WEBER: Der Freischütz – Der Wald oder die Menschen?

  • Verhaltenstherapie behandelt die Symptome einer Krankheit, ihre direkten und sichtbaren Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen. Das ist aber nur die Spitze des Eisberg und funktioniert lange nciht bei allen psychischen Krankheiten. Schon gar nciht bei lange zurückliegenden bzw sich über lange zeiträume entwickelnde Psycho-Pathologien. Nicht selten ist zwar ein Symptom verschwunden, wird aber dann bald durch ein anderes ersetzt- was zum Teufelskreis werden kann. (...)
    Ausserdem: die Psychoanalyse im Sinne von Freud hat sich seither entscheidend weiterentwickelt und es ist viel zu kurz gegriffen, die heutigen Strömungen psychoanalytisch gefärbter Therapien auf Sexualneurosen aus der Kindheit zu reduzieren.
    Leider sprengt das diesen Thread- ich wollte es so nur nciht stehen lassen, denn ich stehe der Amerikanisierung und Rentabilisierung in der Psychologie ziemlich skeptisch gegenüber.

    Liebe Fairy,

    eine eingehende Diskussion um die Psychoanalyse sollten wir in diesem Thread tatsächlich nicht führen, ich selber habe mich zwar mal ein wenig damit beschäftigt, bin aber auch kein wirklicher Experte. Du hast sicher recht, dass es Erkrankungen gibt (Psycho-Pathologien), bei denen Psychoanalyse erfolgreich wirken kann. Es gibt aber zahlreiche andere Formen von psychischen Störungen, bei denen auch andere Therapiemethoden viel besser wirken. Ich will keineswegs die Verhaltenstherapie besonders in den Vordergrund stellen, sie ist natürlich nur eine von mehreren Alternativen. Festzuhalten bleibt aber auch, dass die Psychoanalytiker konkurrierende Therapieformen lange Jahre aktiv bekämpft haben, ihrerseits aber selten zu Erfolgskontrollen über die Resultate ihrer eigenen Arbeit bereit waren.

    Meine Bemerkung über den "verengten Blick" bezog sich in der Tat auf die klassische Psychoanalyse, die fast völlig auf das Aufspüren angeblich verdrängter kindlicher Sexualneurosen fixiert war. Inzwischen hat sich, auch das ist richtig, die moderne Psychoanalyse in so viele verschiedene Denkschulen verzweigt, dass die Grenzen zu anderen Modellen und therapeutischen Ansätzen fließend werden. Und das muss ja nicht das Schlechteste sein.

    Andererseits haben die Neu-Psychoanalytiker sich im Bereich der Theorie zumeist in einen akademischen Jargon hineingesteigert, der praktisch nicht mehr verständlich ist (furchterregendstes Beispiel: Jacques Lacan). Und eines muss man Urvater Freud ja zugute halten: Er schrieb ein wunderbar klares und anschauliches Deutsch und konnte einprägsame Bilder und Modelle entwerfen. Diese Sprachkunst hat sicher viel zum damaligen Siegeszug der Psychoanalyse beigetragen. Und ich wage mal die freche These: Autoren wie der hier von Peter traktierte Oberhoff, die in populär gehaltenen Büchern (wie eben ein Opernführer) mit psychoanalytischen Begriffen hantieren, greifen letztlich immer auf die bekannten, orthodoxen Vorstellungen Freuds zurück. Allein schon aus dem Grund, weil vermutlich weder sie selbst noch ihr Publikum die exaltierten Spitzfindigkeiten der neuesten psychoanalytischen Theoreme verstehen :hide:

  • Lieber Local Hero, wir sind uns da gar nciht so uneinig!

    Ich bin beileibe keine Anhängerin Freud'scher Ur-Psychanalyse aber auch kein Fan der Verhaltenstherapie, weil sie in sehr vielen Fällen nicht für sich alleine stehen kann sondern nur Symptome übertüncht, die dann anderweitig wieder auftauchen. Das aber in den wenigsten Fällen eingesteht.

    Wenn das Ganze dann auch noch aus finanziellen Gründen zum Mittel der Wahl wird und nur deshalb von den Krankenkassen finanziert wird, weil sich schnelle Heilung versprochen wird, werde ich wirklich wütend!

    Es gibt heute so viele hochinteressante Therapien mit psychoanalytischem Ansatz, die aber weit von den Freud'schen Schemata entfernt sind und serh viel differenzierter an eine Persönlichkeit herangehen als nur über deren sexuelle Traumatisierungen.

    Dazu müssten wir aber einen eigenen Thread aufmachen, das führt hier einfach zu weit.

    Im Freischütz braucht jedenfalls ännchen gewiss keine Therapie- bei den Anderen...... :D

    Was Lacan angeht, bin ich ganz Deiner Meinung :o: - solche Leute schaden dem Verständnis mehr als sie nutzen,

    Aber wir sollten wirklich mal einen Thread zu Musik und Psychoanalyse oder sowas in der Richtung aufmachen- Opern bieten da ja ien serh reiches Beackerungsfeld....

    Und besser als Herr Oberhoff können wir das sowieso! :yes: 8+)


    F.Q.

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • Aber wir sollten wirklich mal einen Thread zu Musik und Psychoanalyse oder sowas in der Richtung aufmachen- Opern bieten da ja ien serh reiches Beackerungsfeld....

    Und besser als Herr Oberhoff können wir das sowieso! :yes: 8+)

    Liebe Feenkönigin,

    eben da habe ich eine grundsätzliche Frage: Was soll uns denn Psychoanalyse über Opern erzählen können? Soll der Komponist (der Librettist) analysiert werden anhand seinem Werk? Das wäre der eine Ansatz, den man bei Freud findet. Ich halte ihn allerdings für eher fragwürdig, weil dazu einfach zuviele Daten fehlen, die man brauchte. Sollen Figuren und Konfigurationen des Werkes analysiert werden? Dann ist Psychoanalyse ein (schlechter) Ersatz für den Literatur- und/oder Musikwissenschaftler. Sollen Konstellationen gebraucht werden, um eigene psychoanalytische Thesen zu belegen? Das war ein anderer Ansatz bei Freud. Oder soll der Zuhörer/Zuschauer analysiert werden?

