Vaughan Williams: Sinfonie Nr. 5 "Pilgrim's Symphonie" – Ein Interpretationsvergleich

  • Zu Beginn der Sinfonie gibt es eine Basslinie, ein Hornsignal und ein Melodiefragment in den Violinen. Das klingt auf den ersten Blick – besser gesagt: auf den ersten Hörer – recht niedlich. Aber: Die Basslinie und die darüber liegenden Hornsignale und Melodiefragmente stehen in verschiedenen Tonarten! Die Basslinie wird mehr oder weniger monoton durch den gesamten Satz durchgezogen (durchaus mit motivischen Änderungen in späteren Satzteilen), als sei sie unabhängig vom sonstigen Geschehen. Die Musik scheint sich gleichzeitig auf zwei voneinander recht unabhängigen Ebenen abzuspielen, die tonal kaum zusammenpassen. Noch dazu ist die obere Ebene von Pentatonik und Kirchentonarten durchsetzt.


    Lieber Falstaff,
    das erinnert mich aber an Musik der frankoflämischen Renaissance in der Generation nach Ockeghem (nämlich Polyphonie mit Stimmen, die in unterschiedlichen Kirchentonarten gesetzt sind).
    Vaughan-Williams werden die alten Meister ja auch bekannt gewesen sein.
    Das ist vielleicht eher eine Art von Klassizismus als etwas verblüffend Neuartiges.
    In jedem Falle aber ist es wunderschön.
    :)

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Lieber Falstaff,
    das erinnert mich aber an Musik der frankoflämischen Renaissance in der Generation nach Ockeghem (nämlich Polyphonie mit Stimmen, die in unterschiedlichen Kirchentonarten gesetzt sind).
    Vaughan-Williams werden die alten Meister ja auch bekannt gewesen sein.
    Das ist vielleicht eher eine Art von Klassizismus als etwas verblüffend Neuartiges.
    In jedem Falle aber ist es wunderschön.
    :)


    Ich kenne die Musik der Rennaissence zu wenig, um hier etwas fundiertes beitragen zu können. Für meine Ohren klingt einiges jedoch danach. Auch davon abgesehen wäre ich bei dieser Sinfonie kaum auf die Idee gekommen, dass man in ihr verblüffend Neuartiges finden kann.

    Falstaff

  • Beginnen werde ich in Kürze mit dem Hauptstück der Symphonie, der Romanza.

    Lieber Roi,

    was heißt denn in Kürze? :D Ich warte da schon seit Monaten sehnsüchtig drauf...

    LG
    C.

    „Beim Minigolf lernte ich, wie man mit Anstand verliert.“ (Element of Crime)

  • Langweilig? Ähh?

    Die 5. ist ein absolutes Meisterwerk.
    Wer es als Restverwertung betrachtet mag es tun. Raymond Chandlers wesentliche Werke waren Resteverwertungen und Kompilationen aus bereits veröffentlichten Kurzgeschichten.
    Ich gebe zu, dass der 3. Satz arg dicht am Wasser gebaut ist und da bin ich auch dann hemmungslos.
    Doch die Spannung, die der 1. Satz erzeugt, gepaart mit dem 3. Satz ist mir das gesamte Werk wert.
    Meine Lieblingsaufnahme ist die mit Andre Previn, gefolgt von der Proms 2012 Aufnahme unter Andrew Manze, dem das Kunststück gelingt, drei disparate Werke von Vaughan-Williams an einem Abend aufzuführen und alle dabei GLÄNZEND! (4, 5 und 6).
    Ich habe auch Barbirolli aus den 40igern! Sehr gut. Aber die Tontechnik, die Tontechnik....
    Gruß aus Kiel

    "Mann, Mann, Mann, hier ist was los!"

    (Schäffer)

  • Die 5. ist ein absolutes Meisterwerk.

    Volle Zustimmung!

    Ich habe auch Barbirolli aus den 40igern! Sehr gut. Aber die Tontechnik, die Tontechnik....

