dass ich da nicht weiter hinterhergegangen bin.

    Kennst Du eigentlich Enzo de Muro Lomanto? Ein Tenor zwischen lyrisch und di grazia, war ein Schüler von Fernando De Lucia und hat wunderschöne Donizetti-Aufnahmen gemacht, aber auch viele italienische Lieder, die bezaubern. Der wäre auch einer für die Kategorie der zu Unrecht Halbvergessenen.

    Bei Pertile ist ein wenig so wie mit Gigli. Beide haben einen Stil gepflegt, der sich heute ein Stück weit überholt hat. Aber wenn man die Aufnahmen als Dokumente ihrer Zeit begreift, dann können sie zumindest mich noch überzeugen. Und Pertile war nun einmal ein echtes Kind der Verismo-Zeit. Das kommt auch in seiner Pagliacci-Arie zum Ausdruck. Was die Quantität des Schluchzens angeht, ist er da bestimmt ein Extremfall, aber - auch auf die Gefahr hin, jetzt auch bei Bernd komplettes Unverständnis zu ernten - ich empfinde das, was er da macht, als sehr musikalisch. Gerade dieser letzte Ausbruch am Ende des Nachspiels hat ein richtig gutes Timing. Das ist ein Ausdruckswille, der mich wirklich fasziniert.

    Als Manrico habe ich Merli noch nicht gehört, aber in dieser Rolle höre ich am liebsten etwas weniger robuste, "nervösere" Stimmen, welche die Hin- Und Hergerissenheit der Figur und das eigentlich gar nicht so Heldenhafte betonen.


    Da wäre doch eigentlich Pertile etwas für Dich, oder? Denn als "nervös" würde ich seinen Gesang sofort beschreiben. :D

  • Lieber Zauberton,

    Zitat

    Kennst Du eigentlich Enzo de Muro Lomanto? Ein Tenor zwischen lyrisch und di grazia, war ein Schüler von Fernando De Lucia und hat wunderschöne Donizetti-Aufnahmen gemacht, aber auch viele italienische Lieder, die bezaubern. Der wäre auch einer für die Kategorie der zu Unrecht Halbvergessenen.

    ich habe mal ein bisschen in meinen alten Kassetten gestöbert und einige Aufnahmen mit italienischen Liedern von Enzo de Muro Lomanto wieder hervorgeholt. Es sind schöne Aufnahmen, aber so richtig zum Weiter-Nachforschen haben sie mich noch nicht gebracht. Die italienischen Canzonen höre ich am liebsten ein wenig "rezitierend" mit der Balance von Wort und Ton, wie es Fernando de Lucia in der Blütezeit dieser Gattung oder später Tito Schipa gezeigt haben, während viele Sänger, auch de Muro Lomanto oder Jussi Björling, sie mit einer stärker instrumentellen Linie gesungen haben.

    Opernaufnahmen kenne ich von diesem Sänger noch nicht, bin aber Deinem Donizetti-Hinweis nachgegangen und habe gesehen, dass er 1928 unter dem Dirigat von Lorenzo Molajoli den Edgardo in der ersten vollständigen Aufnahme der „Lucia“ gesungen hat. Diese Aufnahme würde mich schon interessieren.

    Zitat

    Da wäre doch eigentlich Pertile etwas für Dich, oder? Denn als "nervös" würde ich seinen Gesang sofort beschreiben. :D

    Doch, Pertile ist etwas für mich, denn ich höre die meisten seiner Aufnahmen wirklich gern, gerade wegen seines Ausdruckswillens. Manchmal hat er mir aber etwas zu viel davon :D . Das musikalische Timing am Schluss des Canio müsste ich allerdings noch einmal nachhören. Und ich mag viele Aufnahmen aus der Blütezeit des Verismo, auch die typischen Stilmittel, falls sie nicht allzu überzeichnet daherkommen. Bei Pertile höre ich allerdings auch seine Aufnahmen aus dem Lohengrin sehr gern, oder die Arie aus der "Luisa Miller". Gerade er hat auch noch einiges aus der "Alten Schule" mitgebracht und mit verismo-typischen Stilmitteln verknüpft.

    :wink: Petra

  • Liebe Petra,

    Opernaufnahmen kenne ich von diesem Sänger noch nicht, bin aber Deinem Donizetti-Hinweis nachgegangen und habe gesehen, dass er 1928 unter dem Dirigat von Lorenzo Molajoli den Edgardo in der ersten vollständigen Aufnahme der „Lucia“ gesungen hat. Diese Aufnahme würde mich schon interessieren.

    die Lucia-Aufnahme habe ich leider auch nicht komplett, aber in Auszügen. Ich mag, wie de Muro Lomanto die Schlussszene singt. Alles ist leicht angeschluchzt, und die Stimme wirkt etwas schmal, aber man merkt, dass der Sänger von De Lucia gelernt hat, insbesondere was den Spannungsaufbau angeht. Noch etwas besser gefällt mir sein "Spirto gentil" aus der Favorita, das er kunstfertig verziert. Da hört man auch noch den Einfluss der alten Schule. Bei späteren Aufnahmen aus den 1940er Jahren scheint er sich stilistisch weg von De Lucia in Richtung Gigli orientiert zu haben - nicht immer zum Vorteil; die Schluchzfrequenz steigt deutlich, gerade bei den Liedern. Allzu viel habe ich von de Muro Lomanto aber auch noch nicht gehört und hatte mit dem Gedanken gespielt, dass Du vielleicht mehr über ihn weißt, eben weil er Schüler von De Lucia war. Insgesamt wird er wohl auch keiner meiner Tenor-Favoriten werden. Warum dieser Sänger überhaupt hier auftaucht, hat allerdings tatsächlich etwas mit Merli zu tun: Als ich mir für dieses Thema Merlis Trovatore nochmals anhörte, hat mir der Luna von Enrico Molinari so gut gefallen, dass ich nach weiteren Aufnahmen gesucht habe. So kam ich dann zu de Muro Lomanto; in dessen Lucia-Gesamtaufnahme singt Molinari nämlich den Enrico.


    So, jetzt habe ich hoffentlich die Kurve bekommen und bin wieder zurück bei Merli. Für alle, die sich einen Eindruck verschaffen möchten, weise ich gleich einmal auf die beiden CDs aus der Serie "Lebendige Vergangenheit" hin. Die erste CD der Reihe ist eine Zusammenstellung des klassischen Spinto-Repertoires, vor allem Verdi und einige Verismo-Klassiker:

    Fast noch interessanter ist die zweite Preiser-CD, die fast die gesamten Otello-Auszüge enthält, ergänzt mit Arien und Duetten aus einigen etwas abseitigen Opern des Verismo-Umfelds, z.B. Ruy Blas, Loreley und Sly:

    Eine Erwähnung wert ist mir die Aufnahme der Pollione-Arie "Meco all’altar di Venere", selbst wenn dies keine ganz ideale Rolle für Merli gewesen sein dürfte. Dennoch singt er hier zum einen das hohe C, um das sich viele Tenöre drücken, und, was noch wichtiger ist, hält sein "Me protegge, me difende" fast völlig frei von den schwerfällig meckernden Aspirationen, mit denen zum Beispiel auch Franco Corelli und Mario Del Monaco diesen Abschnitt im Übermaß belastet haben.

    Auch das oft missratene Duett "Solenne in quest’ora" aus Verdis Forza del destino mit dem Bariton Gino Vanelli ist Merli gut gelungen: kein "Addi-hi-hi-ho" sondern schönstes Legato.

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