    Bei Oberhoff ist es eine Mischung, die nicht immer deutlich macht, wer hier gemeint ist und was beabsichtigt wird: ein Beweis, dass die Analyse mehr weiß als die Akteure, eine Demonstration, wie man Dinge motivieren kann, für die es sinnfälligere Erklärungen gibt. Interessanterweise wird die Musik weitgehend als Stimmungsverstärker genommen. Wo man Affekte ablesen kann, verwurstet man sie für seine Zwecke, aber weitgehend wird - wie so immer bei schlechten Musikanalysen - auf das Libretto reagiert, nicht auf die Musik.

    Eine Psychoanalyse der 1. Sinfonie von Beethoven - das wäre doch etwas :D

    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Lieber Peter,
    Deine Beschreibung der Keilberth-Aufnahme ist wirklich sehr treffend. Das Sängerensemble ist sehr ausgeglichen und hervorragend bis in die Nebenrollen (z.B. Prey als Ottokar). Die Orchesterleistung ist exzellent, wobei natürlich die Transparenz bei C. Kleiber unübertroffen ist (bei dem aber v.a. Schreier als Max ein Schwachpunkt ist). Beide Aufnahmen zusammen sind das, was man m.E. nach vom Freischütz kennen sollte. Vor 11 Jahren durfte ich bei einer Aufführungsserie im Rahmen des Chiemgaufestivals auf Gut Immling im Chor mitwirken. Ich besorgte mir die Keilberth-Aufnahme und begriff endlich, warum Rudolf Schock, den ich vorher als Sänger nicht ernst nahm, zu seiner Zeit ein großer Opernstar war und mutierte vom Saulus zum Paulus. :juhu:

    Gruß,

    scherchen

    "Music is the voice of the all - the divine melody - the cosmic rhythm - the universal harmony." aus Music for all of us (Stokowski, 1943)

  • Eugen Jochum (1959)

    Mit Eugen Jochum haben wir die nächste hochkarätige Aufnahme. Auch hier ist das Dirigat kraftvoll, rhythmisch lebendig. Chor und Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks verwirklichen eine mitreißende musikalische Interpretation. Wie bei jeder exzellenten Interpretation entdeckt man musikalische Feinheiten, die man bei anderen Aufnahmen nicht so gehört hat. Beim näheren Hinhören leider auch das eine oder andere, das einem nicht einleuchtet. Christian Bohm schreibt dazu (Diskussion in drmk)

    Zitat

    Leider missgönnt Jochum ihr [d.i. Agathe] eine furiose Stretta in dieser ersten Arie. Aus unerfindlichen Gründen verlangsamt er das Tempo nach "All meine Pulse schlagen und das Herz wallt ungestüm", so dass an stelle des sich bis zum Schluss steigernden Gefühlsausbruchs ein Gefühl der Leere bleibt, das die Stelle versanden lässt (Das Pendant in der Ouvertüre enthält die Steigerung, die er ihr hier versagt).

    Dabei ist das Dirigat durchaus nicht schlecht. Malt Jochum zu Beginn der Ouvertüre mit breiten Tempi ein gemächliches Waldbild, so wechselt er im Verzweiflungsteil in ein deutlich schnelleres Fahrwasser und bleibt diesem auch weitgehend treu. Dennoch lässt mich das Dirigat meist kalt, was an mehreren unschlüssigen Tempowechseln, und daran liegt, dass dem Orchester der an manchen Stellen einfach der nötige "Biss" fehlt. Als Beispiel sei die Stelle in der Ouvertüre angeführt, in der die Fagotte die helle Jubelmelodie der Klarinette und Flöte ins Düstere ziehen (etwa nach zwei Dritteln). Hier fehlt einfach die Schwärze, der Gegensatz zwischen diesen Stimmen, die den Jubelansatz sofort unterminieren.


    Die Besetzung ist gut. Max wird von Richard Holm gesungen, ist ein lyrischer Max, Kaspar wird hier von einem brillierenden Böhme gesungen. Die Damen sind gut, wenn auch nicht so überragend wie bei den letzten Einspielungen. Rita Streich singt eine nicht so ausgeglichene Partie, Irmgard Seefried hat nicht die magischen Momente einer Elisabeth Grümmer. Insgesamt ist es eine starke Ensembleleistung, die die (auf höchstem Niveau) kleinen, nicht so überzeugenden Stellen gerne vergessen lässt..

    Es grüßt Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Lieber peter,auch wenn das jetzt wieder von den konkreten Einspielungen ablenkt, noch kurz zu Deiner Frage oben wg Psychoanalyse und Oper.

    Was Psychoanalyse über Oper erzählen soll?

    Das kommt auf die Oper an!

    Bei Werken wie etwa Don Giovanni, Don Carlos, Lulu, Salome etc bietet sich eine Deutung des Inhaltes mit Elementen der Psychoanalyse geradezu an.

    Rückschlüsse auf Komponist oder Librettist zu fassen, finde ich dagegen eher schwierig und serh vorsichtig zu handhaben. Dazu muss man shco neien gnaze Menge über die Person wissen udn selbst dann kann man nur einzelne Elemente hypothetisch rückschliessen.

    Man kann z.B. bei Mozart eine gewisse Vater-Sohn Problematik rûckfolgern. Viele Regisseure unserer Zeit bedienen sich psychanalytischer Deutungen, man denke nur an Bieto oder- gemässigter- Konwitschny und Guth.

    Ich empfinde das als sehr fruchtbaren Ansatz, solange er nciht zur dogmatischen Ausschliesslichkeit erhoben wird und mit dem Holzhammer daherkommt. Für die Personenregie ist eine genaue psychologische Durchleuchtung der Charaktere unumgänglich- ob mit viel oder wenig Freud im Hinterkopf.

