Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 8 c-Moll op. 65
Jewgeni Mrawinski gewidmet.
Entstehung: 2. Juli bis 9. September 1943 in Ivanovo.
(Fertigstellung der ersten drei Sätze am 3., 18. bzw. 25. August.)
Uraufführung: 4. (oder 3.) November 1943, Bolschoi Saal des
Konservatoriums, Moskau, UdSSR Sinfonie-Orchester unter Yewgeni
Mrawinski.
Besetzung: Flöten und Klarinetten 4-fach (inkl. 2 picc., Es- und
Bassklarinette), Oboen, Fagotte 3-fach (inkl. Englischhorn und
Kontrafagott), 11 Blechbläser, einige Schlaginstrumente, 64
Streicher.
Dauer: ca. 62 Minuten.
1. Satz: Adagio -- Allegro non troppo.
Statt offizielle Erwartungen zu erfüllen und eine triumphale Hymne zur
Unterstützung des "großen vaterländischen Kriegs" hinzulegen, schreibt
Schostakowitsch mit seiner 8. Sinfonie ein Requiem.
Der erste Satz ist ein einzigartiges Dokument von blankem Entsetzen,
tiefem Schmerz, Trauer und Verzweiflung. Das Adagio beginnt mit
zupackenden Tönen der tiefen Streicher, mündet aber nach wenigen
Takten in eine trostlose Melodie des nackten Entsetzens. (Dieser
Beginn erinnert stark an den Beginn seiner 5. Sinfonie.) Man geht
durch eine düstere, zerstörte Welt. Es scheint, als seien die
Vorahnungen aus der Coda des dritten Satzes seiner 4. Sinfonie nun
bittere Realität geworden. Nach diesem Schock geht es nach gut 5
Minuten dann "poco piu mosso" weiter, die Melodie wird sanfter,
beschwichtigender. Ein Rückblick auf die Zeit vor der Katastrophe?
Die Durchführung beginnt nach fast 10 Minuten erneut mit dem dem
sanften Streicherthema. Aber bald beginnt die Flöte eine andere
Stimmung vorzubereiten (Adagio, ab Ziffer 17). Im Verbund mit Oboen
und Klarinetten geht die noch abwartende Haltung von den Streichern
angetrieben sehr schnell in ein entsetzliches Schreien über, die
Hörner kommen sirenenartig dazu. Nach etwa 12 Minuten setzt dann die
kleine Trommel ein mit ihrem monotonen Rhythmus. Die Musik steigert
sich immer weiter. Holzbläser schreien alles Entsetzen
raus. Dissonante Sirentöne des Blechs. Dann reisst diese grausame
Steigerung scheinbar mit Beginn des "Allegro non troppo" plötzlich ab
(Ziffer 25). Eine hektische Verwirrtheit, der makabre Versuch eines
Tanzes unter Schock. Eine Atempause? Erneut steigern sich die Schreie
im Holz, die Spannung wird wieder fast unerträglich. Endlich scheint
es zu einer befreienden Wendung zu kommen. Ein grotesker Marsch
(Adagio, nach Ziffer 29) der Blecherbläser, der dann unterstützt von
Pauke und Xylophon in einen immer wilderen Rhythmus gerät; man fühlt
sich an Katschaturians Säbeltanz erinnert. Vier gewaltige Ausbrüche
des gesamten Orchersters beenden diesen Abschnitt auf brutale
Weise. -- Wer die Sinfonie schon einmal im Konzertsaal gehört hat,
weiss, wie ungeheuer effektvoll und gefühlsmäßig aufwühlend diese
ganze Steigerungspassage ist.
