Francesco Merli - Der "Kapitän des B-Teams"
Wer sich einmal den Spaß macht, ein All-Star-Team aller italienischen Tenöre zusammenzustellen, hat einige schwierige Entscheidungen zu treffen. So wird man sich bei den lyrischen Tenören wohl oder übel zwischen Gigli und Di Stefano entscheiden müssen, und bei der wichtigen Position des "tenore spinto" steht man vor der Frage, ob es wirklich vertretbar ist, den ehrgeizigen Giovanni Martinelli aufzustellen, wenn man damit den großen Techniker Aureliano Pertile zu Publikumsliebling Franco Corelli auf die Reservebank befördert. Ein weiterer Kandidat wird aber bei den meisten Hobbytrainern gar nicht im Aufgebot sein: Francesco Merli.
Dieser Sänger hatte das Pech, einer Generation von legendären Tenören wie Giacomo Lauri-Volpi und eben Pertile und Martinelli anzugehören, die stimmlich vergleichbar ausgestattet waren und im selben Repertoire sangen. Irgendwo wurde Merli deshalb mit Blick auf seine aus heutiger Sicht bekannteren Zeitgenossen als "Kapitän des B-Teams" bezeichnet. Auch Jürgen Kesting, der sich sonst sehr positiv äußert, reiht Merli in "die zweite Garnitur" ein. Das alles suggeriert Zweitklassigkeit; davon ist Merli allerdings weit entfernt.
I.
Geboren wurde Merli am 27. Januar 1887 in Mailand. In den Annalen der Gesangsgeschichte taucht er erstmals im Jahr 1914 auf: Er nahm an einem Gesangswettbewerb in Parma teil und belegte dort den zweiten Platz. Dieses Ergebnis hat weder für Merli noch für die Preisrichter als Schande zu gelten; es siegte nämlich kein geringerer als Beniamino Gigli.
Mit Merlis Karriere ging es seither schnell voran. Von 1916 bis 1942 trat er regelmäßig an der Scala in Mailand auf und wurde dort von Toscanini gefördert. Bis zu seinem Bühnenabschied Ende der 1940er Jahre gastierte er aber auch an zahlreichen anderen Opernhäusern auf der ganzen Welt, unter anderem in Argentinien und Australien. Er sang fast alles, was in der italienischen Oper als schwer zu gelten hat, zum Beispiel die Rollen Calaf, Chenier, Radames, Manrico, Alvaro, Canio sowie ab 1935 auch den Otello. Er hatte aber auch Wagnerpartien wie Lohengrin und Stolzing im Repertoire.
Fast neunzigjährig starb Francesco Merli am 12. Dezember 1976 in Mailand.
II.
Überspitzt gesagt, ist Merli für mich der bessere Franco Corelli. Denn alles, was an Corelli geschätzt wird, besitzt Merli auch: kraftvolle Stimme, baritonales Timbre, sichere Höhe, ein tolles Squillo. Er sang, wie Corelli einmal selbst betonte, auch mit einer ähnlichen Technik, so dass Merlis Aufnahmen zumindest mich tatsächlich manchmal an Corelli denken lassen. Merli zeichnet allerdings darüber hinaus aus, dass er die deutlich bessere Diktion hat und in seinen Aufnahmen auch musikalische Präzision und Geschmack beweist.
Von der Stimmqualität war Francesco Merli reich begnadet: eine große, kernige, eher schnell vibrierende Stimme, das Timbre angenehm und dunkel, wenn auch nicht übermäßig individuell. Der gesungene Text ist bei Merli gut verständlich. Er neigte allerdings dazu, bei einigen hohen Tönen die Vokale hörbar abzudecken, so dass diese etwas dunkel klingen, wenn auch nicht in dem Ausmaß, wie man das bei Mario Del Monaco erleben kann. Andererseits war Merli aber auch in der Lage, den Klang seiner Stimme in der hohen Lage metallisch, schlank und hochkonzentriert zu halten, wie es zum Beispiel auch Jussi Björling konnte.