    Die sexuelle Symbolik des Schiessens im Freischütz habe ich ja im Posting von gestenr morgen schon etwas drastisch erörtert -um wieder auf das Thread-Thema zu kommen.

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • Was Psychoanalyse über Oper erzählen soll?

    Das kommt auf die Oper an!

    Bei Werken wie etwa Don Giovanni, Don Carlos, Lulu, Salome etc bietet sich eine Deutung des Inhaltes mit Elementen der Psychoanalyse geradezu an.

    [...]

    Ich empfinde das als sehr fruchtbaren Ansatz, solange er nciht zur dogmatischen Ausschliesslichkeit erhoben wird und mit dem Holzhammer daherkommt. Für die Personenregie ist eine genaue psychologische Durchleuchtung der Charaktere unumgänglich- ob mit viel oder wenig Freud im Hinterkopf.

    Liebe Feenkönigin,

    eine psychologische Durchdringung der Figuren und der Affekte in der Musik halte ich auch für sehr nutzbringend. Die Tiefenpsychologie neigt leider dazu, alles zu sexualisieren - was als Aspekt im Einzelfall interessant sein kann, aber (ich denke da an Neuenfels' Zauberflöten-Inszenierung, wo aus der Zaubflöte wie bei einem Schüler-Kalauer ein Penis geworden ist) sie kann einer Deutung des Stückes im Wege stehen. Bei Oberhoff werde ich das umgehend nachweisen.

    Was mich stört: Wenn aus vieldimensionalen Charakteren eindimensionale Lehrbuchfiguren werden.Die von der Psychoanalyse aufgedeckten Zusammenhänge mögen ja vorhanden sein, aber sie erklären nicht die komplexen Vorgänge im Stück.

    Deshalb Psychologie ja! Psychoanalyse in dosierter Form ...

    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Da sind wir uns doch ausnahmsweise mal total einig! :D

    Nichts Anderes habe ich gemeint.

    Wenn zum Beispiel beim Freischütz das Gewehr nun als Penis daherkäme würde ich das auch so daneben finden, dass ich die Aufführng nciht mehr geniessen könnte und den Regisseur fûr total gechmacklos halten.

    Wenn aber diskrete Konnotation in der Personenregie mit dem Akt des Schiessens suggeriert werden, ist das schon eine ganz andere Geschichte. Für solche Ideen bzw deren szenische Umsetzung bewundere ich Leute wie Konwitschny oder Guth!


    F.Q.

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • Meine liebe Fairy! :fee: :fee: :fee:

    Geschmacklosigkeiten dürfen doch nicht mit hilfe der Psychologie als gut empfunden werden, da lob ich mir "meinen Freischütz", eh schon wissen wo. :klatsch: :klatsch:

    Es muss doch nicht nur, um der Mode zu gehorchen, daneben inszeniert werden. :thumbdown: :thumbdown:

    Liebe Grüße sendet Dir Peter,mit Handküssen, aus dem heute ziemlich warmen Wien. :wink: :wink:

  • Liebe Fairy, lieber Peter,

    ich zweifle ja immer noch, ob es wirklich etwas bringt, Operngestalten mit Hilfe psychoanalytischer Deutungsmuster zu Leibe rücken zu wollen. Psychologische Durchdringung der Figuren und Affekte in der Musik, wie Peter schreibt: unbedingt! Aber braucht man dazu die Psychoanalyse? Ich verweise nur auf einschlägige Threads hier im Opernforum etwa zu "Madame Butterfly", "Rigoletto" oder "Simone Boccanegra", wo die psychologischen Beziehungen und Dispositionen der Charaktere auf höchst erkenntnisfördernde und spannende Weise von allen Seiten ausgeleuchtet wurden, und zwar ohne dass irgendeiner der Diskussionsteilnehmer auf speziell psychoanalytische Modelle zurückgegriffen hätte. Es geht also bestens ohne! :)

  • ich zweifle ja immer noch, ob es wirklich etwas bringt, Operngestalten mit Hilfe psychoanalytischer Deutungsmuster zu Leibe rücken zu wollen. Psychologische Durchdringung der Figuren und Affekte in der Musik, wie Peter schreibt: unbedingt! Aber braucht man dazu die Psychoanalyse?

    Nein! Ich erlaube mir, eines meiner Lieblingszitate Karl Kraus' anzubringen. Es geht zwar nicht um den Freischütz, paßt aber auch hier, wie ich hoffe:

    Zitat

    Ein Psycholog weiß um die Entstehung des 'Fliegenden Holländers' Bescheid: "aus einer Kinderphantasie Richard Wagners, die dem Größenwunsch des Knaben entsprang, es seinem Vater gleich zu tun, sich an Stelle des Vaters zu setzen, groß zu sein wie er. . . ." Da aber nach den Versicherungen der Psychologen dies der seelische Habitus aller Knaben ist - ganz abgesehen von der erotischen Eifersucht und den Inzestgedanken, die das Kind mit der Muttermilch einsaugt [...] -, so müßte die Psychologie bloß noch die eine Frage beantworten: welche spezifischen Anlagen oder Eindrücke bei Wagner die Entstehung des 'Fliegenden Holländers' vorbereitet haben. Denn Wagner ist von allen Geschlechtsgenossen der einzige, dem die Autorschaft des 'Fliegenden Holländers' zugeschrieben werden kann, während die meisten andern den Größenwunsch, es dem Vater gleich zu tun, eine Karriere als Börseaner, Advokaten, Tramwaykondukteure oder Musikkritiker verdanken, und nur die, die davon geträumt haben, Heroen zu werden, Psychologen geworden sind.
    (Karl Kraus, Nachts. Aphorismen, München/dtv 1968)

    Nach meiner Erfahrung - ich habe es seinerzeit ebenfalls bei Wagner versucht - neigen psychoanalytische Erklärungsversuche bei Kunstwerken zur Beliebigkeit; ich teile da die Skepsis des genialen Wiener Spötters.