    Vielleicht können die RVW-Experten unter uns (ich selbst bin eher RVW-Gelegenheitshörer) sagen, ob die Uraufführung vom 24. Juni 1943 (London Philharmonic Orchestra unter der Leitung des Komponisten) mitgeschnitten wurde. Falls nein, dürfte es sich bei Sir John Barbirollis Studioaufnahme mit dem Hallé Orchestra vom 17. März 1944 mit ziemlicher Sicherheit um die allererste Einspielung des Werks handeln - gerade einmal knapp 9 Monate nach der Uraufführung entstanden, also ohne auf irgendeine Aufführungstradition zurückgreifen zu können. Möglicherweise war diese Studioproduktion sogar erst die zweite Aufführung der Sinfonie überhaupt. Hinzu kommt, dass Barbirolli erst 1943 nach Manchester gekommen war und das Hallé Orchestra übernommen hat, welches im Übrigen zu jenem Zeitpunkt mehr oder weniger am Boden lag und nur noch über 30 Musiker verfügte. Orchester und Dirigent kannten sich also auch noch nicht gut. Wenn man all das bedenkt und sich dann die atmosphärisch unglaublich dichte 1944er Barbirolli-Einspielung anhört, kann ich nur sagen: WOW!!! :juhu: :juhu: :juhu: :juhu:

    Wer neugierig auf Barbirolli 1944 geworden ist: es gibt diese Aufnahme für einen Spottpreis in folgender 10 CD-Box zu kaufen

    Die von Wulf in Posting #17 erwähnte spätere EMI-Einspielung Barbirollis mit dem Philharmonia Orchestra steht ebenfalls in einer preisgünstigen 10 CD-Box zur Verfügung

    Ich kenne diese EMI-Aufnahme leider noch nicht, habe aber mal den Bestellfinger betätigt.

    Da auch ich gern mal DDD-Qualität höre (wenngleich ich aus interpretatorischen Gründen doch letztlich immer wieder zu meinen alten Monoschätzen zurückkehre), habe ich mir übrigens vor einiger Zeit diese Leonard Slatkin-CD mit dem Philharmonia Orchestra

    angeschafft (die Aufnahmen entstanden im April 1990). Klangqualität vom Allerfeinsten. Macht wirklich Spaß, diese von Slatkin entfachte Klangpracht, die einem da aus den Boxen entgegenschallt (das gilt auch für die 6. Sinfonie).

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • ob die Uraufführung vom 24. Juni 1943 (London Philharmonic Orchestra unter der Leitung des Komponisten) mitgeschnitten wurde. Falls nein, dürfte es sich bei Sir John Barbirollis Studioaufnahme mit dem Hallé Orchestra vom 17. März 1944 mit ziemlicher Sicherheit um die allererste Einspielung des Werks handeln -

    Lieber music lover,

    die frühe Barbirolli-Aufnahme ist in der Tat die erste Aufnahme des Werkes. Einen Mitschnitt der UA gibt es nicht.
    Als nächstes folgt ein Live-Mitschnitt mit dem Boston Symphony Orchestra unter Koussevitzky vom 04.02.1947, der hier erhältlich ist:

    Ich kenne ihn allerdings nicht.

    Auf Platz drei der frühesten Aufnahmen liegt schließlich ein Konzertmitschnitt von den Proms unter der Leitung des Komponisten, der am 03.09.1952 entstand. Selbigen habe ich heute früh zufälligerweise bestellt. :D

    :wink: Agravain

  • Vielleicht ist die Fünfte meine liebste unter den Symphonien Vaughan Williams. Sie regt mich am meisten an, hörend über sie nachzudenken und mich zu fragen, welchen Gehalt sie transportieren könnte. Darum hier einige mäandernde Gedanken (quasi ein work-in-progress ;+) ), die – man muss ja bisweilen darauf hinweisen – niemand teilen muss. Aber vielleicht regen sie den ein oder anderen an. Ansonsten muss ab dieser Stelle nicht weitergelesen werden. :D

    Geht es nach VW, dann transportiert diese Symphonie überhaupt keinen Gehalt. Sie bezieht sich, trotz der verschiedenen thematischen Verbindungen weder auf das Bunyan-Projekt, zu dem sich das musikalische Material nicht verdichten wollte, noch bezieht sich auch nicht auf den sich nahenden Krieg, weil die Komposition – so argumentiert beispielsweise Saremba – ja schon 1938 begonnen wurde. Beides glaube ich – diese Freiheit nehme ich mir angesichts dessen, was ich hier höre, schlicht - nicht.