Ein "Brülltenor" war Merli nicht; auch zu leisen Tönen war er in der Lage, selbst wenn man sich bei einigen Einzelaufnahmen, wie zum Beispiel im Otello-Duett aus dem ersten Akt ("Già nella notte densa") mit Claudia Muzio, noch etwas mehr piano gewünscht hätte. Dennoch hat der Tenor sein großes Organ auch hier bemerkenswert gut unter Kontrolle und hält sich an fast alle Vortragszeichen. Uneingeschränkt erstklassig sind die anderen Otello-Auszüge, die Merli hinterlassen hat. "Ora per sempre addio" beeindruckt vor allem in stimmlicher Hinsicht, ist vom Ausdruck aber weniger trotzig oder verzweifelt als eine echte Reminiszenz an vergangenes Heldentum. Besonders eindrucksvoll ist auch "Dio mi potevi scagliar", in dem Merli sowohl Selbstmitleid als auch ohnmächtige Wut und Hass ausdrücken kann. Man ahnt, warum Merli in Italien als der bedeutendste Otello der späten 1930er Jahre galt.
Vergleicht man Merli mit seinem direkten Konkurrenten Aureliano Pertile, war er der weniger expressive Sänger. Nennenswerte Verismo-Eskapen finden sich in seinen Aufnahmen nicht; Merli nutzte eher subtile gesangliche Möglichkeiten zur Charakterisierung. Ohnehin war er ein Interpret, der sehr eng am Notentext blieb. Das geht sogar so weit, dass er in der Arie "Nessun dorma" darauf verzichtet, das hohe H am Ende ("splen-de-rà"), wie man dies wohl von fast allen anderen Tenören kennt, in die Länge zu ziehen, sondern es nur wie vorgeschrieben als kurze Sechzehntelnote singt.
III.
Merlis Stimme ist in insgesamt vier Operngesamtaufnahmen zu hören:
1930 – Leoncavallo: Pagliacci – Lorenzo Molajoli mit Pampanini, Galeffi
Wer noch auf der Suche nach einem sehr guten, ich bin fast versucht zu schreiben dem besten, Canio ist, hier ist er: Francesco Merli. Dies ist die Gesamtaufnahme, die mich unter den vier ohnehin schon überzeugenden Operneinspielungen Merlis am meisten begeistert hat. Man kann hier wirklich exzellenten dramatischen Tenorgesang hören, einen Pagliaccio von selten zu hörender stimmlicher Sicherheit und großartiger Intensität. Und das Beste dabei ist: Merli bleibt dabei doch stets sängerisch diszipliniert.
Die Interpretation des "Vesti la giubba" ist leidenschaftlich, aber nicht ungezügelt. An Effekten zu hören sind ein hysterisch-sarkastischer und wirklich gut gelungener Lacher im Rezitativ sowie einige Staccato-Schluchzer nach dem finalen "il cor", die leider etwas weniger überzeugen. Damit bewegt sich Merli dennoch eher im unteren Bereich der Naturalismus-Skala - fast nichts im Vergleich zu dem, was zum Beispiel Merlis Zeitgenossen Martinelli und Pertile in dieser Arie veranstaltet haben. Auch Gesangspuristen werden hier nicht viel Grund zur Beanstandung haben.
Herausragend ist Merli im Finale ab "No, pagliaccio non son". Hier beeindrucken vor allem die Kraft und die Schönheit der Stimme, aber auch, dass sich Merli aller Übersteigerungen enthält, ohne dabei dramatische Glaubwürdigkeit einzubüßen. Wenn ich mich nicht täusche, spricht Merli auch die eigentlich für Tonio vorgesehene Schlusszeile.
1930 – Puccini: Manon Lescaut – Lorenzo Molajoli mit Zamboni, Conati, Bordonali
Den Des Grieux von einem Tenor dieses Kalibers zu hören, ist vielleicht ein wenig ungewohnt, aber Merli gelingt das, was Mario Del Monaco in seiner Manon-Lescaut-Aufnahme nicht vermochte: Im ersten Akt drosselt er seine große Stimme und klingt überraschend galant. "Tra voi belle" ist tatsächlich "con grazia" gesungen. Nichtsdestotrotz bevorzuge ich gerade für den ersten Akt einige lyrischere Tenöre, die dem Cavaliere noch mehr Eleganz verliehen haben.