    Was den Freischütz angeht: Meine bislang einzige Plattenaufnahme, durch die ich das Werk auch kennengelernt habe, ist die mit Carlos Kleiber. Jetzt habe ich mir, verführt durch diesen Thread, die "romantische" Keilberth-Einspielung bestellt. Neuer Annäherungsversuch...

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Meine Lieben!

    Vielleicht liege ich hier falsch, aber ich möchte bei jeder Oper [auch Operette oder Musical] die womöglich besten Sänger hören, mich an der Musik und dem Gesang erfreuen -

    und bei Gott nicht psychoanalytische Dinge reindenken wollen, da freut mich ja dann das Hören [und in den Opernhäusern] das Hinsehen nicht mehr, auch bin ich kein solcher "Perfektionsmensch", dass ich jede 1/16 Note zähle, und mit Partitur, oder Klavierauszug, mir etwas anhöre, das habe ich lange Jugendjahre machen müssen, und da hätte ich heute keine Freude mehr,

    und ich fühle mich im Wohlklang so wohl, da halte ich es mit Richard Strauss, der einmal einem zu genauen Korrepetitor sagte, da Maria Jeritza einen Ton zu lange anhielt, möglicherweise aus Effekt, lass es der Mitzerl nur machen, ich finde es schön.

    Liebe Grüße sendet Euch Euer Peter aus Wien. :wink: :wink:

  • Bei Oberhoff findet sich in der Einleitung eine Gedanken-Figur, die einem die ernsthafte Kenntnisnahme einer psychoanalytischen Darstellung verleidet. Nachdem der Autor festgestellt hat, dass sich der Mensch der Romantik für die geheimnisvollen Kräfte des Waldes interessiert, zitiert er Experten wie Pahlen, um die nächste Trivialität vorzusetzen:

    Hinsichtlich Webers 'Freischütz' waren sich die Experten von Anfang an darüber im Klaren, dass diese Oper nicht nur äußere Natur malt [!], sondern auch innere Gefühle, Phantasien und Wirkmächte beschreibt. (S. 12)

    Nun gehe ich einmal mutig davon aus, dass man dies von jeder Oper behaupten kann, ob es sich nun um eine von Monteverdi, Händel, Gluck, Mozart oder Salieri handelt. Bei all den angegebenen Komponisten wird man sich auch nicht schwer tun, Darstellungen der äußeren Natur in der Musik aufzufinden. Der Begriff der "Malerei" ist allerdings ein problematischer, auf ihn sei zunächt einmal nicht eingegangen. Weiter Oberhoff:

    Es hat sich allerdings bislang niemand die Mühe gemacht, diese vermuteten Kräfte des Unbewussten einmal genauer zu benennen.

    Hier fängt die Bauernfängerei der Psychoanalyse an. Natürlich wurden die vermuteten Kräfte des Unbewussten benannt, allerdings nicht so, wie es Oberhoff wünscht, er nennt es "genauer":

    Das ist verständlich, denn die Benennung dieser Kräfte zerstört zwangsläufig eine süße Illusion, aus der heraus man diese Oper zu hören pflegt.

    Wenn Freud sich mit Kunst beschäftigte, wollte er durchaus nicht die künstlerische Aneignung des Stoffes zerstören, im Gegenteil ging es ihm um eine Vertiefung des Erlebnisses. Freud machte eben einen Unterschied zwischen einem Patienten, den er analysierte, und einem Kunstwerk, in dem er scheinbar Verborgenes zu Tage förderte. Diese Unterscheidung zwischen Autor (ob nun Kind oder Weber), Figur (etwa Max) und künstlerischer Bewältigung fällt Oberhoff nicht ein.

    Wenn ich hier einmal eine Bemerkung von Freud zu Dostejewski bringe, so um den Unterschied zwischen einer wissenschaftlichen und ästhetischen Fragestellung bei Freud und bei Oberhoff zu verdeutlichen:

    Freuds Miszelle "Dostojewski und die Vatertötung" beginnt:

    Aus der reichen Persönlichkeit Dostojewskis möchte man vier Fassaden unterscheiden: Den Dichter, den Neurotiker, den Ethiker und den Sünder. Wie soll man sich in der verwirrenden Komplikation zurechtfinden?
    Am Dichter ist am wenigsten Zweifel, er hat seinen Platz nicht weit hinter Shakespeare. 'Die Brüder Karamasoff' sind der großartigste Roman, der je geschrieben wurde, die Episode des Großinquisitors eine der Höchstleistungen der Weltliteratur, kaum zu überschätzen. Leider muß die Analyse vor dem Problem des Dichters die Waffen strecken.

    (X,271)

    Diese Unterscheidung, was den Analytiker "angeht" und was nicht, fehlt bei Oberhoff ganz und gar. Da wird das Unbewusste einfach mit der schöpferischen Leistung gleich gesetzt, alles nur auf einen einfachen Mechanismus abgebildet.

    Nun also Oberhoff: Es ist viel angenehmer und beruhigender, abstrakt von 'finstern Mächten' oder vom 'Geisterreich' zu sprechen. Jemand, der diese finstern Mächte beim Namen nennt, wird zwangsläufig zum Spielverderber und muss mit verärgerten Reaktionen der Opernfreunde rechnen. Denn der Genuss dieser Oper besteht ja gerade darin, dass man nicht weiß, was man hier mit so viel Spaß genießt. (alle Zitate S. 12)

    Dem möchte ich geradewegs widersprechen. Ob man das Miterleben der Oper gerade als Spaß (ich zöge da das Wort "Freude" aus verschiedenen Gründen vor) bezeichnen kann, sei dahin gestellt. Der Musikgenuss hat aber - um dem vorzugreifen, was Oberhoff vortragen wird - nicht mit der Verdrängung der Tatsache zu tun, dass es in der Oper um Inzestwünsche gehen soll. Da kommt nun aber die tatsächlich "spaßverderbende" Äußerung:

    Denn nur dejenige, der die in dieser Oper ausgedrückten Triebwünsche und Phantasien aus seinem Bewusstsein ausgeschlossen halten möchte, wird mit diesem Opernführer Schwierigkeiten haben. (S. 13)

    Wie gesagt, da hört bei mir der Spaß auf: Wenn ich der Argumentation nicht folgen kann oder will, so liegt es also an meiner mangelnden Fähigkeit mich mit meinen Inzestwünschen auseinander setzen zu können.