    Ich glaube nicht, dass Vaughan Williams quasi versehentlich ein Bunyan-Zitat („Upon this place stood a cross, and a little below a sepulcre. Then he said: ‘He hath given me rest by his sorrow, and life by his death.”) über den dritten Satz des Werkes (“Romanza”) notiert hat. Dass er es nicht in die Druckversion der Partitur übernommen hat, bedeutet aus meiner Perspektive nicht zwangsläufig, dass es keinerlei Zusammenhang geben kann/darf. Vielleicht ging es ihm schlicht darum, dass Teile des Werkes oder das Werk in seiner Gesamtheit nicht auf diese Textstelle reduziert werden sollten. Wie werden es nicht erfahren.

    Der Kontext indes lag mE durch die musikalischen Übernahmen unweigerlich in der Luft. Der Kontext, das ist die Oper „The Pilgrim’s Progress“, mit der Vaughan Williams über Jahre rang (s. des Rois Ausführungen o.), eine Oper, die Vaughan Williams als „Morality“, also als Moralität (= morality play) verstanden wissen wollte, als ein Spiel, das zeigt, wie der Protagonist des Spiels nach der Begegnung mit allerhand Versuchungen dennoch ein tugendhaftes und gottesfürchtiges Leben wählt.

    In Kombination hiermit scheint mir der Entstehungszeitpunkt der Symphonie gerade eine wichtige Rolle zu spielen. Ich kann dem an sich zuverlässigen Saremba nicht zustimmen, der im VW-Kapitel seines Buches zur englischen Musik schreibt:

    „Doch die außermusikalischen Deutungen, […], ließen unberücksichtigt, dass VW bereits […] 1938 mit der 5. Sinfonie begonnen hatte, also noch bevor sich durch die Bedrohung, die vom faschistischen Deutschland ausging, ein Krieg abzeichnete und bevor man die Auswirkungen der neuesten Waffentechnologie zu spüren begann.“

    Es zeichnete sich ’38 kein Krieg ab? Anschluss Österreichs? Anschluss des Sudetenlandes? Münchner Abkommen? Appeasement-Politik Großbritanniens, um unter allen Umständen einen Krieg zu verhindern. Nur, weil Chamberlain meinte „Peace in our time!“ ausrufen zu können und zu müssen, so hieß es doch nicht, dass der Krieg nicht geradezu greifbar in der Luft hing – und zwar überall in Europa.

    1943 dirigiert Vaughan Williams dann die Uraufführung seiner Fünften in einem London, das die Schrecken von „The Blitz“ erlebt hatte und er dirigierte ein Werk, das mir, wenn schon nicht religiös (VWs Verhältnis zur Religion ist ein solch problematisches, dass ich es hier weder ausbreiten kann und will), dann aber doch ethisch motiviert zu sein scheint. Doch das Werk ist mE nicht, wie Saremba schreibt, das Abbild einer „herbeigesehnten friedvollen Vision einer glücklicheren Welt“, auch wenn Adrian Boult seinen Eindruck einst ähnlich beschrieb („Vaughan Williams, like all great aritists, is a prophet […] And when Europe was plunging into war, Vaughan Williams was looking ahead to the world we hoped would emerge […].“ Boult on Music. London 1983, S. 63 f.). Sicher, auch mir scheint die Symphonie ein Kind ihrer Zeit zu sein, ein Reflex des (britischen?) Wunsches nach einem (tugendhaften, nach einem „anständigen“) Leben ohne einen weiteren Krieg – ganz so wie er von Königs George V formuliert wurde:

    „I will not have another war. I will not! The last one was none of my doing and if there is another one and we are threatened with being brought into it, I will go to Trafalgar Square and wave a red flag myself sooner than allow this country to be brought in.”