Aber es gibt auch Passagen, wo sich die Stimmstärke Merlis positiv bemerkbar macht, zum Beispiel das Duett mit Manon im zweiten Akt, bei dem man sich ohne weiteres von Merlis sonorem Wohlklang überwältigen lassen kann. Auch beim "pazzo son" in der Le-Havre-Szene verlässt Merli nicht die Gesangslinie. Also eine gute Aufnahme, aber insgesamt wohl nicht Merlis beste Rolle.
1930 – Verdi: Il Trovatore – Lorenzo Molajoli mit Scacciati, Zinetti, Molinari
In der Aufnahme des Trovatore erinnert mich Merlis Timbre gerade in den beiden ersten Akten wirklich frappant an Corelli – nur eben ohne dessen verfälschte Konsonanten, Aspirationen und Portamenti. Das "Ah sì, ben mio" singt Merli recht schön, auch wenn er hier wie in der gesamten Oper alle notierten Triller ignoriert. Die Stretta ist eine eindrucksvolle Entladung bei bemerkenswert guter Diktion, allerdings wurde sie um einen Halbton nach unten transponiert. Das ist schade, da nichts dafür spricht, dass Merli die Cs nicht gehabt hätte. Insgesamt ist das eine stimmlich überzeugende und auch musikalisch blitzsaubere Aufnahme Merlis, allerdings klingt sein Troubadour weder besonders intelligent noch sonderlich sympathisch. Das könnte aber auch an der Rolle liegen.
Bei dieser Aufnahme möchte ich auch die Leistung von Enrico Molinari als Luna hervorheben: ein sehr textverständlicher Verdi-Bariton allererster Güte!
1938 – Puccini: Turandot – Franco Ghione mit Cigna, Olivero, Neroni
Als diese Gesamtaufnahme - die erste der Oper - entstand, war Merli bereits 51 Jahre alt. An der Stimme sind allerdings kaum Verschleißspuren auszumachen. Man muss sogar lange suchen, um einen Calaf von dem Niveau zu finden, wie Francesco Merli ihn hier eingesungen hat.
Kurz nachdem im ersten Akt der Prinz von Persien verspielt hat und Turandot erscheint, hat Calaf beim "Turandot, Turandot, Turan-dooot" ein ziemlich exponiertes hohes B zu singen. Bei Merli ist die Sicherheit in der Attacke beeindruckend: Auch das ist einer dieser schlanken, konzentrierten, völlig unforcierten Töne, die schon für sich genommen sehr aufregend klingen. Wenig später bietet Merli ein sehr schönes, dynamisch abgestuftes "Non piangere Liù". Die Qualität seines Calaf zeigt sich aber besonders auch im letzten Akt. Das "Nessun dorma" ist eine intelligente, introvertierte Interpretation, zurückgenommen in den ersten Phrasen, aber am Ende "con anima". Auch im Alfano-Finale gehört Merli zu den wenigen Tenören, die sich nicht einfach durchbrüllen.
IV.
Es überrascht, dass ein Sänger mit derart herausragenden Qualitäten heute so wenig bekannt zu sein scheint oder sogar unterschätzt wird. Worauf gründet sich der Ausspruch vom "Kapitän des B-Teams", der auch in dieses Horn stößt? Möglicherweise darauf, dass Merli ein Interpret war ohne große Auffälligkeiten oder Allüren, vielmehr ganz einfach ein ausgezeichneter Sänger – also eher ein der Mannschaft dienender Spieler als ein Superstar. Für mich gehört Merli jedenfalls zu den ganz großen Tenören der Vergangenheit.
Nun seid Ihr gefragt: Wie schätzt Ihr die Aufnahmen Francesco Merlis ein, gern auch im Vergleich zu anderen Tenören (z.B. Martinelli, Pertile, Vinay, Del Monaco, Corelli, Vickers)?