    Damit wird das psychoanalytische System statt aufklärend totalitär: Jede widersprechende Meinung entlarvt nur einen potenziellen Patienten: also "Folge meiner Argumentation oder begebe dich in die Psychiatrie".

    Oberhoff versucht zwar diese Konsequenz abzumildern:

    Wer zu diesen Kräften einen tolerierenden Zugang besitzt, wird mit dem Verlust des Faszinosums zurechtkommen.

    Welchen Zugang soll ich, bitte schön, tolerieren? Die einseitige Sexualisierung des Kunstwerks? Welches Faszinosum sollte mir denn dabei verloren gehen? Das Faszinosum eines asexuellen Kunstwerks? Und was gewinne ich, wenn aus Genialität Genitalität wird? Oberhoff:

    Denn ein tiefgründiges Verstehen des Kunstwerks hält neue Arten der Befriedigung und des Genusses bereit, [...]

    Das glaube ich unbesehen :yes:

    Ein wenig genauer möchte mir nun im folgenden ansehen, was Oberhoff mit musikalischen Strukturen anzufangen weiß.


    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Wie aus den letzten Beiträgen zu lesen ist, ist eine Differenzierung zwsichen Psychoanalyse, Personen -Psychologie und dem, was Oberhoff für Psychoanalyse hält ein entscheidender Punkt.

    Die Plattitüden und nciht einmal populârwissenscahftlcihen Phrasendreschereien dieses genitalfixierten Interpretators haben für mich einen gewissen Unterhaltungswert- mehr nicht.

    Das darf aber nciht als repräsentatives Beispiel fûr eine Textausdeutung aus psychoanalythsicher oder psychologischer Sicht herhalten.

    Peter nimmt ja oben gottseidank selbst den Urvater Freud gegen seinen peinlichen Anhänger in Schutz.

    Freud hat eingestanden, dass seine Theorie der menschlichen Psyche bei Kunstwerken udn deren Mysterium an ihre Grenzen kommt und das war eine serh weise Einsicht!


    Ich bin aber wie gesagt der Meinung, dass (Personen-)Regie in Opern und Theaterstücken sich serh wohl der Erkenntnisse aus einem Jahrhundert Psychologie und Psychoanalyse bedienen darf, soll und manchmal auch muss.

    Wie soll man eine Lulu oder Salomé inszenieren? Wie einen Don Giovanni, Rigoletto oder Don Carlos wenn die Regisseure und Darsteller sich nicht mit Sexualneurosen , Inzesttabus, Odipuskomplexen wenigstens ansatzweise auskennen?

    Ich sehe auch gerade im Freischütz jede Menge Material, das mit guten (und nciht platten!) Inszeneirungen freigelegt werden kann.

    Die Symbolik ist so eindeutig, das niemand daran vorbeigehen kann, der nciht im vorletzten JH stehen geblieben ist.

    Dass die Jungfrau Agathe durch den Probeschuss(allein das wort!) ihres Bräutigams tödlich verwundet wurde, weil dieser sich mit bösen Mächten einliess, dann von guten Mächten gerettet wird aber der bräutigam nun ien Jahr auf die Ehe warten muss- ja geht denn noch deutlicher?

    Wer das alles brav mit "Schützenverein, weissen Täublein und Bierzelt" inszeniert, macht die ganze Oper lächerlich evtl sogar ganz bewusst.

    Mich würde mal interessieren, wie Regisseure von heute das gelöst haben.

    Ich habe den Freischütz bisher nur zweimal gesehen und das hat mir keinen Geschmack auf mehr gemacht, aber mcih interessiert von den Kennern, wie diese Oper heute glaubwürdig auf die Bühne gebracht wird.

    Falls das überhaupt möglich ist ?(

    F.Q.


    F.Q.

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • Nach all dem Vorgeplänkel: Nun muss der Opernführer zeigen, dass er ein Opernführer ist - und da geht es erst einmal um die Musik.

    Leider lässt Oberhoff schon im Klappentext seines Buches durchscheinen, dass er auch da auf die Suche nach dem Unbewussten geht:

    "Bereits die Musik der Ouvertüre macht es offenbar: Es geht um ein Drama mit einer hochexplosiven Mischung aus sexuellen und aggressiven Triebregungen."

    Nun mag man das ja alles wissen, wenn man den Operntext (der bekanntlicherweise schon seine Schwächen hat) in der Art zu analysieren versuchte, wie es Oberhoff getan hat. Bei der Ouvertüre stehen wir allerdings erst einmal einem Musikstück gegenüber, einem weitgehend in der Sonatenform geschriebenen Orchesterstück mit einer Adagio-Einleitung. Die Themen verweisen auf die folgende Oper, sie können über die thematisch verwandten gesungenen Partien "benannt" werden - wenn hier aber ein Psychodrama abliefe, so wäre es doch eines im Komponisten. Dafür gibt aber Oberhoff keinen Anhaltspunkt, immer geht es ihm um die späteren Figuren der Oper:

    "Die Ouvertüre beginnt mit einem in der Tiefe im Pianissimo geheimnisvoll umherwebenden Streicherklang, der bedrohlich an- und wieder abschwillt. Dieses An- und Abschwellen (von Takt 1 auf Takt 2 und von Takt 5 auf Takt 6) geschieht kurz und heftig. Es ist dazu angetan, beim Zuschauer eine gewisse Unruhe aufkommen zu lassen, die man durchaus als Angstlust bezeichnen könnte. Man wartet gespannt auf das, was folgen wird." (S. 15)