    Hierzu passt mE auch, dass in der Romanze beispielsweise jene Stelle aus dem „Pilgrim’s Progress“ aufgegriffen wird, an der der Pilgrim ausruft: „Save me Lord! My burden is greater than I can bear.“ Auch die Tatsache, dass es im letzten Satz thematische Verbindungen zur „Dona nobis pacem“ Vertonung VWs gibt, und zwar zu jener Stellen, wo es heißt: „Nation shall not lift up sword against nation“ und „Open to me the gates of righteousness“, sollte man beim Nachdenken über das Werk berücksichtigen. Außerdem muss man sich fragen, warum VW an verschiedenen Stellen des Werkes auf seinen hymn tune „Sine nomine“ Bezug nimmt, der den Text der hymn „For all the Saints“ vertont, in dem sich u.a. folgende Strophen finden:

    7. O may Thy soldiers, faithful, true and bold,
    Fight as the saints who nobly fought of old,
    And win with them the victor’s crown of gold.
    Alleluia, Alleluia!

    8. And when the strife is fierce, the warfare long,
    Steals on the ear the distant triumph song,
    And hearts are brave, again, and arms are strong.
    Alleluia, Alleluia!

    9. The golden evening brightens in the west;
    Soon, soon to faithful warriors comes their rest;
    Sweet is the calm of paradise the blessed.
    Alleluia, Alleluia!


    Ebenfalls interessant ist, warum im letzten Satz auf einmal der Choral „All Creatures of our God and King“ eine Rolle spielt, in dem man die folgende Strophe findet:

    And all ye men of tender heart,
    Forgiving others, take your part,
    O sing ye! Alleluia!
    Ye who long pain and sorrow bear,
    Praise God and on Him cast your care!

    Aber vielleicht ist Zusammenkunft dieser Elemente in diesem Werk nur purer Zufall.

    Wenn es wiederum kein Zufall sein sollte, dann glaube ich bei aller Begeisterung für die Stilisierung des Künstlers zum Propheten nicht, dass VW ernsthaft das Bild eines „post-war-idyll“(vgl. Boult) entwerfen wollte. Vielmehr wird hier – wenn überhaupt – ein Appell formuliert, der dazu auffordert, sich besserer vergangener Tage zu erinnern, den Blick in eine Zeit vor den beiden Kriegen zu richten, in Richtung eines lange verlorenen Idylls, das es nicht mehr gab und so nie mehr geben würde (Philip Larkin formulierte es 1964 in seinem Gedicht „MCMXIV“ noch einmal für die gesamte Nation: „Never such innocence again.“), dessen „morality“ aber eventuell wieder als Orientierungswert für die unmittelbare Gegenwart dienen könne.

    Dies korrespondiert mE dann auch musikalisch mit dem altertümlichen Ton dieser Symphonie (John Alexander Maitland: "One is never quite sure whether one is listening to something very old or very new"), der zweifellos von Vaughan Williams intensiver Beschäftigung mit der Musik der (englischen) Renaissance und dem englischen Kirchenlied (1906 war von ihm das "English Hymnal" herausgegeben worden) zeugt. Dass der hier Ton gewordene Wunsch nach einer zumindest ideellen Wiederkehr idyllischerer Zeiten in letzter Instanz schlicht utopisch ist, verschweigt Vaughan Williams aber nicht, kann doch der Schönklang das stetige Gären der Gegenwart nicht wirklich und vollständig unter seiner Oberfläche verbergen. Schlussendlich fällt die Symphonie in ihren letzten Takten auch noch auf sich selbst zurück (Themen des Kopfsatzes brechen in den Schlusssatz), das Werk führt nirgendwohin, eröffnet also keine Zukunft, sondern endet mit dem Blick zurück. Doch das Idyll einer ethisch intakten Vergangenheit, hier repräsentiert durch die altertümliche Form der Passacaglia, hat tatsächlich - das scheint zumindest mir so - keine echt Tragfähigkeit mehr: sie bricht nach wenigen Minuten ab. Konsequent folgt die Auflösung der Musik im Äther. Die Symphonie entpuppt sich mE als eine (eher melancholische?) Meditation über das „Was wäre, wenn…“.
    Was dann wirklich war, das zeigt (wenn man denn so will) die sechste Symphonie.