Die anschließende Reprise ist ein herzergreifendes
"postkatastrophales" Solo des Englischhorns (ab Ziffer 35) als
Stimme des Individuums. Zusammen mit Oboe und Klarinette bäumt es
sich zu einer erschütternden Klage auf, ehe es dann ab Ziffer 38 "poco
piu mosso" wieder sanftere Töne einschlägt. Ab Ziffer 43 (Adagio) eine
erschöpfte Coda. Trompeten und Hörner begleiten ppp die Streicher. Die
Solotrompete erweist nochmal die letzte Ehre, und der etwa 25 Minuten
lange Satz endet morendo in ähnlicher Stimmung wie das Finale der
Vierten.
2. Satz: Allegretto.
Das erste der beiden Scherzi hat einen primitiven Charakter. Größer
könnte der Kontrast zum Ende des ersten Satzes nicht sein. Gleich zu
Beginn wird man vom Blech angeblafft. Die Piccolo-Flöte pfeift
primitiv vor sich hin, die Es-Klarinette gesellt sich hinzu. Immer
mehr Instrumente kommen hinzu, die Musik wird
gewalttätig. Primitivität kann gefährlich sein.
3. Satz: Allegro non troppo --
Das toccatenhafte zweite Scherzo ist eine grausame Hetzjagd. Ein
unerbittlicher, unaufhaltsamer Rhythmus schiebt sich durch den
Satz. Schreie der Es-Klarinette und Oboe gehen durch Mark und
Bein. Immer brutaler schiebt sich die Maschinerie vorwärts. Im Trio
dann ein fantastisch-makabrer Tanz der Reiter, auch hier Teile, die
wieder an den Säbeltanz von Katschaturian erinnern. Danach geht die
Maschinerie in extremer Grausamkeit weiter, steigert sich fast bis ins
Unendliche, bis sie in einem gigantischen Ausbruch quasi explodiert
und nahtlos ins Largo übergeht.
4. Satz: Largo --
Der vierte Satz ist eine Passacaglia. Entwickelt sich die Passacaglia
in der "Lady Macbeth von Mzensk" nach Boris' Tod noch zu einem
gigantischen Höhepunkt, ist sie hier durchweg im piano eher ein
Stillstand. Es ist, als schwebe man über blutige Schlachtfelder. Im
Vergleich zur Stimmung des ersten Teils des ersten Satzes scheinen
Gefühlsausbrüche hier nicht mehr möglich, alles ist abgetötet.
5. Satz: Allegretto.
Es schließt sich dann nahtlos das Finale an mit einem fast absurden
Fagottsolo. Die Stimmung dieses Satzes ist "pastoral" (Meyer). In der
Flöte hört man nochmal die primitive Piccolomelodie des zweiten
Satzes. Es kommt nochmal zu einem kurzen Ausbruch des Orchesters in
der Mitte des Satzes. Eine triumphale Apotheose ist das nicht, eher
ein Mahnmal. Danach ein albernes Bassklarinettensolo mit der
Solovioline, danach wieder das Fagott. Die Coda endet dann "morendo"
mehr als Frage denn als Antwort. Wenn man will, kann man einen
Hoffnungsschimmer hineininterpretieren. Man muss es aber nicht.
Schlussbetrachtungen:
Bernd Feuchtner: "Am Ende steht kein Sieg -- denn den gibt es bis
heute nicht --, sondern nur ein Streifen Hoffnung. Schostakowitsch
malte die Trauer und den Schrecken so deutlich, damit sie nie
vergessen, sondern bei jeder Aufführung zum Anstoß würden. Das
Publikum reagierte entsprechend betroffen und begeistert. Die
Bürokratie hingegen prangerte die Achte Sypmphonie als defätistisch
und formalistisch an. Sie wurde kaum mehr aufgeführt, worüber
Schostakowitsch sich sein Leben lang immer wieder vergeblich
beschwerte."
Diese Sinfonie ist das erste Werk, das ich von Schostakowitsch
kennengelernt habe. Sie gehört immer noch zu meinen absoluten
Lieblingssinfonien. Ich bin sicher, neben Schostakowitschs Vierter
zählt sie mehr noch als seine Zehnte zu den größten Sinfonien
überhaupt.
maticus