    Oberhoff zitiert hier Pahlen, dem er offensichtlich die musikalische Analyse verdankt, ohne ihn anzuführen. Bei Pahlen heißt die Passage:

    "Nach einer achttaktigen Einleitung - mit einem auffallenden Crescendo vom 1. zum 2. und vom 5. zum 6. Takt - weben die Streicher einen milden Klangteppich [...]" (Pahlen, S. 10)

    Es wäre nicht schlecht gewesen, statt in den Pahlen einfach mal in die Partitur zu sehen, da sieht man gleich, wie es sich mit dem "geheimnisvoll umherwebenden Streicherklang" verhält. Es ist ein Unisonoklang von Streichern und den Holzbläsern (ohne die Flöten). Nun mag das Beharren auf einem Ton in Oberhoffs Ohren ja "umherwebend" klingen, auch die fragende Phrase, die folgt, auf die (nun tatsächlich nur) die Streicher antworten. Auch hätte er Pahlen trauen dürfen, der nur von einem Crescendo spricht. Ein Decrescendo (bei Oberhoff "Abschwellen") findet man in den Noten nicht vor. Es folgt auf ein forte nach einer Viertelpause die Antwort eben im piano - nicht mehr und nicht weniger.

    In der offensichtlich von anderem eingenommenen Phantasie Oberhoffs wird daraus ein An- und Abschwellen, das bei ihm eine Angstlust auslöst. Während er lustigerweise da vom Zuhörer sprach, wo es etwas zu schauen gab, spricht er nun vom Zuschauer, wo es nur etwas zu hören gibt. Mehr und mehr kommt bei mir der Eindruck auf, dass es bei all den schon festgestellen Projektionen und Verschiebungen mehr um den Patienten Oberhoff als um den Patienten "Freischütz" geht. Also "kurz und heftig" ist das An- und Abschwellen durchaus nicht, wenn es auch in den Wunschphantasien Oberhoffs so scheinen mag.

    Abert hört eine "große dominantische Frage" der ersten acht Takte, die die Hörnerweise aus einer vieldeutigen Motivik auftauchen lässt. Schnoor (1943) weist auf einer Parallelität zur Bläserfigur beim "Uhui" hin, "rein der psychischen Qualität nach, aber auch im Formenzug gegeben." (S. 146) Lischke ( 1988 ) beschreibt die Stelle folgendermaßen:

    "Schon die Adagio-Einleitung vereint mehrere Gedanken und bildet ein zusammenhängendes Ganzes, dessen Schlichtheit erstaunlich aussagereich wirkt: ein crescendo auf dem anfänglichen C, ein mächtiges Orchesterunisono auf drei Noten, das verschleierte und rätselhafte Rauschen einer absteigenden Linie in den Violinen. Dann beginnt der zweite Abschnitt auf der Dominante, aber das F klingt modal und betont die unzeitliche, schon vom Fehlen jeglicher Harmonie angedeuteten Dimension, die diese Takte heraufbeschwören." (S. 39)

    Lischke bringt das einleitende Adagio in den Zusammenhang mit einem Menschen, der den Wald betritt. Zunächst hat er den Eindruck einer unermesslichen Tiefe, die ihm Angst (nicht Angstlust oder Lustangst!) macht, Dann kann sich ein neues Gefühl behaupten: "dasjenige eines mystischen Friedens, einer religiös gefärbten Träumerei" (S. 41), einer Kommunikation mit "Gott in der Natur".

    Bei Oberhoff finden wir:

    "Die gespannte Unruhe wird erst einmal wieder aufgelöst. Ein ruhiges, Waldduft atmendes Thema, klangvoll von den Hörnern vorgetragen, breitet sich im großen Rund des Theaters aus." (S. 15)

    Wie und warum diese Spannung (von einer Unruhe kann ich in den ersten Takten nichts hören) aufgelöst wird, vermag uns Maestro Oberhoff nicht zu sagen, es steht leider nicht bei Pahlen. Über die Quinte c-g der Streicher kommt im Horn einen Takt später das e, das den Dur-Dreiklang komplettiert - einfach, aber wirksam. Es sind eben nicht nur die Hörner, die die Stimmung dieses Teiles ausmachen, sondern das Zusammen von Hörner und Streicher, von Natur- und Kunstlaut, von Mensch und Natur, könnte man schließen.

    (Dieser Attributismus bei Oberhoff macht mich zunehmend allergisch gegen Attribute, schon wieder nicht "vorgetragen", sondern "klangvoll vorgetragen", kein "Rund des Theaters", sondern ein "großes Rund" usw.)

    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • RE: Eugen Jochum (1959)

    Mit Eugen Jochum haben wir die nächste hochkarätige Aufnahme. Auch hier ist das Dirigat kraftvoll, rhythmisch lebendig. Chor und Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks verwirklichen eine mitreißende musikalische Interpretation. Wie bei jeder exzellenten Interpretation entdeckt man musikalische Feinheiten, die man bei anderen Aufnahmen nicht so gehört hat. Beim näheren Hinhören leider auch das eine oder andere, das einem nicht einleuchtet. Christian Bohm schreibt dazu (Diskussion in drmk)

    Es grüßt Peter

    Am wenigsten leuchten mir bei dieser Aufnahme verschiedene Kürzungen ein. Dass die Dialoge gekürzt wurden, kann ich bei einer Schallplatten-Aufnahme noch nachvollziehen. Warum aber auf das Vorspiel zum 3. Akt und eine der 4 Strophen des Liedes der Brautjungfern (Wir winden dir den Jungfernkranz) verzichtet wurde, erschließt sich mir nicht.

    Gruß
    Froh

    "Give me all you've got, then crescendo!" Leonard Bernstein

  • F.Q., die bisher mit dem Freischütz so gut wie nicht anfangen kann. Kommt vielleicht noch.