    :wink: Agravain

  • Vor einiger Zeit habe ich angefangen meine Aufnahmen der fünften Symphonie von Ralph Vaughan Williams mit dem Auge in der Partitur durchzuhören. Es ist nicht alle am Markt erhältlichen, einige durchaus populäre, ja vielleicht sogar wichtige sind nicht dabei, sodass mir „die“ Aufnahme des Werkes durchaus entgangen sein kann. Eine Reihe der Aufnahmen wurde auch weiter oben schon genannt.
    Dennoch möchte ich kurz und in knapper Übersicht wenige meiner Eindrücke zu jenen schildern, die ich gehört habe. Es waren die folgenden, die ich – für Freunde der Statistik – mit ihren Spielzeiten angebe:


    [Blockierte Grafik: http://ecx.images-amazon.com/images/I/41WuHAQ03oL._AA300_.jpg]

    Vaughan Williams (1952) - 11:58 / 05:04 / 10:13 / 10:02
    Boult (1969) - 11:31 / 05:13 / 10:53 / 09:55
    Rozhdestvensky (1979) – 11:47 / 05:15 / 11:52 / 10:46
    Handley (1986) – 12:00 / 05:09 / 11:33 / 10:34
    Davis, A. (1993) – 12:39 / 05:00 / 12:47 / 10:28
    Haitink (1994) – 12:38 / 05:33 / 13:29 / 11:36
    Norrington (1996) – 12:17 / 04:38 / 11:07 / 09:55
    Boyd (2012) – 12:02 / 04:47 / 11:41 / 10:35

    I. Preludio

    Der erste Satz, das Preludio, beginnt unmittelbar mit einem charakteristischen Hornruf im Piano, der in den oben genannten Aufnahmen schon sehr unterschiedlich angegangen wird. So ist Vaughan Williams’ Piano deutlich lauter als beispielsweise Haitinks oder Davis’. Bei den letzteren beiden wird das Motiv fließend, gewissermaßen auf einer Ebene (die punktierte Achtel wird quasi abschattiert) gespielt, der Rhythmus tritt in den Hintergrund. Vaughan Williams selbst macht das nicht, auch Boyd nicht. Stattdessen betonen beide die Achtel sogar recht deutlich. Das hat dann schon einen recht weltlichen „Ruf“-Charakter, wohingegen sich das bei Handley und Haitink und auch Norrington schon eher ätherisch, nicht ganz von dieser Welt anhört. Bei diesen treten die Violinen mit einem lichten Schein hinzu, Boyd holt hier eher einen fahl-gleißenden Ton heraus. Boult, dessen EMI-Aufnahme mir insgesamt am wenigsten interessant erscheint (die ältere Boult-Aufnahme soll wesentlich eindringlicher sein), klingt schon hier belanglos. Überhaupt kann ich mich ür diese Aufnahme kaum erwärmen.
    Im Verlauf des Satzes wird beim vergleichenden Hören deutlich dass Handley insgesamt dazu neigt, deutlich lauter als notiert spielen zu lassen. Schon beim Eintritt des nächsten wichtigen Motivs bei Ziffer 1 kann man bei ihm kaum von einem Mezzoforte sprechen. Auch Rozhdestvensky liefert ein deutliches Forte. Will man eine genaue Staffelung der einzelnen dynamischen Hinweise hören, so muss man zu Norrington greifen, der diesen Bereich vorbildlich umsetzt. Selbst Boyd, der sich mE an Norringtons Interpretation orientiert, ist lässt im Verlauf des Satzes oft deutlich lauter als vorgegeben spielen (z.B. Ziffer 5 ff.). Davis hingegen nimmt die Lautstärke oft zurück, schrammt aber mE bisweilen hart am Kitsch vorbei, da er oft deutliches Portamento und ein Quäntchen zu viel Vibrato in den Streichern zulässt (z.B. 3 nach Ziff. 5). Haitink, dessen Interpretation des Satzes mich am meisten anspricht entwickelt insgesamt den vollsten Klang, weich, oft sonnig, ohne den Lautstärkehahn aufzudrehen. Er entwickelt Klangkraft durch Fülle nicht durch Druck, hat ein untrügliches Händchen für den Fluss des Werkes. Nirgends hören sich Crescendi und Decrescendi organischer an. Der Allegro-Teil des Satzes (5 vor Ziff. 7) stellt sich auch recht unterschiedlich dar. Vaughan Williams selbst, Rozhdestvensky, Davis und Norrington nehmen zügig Fahrt auf, Handley und Haitinks Übergang zum Allegro ist einigermaßen gemäßigt. Hier nun zeigt Boyd, dass er auch weiß, was Piano bedeutet. Der Verlauf des Abschnitts gestaltet sich bei Vaughan Williams ausgesprochen erregt, Davis und Haitink halten das Drängen zurück und bauen deutlich zum fff-Ausbruch hin auf. Boyd klingt sehr nervös Rozhdestvenskys Gangart ist einigermaßen vehement. Der Aufbau zum eigentlichen Höhepunkt des Satzes beginnt ab Ziffer 12 und es ist Haitink, der mich hier erneut am meisten überzeugt, weil seine Erfahrung mit den großen Spätromantikern mir hier dafür zu sorgen scheint, dass die Klimax des Satzes, die 1 vor Ziff. 14 erreicht wird, von geradezu Brucknerscher Größe und Klangmacht zugt, und zwar ohne ins Kitschige abzurutschen (wie Davis 7 vor 14) oder sonderbar zu verpuffen (Rozhdestvensky). Auch die Rückkehr zur Ausgangsstimmung gelingt Haitink mE am eindringlichsten (man höre sein wunderbar körpervolles Piano bei Ziff. 15), obwohl auch Vaughan Williams und Rozhdestvensky hier ausgesprochen hörenswert sind.

    II. Scherzo

    „Presto misterioso“ – sehr schnell und geheimnisvoll, so soll der Satz laut Vaughan Williams klingen. Es ist ein spukhaft dahinhuschender Satz, den Vaughan Williams in seiner Aufnahme mit einem so hohen Grundpuls wie nur wenige der späteren Interpreten angeht. Insbesondere Handley scheint wenig Spaß am Satz zu haben. Da klingt viel sehr gemütlich, Freude an der rhythmischen Erregtheit des Satzes hat er nicht. Erst gegen Ende (Ziffer 20) dreht er einmal auf, wobei es dann auch schnell sehr grell und knallig klingt. Boyds Einspielung ist hier ebenso eindrucksvoll wie die Norringtons. Beide sind sehr schnell, sehr spukhaft, sehr am rhythmischen und dynamischen Spiel des Satzes interessiert, wobei Boyd ab und an deutlich aggressivere Akzente setzt (Holz bei Ziff. 2). Davis und Rozhdestvensky spielen den Satz ohne sonderlich individuell zu interpretieren. Haitink lässt streckenweise so erdverbunden spielen (z.B. Ziff. 4), dass nicht selten (wenn auch von Ferne) Brucknersche Scherzi grüßen. Boult fällt gegen alle anderen ab.