    Oder schau Dir diese an:

    In typischer Ruth Berghaus Art, kein volkstümelnder Wald, etc., alles abstrakt. Gerade dadurch wird das Zwischenmenschliche sichtbar, und die Zwänge und Nöte deutlich.

    Zur musikalischen Aufführung kann ich jetzt nichts sagen, ist zu lange her, daß ich es gehört habe.

    Matthias

    "Bei Bachs Musik ist uns zumute, als ob wir dabei wären, wie Gott die Welt schuf." (Friedrich Nietzsche)
    "Heutzutage gilt es schon als Musik, wenn jemand über einem Rhythmus hustet." (Wynton Marsalis)
    "Kennen Sie lustige Musik? Ich nicht." (Franz Schubert)
    "Eine Theateraufführung sollte so intensiv und aufregend sein wie ein Stierkampf." (Calixto Bieito)

  • Zur musikalischen Aufführung kann ich jetzt nichts sagen, ist zu lange her, daß ich es gehört habe.

    Bei mir ist es zwar auch schon recht lange her, dass ich die Aufführung zum letzten Mal gesehen habe, aber mir sind Malin Hartelius und Peter Seiffert besonders positiv in Erinnerung geblieben. Beide sind darstellerisch und musikalisch wirklich großartig und lohnen das Anhören und Ansehen auf jeden Fall. An Nikolaus Harnoncourts Dirigat hingegen habe ich keine wirklich Erinnerung, es wird also wohl eher unauffällig gewesen sein... :hide:

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • Zitat


    Was Psychoanalyse über Oper erzählen soll?

    Das kommt auf die Oper an!

    Bei Werken wie etwa Don Giovanni, Don Carlos, Lulu, Salome etc bietet sich eine Deutung des Inhaltes mit Elementen der Psychoanalyse geradezu an.

    Zitat

    Die Symbolik ist so eindeutig, das niemand daran vorbeigehen kann, der nciht im vorletzten JH stehen geblieben ist.


    OK. Bin ich eben im vorletzten Jahrhundert stehen geblieben… Ich seh' nämlich immer noch nicht, was die Psychoanalyse hier bringen soll. Man kann ja schließlich die Figuren nicht befragen. Jedenfalls nicht mit Aussicht auf Antworten, die nicht im Libretto stehen. Mit anderen Worten: es gibt keine neuen Erkenntnisse, als diejenigen, die das Libretto sowieso schon hergibt. Und besteht Psychoanalyse in ihrer seriösen(!) Form nicht gerade darin, daß aus offenkundigen Umständen eben keine klischeehaften Ursachen und Wirkungen und Lösungen formelmäßig konstruiert werden? Das zu tun wäre nicht einmal Psychoanalyse für Anfänger, das wäre Scharlatanerie. (Die es auf diesem Gebiet zu Hauf gibt…)


    Wenden wir sie doch mal auf die Figuren des Freischütz an, die Psychoanalyse: Was wissen wir z.B. über das Verhältnis von Max zu seinem Vater, zu seiner Mutter? Nichts, die kommen gar nicht vor. Welche Schlüsse lassen sich legitimer Weise demnach aus Verhältnissen ziehen, die man nicht kennt? Kaspar dto. Agathe ist ohnehin nur eine Nebenfigur. Bleibt Ännchen. Die wird immerhin von ihrem Vater (Mutter gibt es wohl keine) zumindest mittelbar als Preis auf ein Wettschießen ausgesetzt. Trifft der Kandidat das gesetzte Ziel, dann bekommt er das Mädel, wenn nicht, bekommt er es eben nicht. Klare Sache. Daraus könnte man zumindest ein etwas getrübtes Verhältnis zum Vater ableiten. Darüber zu philosophieren wäre zwar lohnend, aber leider thematisiert das Libretto das Tochter-Vater-Verhältnis nicht einmal annäherungsweise. Die wechseln die ganze Oper kein einziges Wort, weder miteinander noch übereinander und treffen erst beim Finale auf der Bühne zusammen – ohne miteinander oder übereinander zu reden. Und nun? Was machen wir mit jetzt dem schönen potentiellen Tochter-Vater-Konflikt?


    Oder Maxens Zweifel: Prüfungsangst kennt glaube ich jeder, besonders, wenn es eine Prüfung ist, von der einiges abhängt. Die ist in den allermeisten Fällen situationsbezogen als solche völlig verständlich. Oder waren das bei Euch vielleicht doch Impotenz- und Inzestängste..?


    Dann nehmen wir mal "das" Gewehr: Phallussymbol – trivial.


    Eben: trivial, das wäre genau jene formelhafte Anwendung einer klischeehaften Symbolik, die für die Scharlatane der Psychoanalyse kennzeichnend ist, und alles andere als eine tiefere Analyse. Im Übrigen: Sind nicht Rohre und Büchsen und andere Hohlkörper im Sinne jener Klischees nicht eher Symbole für die weibliche Vagina? (Warum nennt man den Vater einer neugeborenen Tochter im Volksmund "Büchsenmacher")? Ist wohl doch alles nicht so einfach. Androgynie! Vielleicht gibt es da einen verkappten Hermaphrodient? Wen? Ist Max schwul? Welche Rolle weisen wir Kaspar in diesem Zusammenhang zu? Mißbraucht er am Ende gar Max? Oder hat er Ännchen vergewaltigt? Max der Rächer..? Immerhin erschießt er ihn am Ende! Oder ist Ännchen eine Lesbe? Z.B. weil sie sich innerlich dagegen wehrt, an den Erstbesten verschachert zu werden, der den Probeschuß erfolgreich tätigt? Mit Agathe als Partnerin? Die scheint aber eher auf schlanke Burschen zu stehen. Ist letztere also bi? Oder ist sie nur unerreichbares Objekt der Begierde - Ännchens? Und was macht sie im Finale mit all den jungen, schlanken, attraktiven, knackigen Jägern mit ihren Gewehren? Wieso will Ännchen den Jammerlappen Max überhaupt haben? Will sie ihn überhaupt?


    Wie wär's mit der feministischen Variante: die Hochzeit als symbolischer Tod einer selbstbestimmten Frau? Wir denken an die Totenkrone… oder vielleicht noch besser, daß Max mit seinem Schuß Ännchen er"legt"? Dann haben wir noch das Bild, das von der Wand fällt. Immerhin stürzt da ein Mann! Keine Frau! Symbol für das bevorstehende Ende der männlichen Pimmelspiele? Die ersatzweise – weil: das andere wäre ja unzüchtig – mit Gewehren vorliebnehmen? Als Akt der Selbstbefriedigung? (Wir denken an die "Büchse"…) Äh: wieso brauchen wir da überhaupt Gewehre? Massenmasturbation zum Jägerchor! (Johotrallala! Die Schlagzeile wäre gesichert!) Und was ist mit Samiel – das Unbewußte..? Der innere Schweinehund..? Welches Geschlecht hat der eigentlich, und was könnte man daraus machen..? Das WEIB…

    "http://www.kunst-zeiten.de/files/images/v…_die_Suende.jpg"

    Ännchen als Samiel? Dann könnten wir noch irgendwo antiklerikale Tendenzen mit den zerbrochenen Kirchenfenstern einbauen… Oder den abgeschossenen Adler (wir denken an Wappentiere…) als anarchistischen Angriff auf die staatliche Ordnung… Muß nicht am Ende der Repräsentant der weltlichen Gewalt höchstderoselbst dero unwandelbare Gesetze zurücknehmen? Erfolgreiche Revolution…? Wolfsschlucht: die Vorbereitung zum Umsturz? Nix Sex - Politik? Oder beides? Wobei: Jeder Praktiker weiß: Sex sells, sex and crime even more…


    Oder deuten wir den Schuß einfach sprachlich-assoziativ anders? Das ist psychoanalytisch legitim! (Beispiel aus der Analyse-Praxis, aus verläßlicher Quelle: Der Patient hat irgendeinen beunruhigenden Traum, in welchem er Auto fährt, und der Analytiker erklärt ihm, daß "Auto" lateinisch wäre (wir wissen: es ist griechisch…) und "selbst " bedeuten würde, das Auto mithin ein Symbol für das "Ich"…) Also: Siedeln wir das ganze in der Fixerszene an! Die Wolfsschlucht deuten wir dabei einfach in einen unwirtlichen Ort um, der in die Fixerszene passen könnte: wir siedeln sie in der Bahnhofstoilette der Station "Wolfsschlucht" an. Dealer Kaspar hantiert mit Schmelzlöffel und Kerze – weil: er will ja Max zu seinem ersten Schuß verhelfen - und bei der Worten "Weh! Das wilde Heer!" lassen wir eine Horde betrunkener Hooligans über die Bühne toben und die Toilettenwände beschmieren… Ännchen und Agathe beschäftigen sich mit Beschaffungsprostitution ("…da lob' ich mir die jungen und frischen..!) und im Finale fällt Ännchen ins Entzugskoma (weil sie der Schuß eben NICHT trifft) und Kaspar stirbt dafür am goldenen Schuß… Ahja: der Beginn der Oper findet natürlich bei einer lustigen Drogenparty statt, Max stellt sich ein bißchen an, Kuno ist Drogenboß (Bezirk lower Eastside), der Fürst der Mafiachef mit der weißen Weste und Samiel ein Consiliere… noch was vergessen? Doch: "Milch vom Monde trauft aufs Kraut…" Gemeint ist natürlich die "Milch vom Mohne", das ist einfach nur eine Freud'sche Fehlleistung des Librettisten, und was mit dem Kraut gemeint ist, könnt Ihr nun selber erschließen.


    Man sieht: Mit derartigen "Analysen" kommt man sehr schnell via freier Assoziation in Bereiche völliger Beliebigkeit. Man kann's eben auch überstrapazieren. Konstruktion und Spekulation in Reinform.


    Wäre es nicht besser, sich vielleicht zuerst mit der Entstehungsgeschichte des Stückes auseinanderzusetzen? Z.B. mit dem komplett weggefallenen ursprünglichen ersten Akt – den Akt, der auf dringendes Anraten von Frau von Weber aus theaterpraktischen Gründen zur Vermeidung von Langatmigkeit und sehr zum Ärger von Kind im Papierkorb gelandet ist? Dort würde man nämlich eine ganze Latte an Ursachen und zwanglosen Erklärungen für das spätere Treiben der Protagonisten finden – sozusagen als Tiefenanalyse des Librettos, als Ausgraben von Schichten jenseits des Offensichtlichen. Leider gibt es das nur bei DIESER Oper…


    Solange ich auf diese Weise bei der Analyse von Opern oder Theaterstücken (mir fällt da der Giovanni oder der Faust ein) zu völlig entgegensätzlichen Deutungen kommen kann, kann ich mir's schenken… Man müßte sich dann auch die Frage stellen, ob die hohe Stimme bei den Tenorrollen als Symbol für sexuelle Unfähigkeit gedeutet werden müßte (Irgendwas Unbewußtes muß sich der Komponist ja dabei gedacht haben), zumal die Burschen ja fast nie ohne die Hilfe von einem g'sandenen Mann mit Bariton- oder Baß-Stimme an die Mädels überhaupt rankommen...

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Agathe ist ohnehin nur eine Nebenfigur. Bleibt Ännchen. Die wird immerhin von ihrem Vater (Mutter gibt es wohl keine) zumindest mittelbar als Preis auf ein Wettschießen ausgesetzt.

    Lieber Bustopher,

    in Deinem letzten Post sind aber Ännchen und Agathe irgendwie durcheinander gekommen. Das müssen wir jetzt natürlich psychoanalytisch deuten :D :wink:

    Viele Grüße,

    Melanie

    With music I know happiness (Kurtág)

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!