    III. Romanza

    Dies ist mE nicht nur der Kern des Werkes, sondern eines der berückendsten Stücke, die Vaughan Williams überhaupt komponiert hat. Keiner der oben genannten Interpreten musiziert mE wirklich am Satz vorbei, wobei Boult schon sehr nüchtern an die Sache herangeht und den dem Satz innewohnenden Zauber nicht so recht beschwören kann (oder will?). Obwohl Handley sicher den schönsten Klang des Englischhorns zur Verfügung hat (schöner kann man den ersten Einsatz mE kaum spielen), so ist auch hier neben vielem Schönen doch wieder vieles zu laut für meinen Geschmack. Er badet mir durchweg etwas zu stark in einem glänzend-fettigen Klang, der an sich nicht vorgesehen zu sein scheint, aber auch – ich kann es nicht leugnen - einen gewissen Reiz hat.
    Sehr eindringlich gelingt streckenweise Norringtons Wiedergabe des Satzes, der auch hier größtmögliche Zurückhaltung übt, immer Wert auf ein spannungsvolles Piano legt und sehr fließend musizieren lässt. Lediglich die Dialoge zwischen Oboe und Englischhorn sind von einer eigentümlicher Hektik und Nervosität geprägt, die aus dem lichten Gesamtbild völlig herausfällt. Das macht Boyd für meinen Geschmack schon besser, wobei er schnell dazu neigt zu laut zu werden. Gegen Ende (11 nach Ziff. 7) klingt es sehr unorganisch, nicht nach Wechselspiel der Instrumentengruppen, sondern nach Gegenüberstellung von Klangblöcken. Der Höhepunkt kurz nach Ziffer 10 klingt bei ihm vielleicht am ehesten nach Soundtrack, der Abgesang kann dann auch einen Hang des Dirigenten zum Kitsch nicht verleugnen, ein Problem, das sich auch in Davis’ an sich sehr gelungenen Wiedergabe einstellt. Vaughan Williams geht schlicht an diesen Satz. Bisweilen beachtet er seine eigenen dynamischen Notierungen nicht (lauter) und ist sehr vorsichtig, was die Herausschälung von Höhepunkten angeht. Wo Handley zur Opulenz neigt, da fehlt Vaughan Williams hier und da der Mut zum Auskosten des Wohlklangs der eigenen Komposition.
    Mein Favorit ist auch hier – der Leser wird mittlerweile eine Tendenz ausmachen können - Haitink. Allein wie die Streicher zu Beginn aus dem Off hervorleuchten, dann der melancholische Einsatz des Englischhorns, das großartige Legato, die Ruhe und Tiefe des Gefühls, das Gespür für die Architektonik des Satzes, das Ohr für den lyrischen Ton, die Unaufgeregtheit und Sicherheit in der Vorbereitung der Höhepunkte und die Verklärung der letzten Töne – für mich macht Haitink hier alles richtig, verinnerlichter kann man das mE nicht musizieren.

    IV. Passacaglia

    Der letzte Satz zeigt mE Handley mit den Schwächen, die auch schon die vorherigen drei Sätze bestimmt haben. Wenig Freude am Rhythmischen, bisweilen zu fett, aber dann noch wieder mit echtem Sinn für Momente, beispielsweise beim deutlichen Stimmungswechsel 4 vor Ziffer 9 der ihm mindestens ebenso gut gelingt wie Haitink, der bei eigentlich allen anderen aber ausnahmslos seltsam beiläufig erscheint. Boyd und Norrington hingegen haben sichtlich Freude am Rhythmus, wobei Boyd mE einige eigentümliche Entscheidungen bei der Gestaltungen der Horn- und Klarinettensoli trifft. Rozhdestvensky gelingt 5 vor Ziff. 5 der Stimmungswechsel hin zum renaissanceartig aufsteigenden Hymnus am eindringlichsten. Der Abgesang des Satzes, der sich wie eine große Auflösung gestaltet, gelingt eigentlich allen Dirigenten klangschön, aber doch unterschiedlich intensiv. Handley, Haitink und Rozhdestvensky beweisen mE am meisten Sinn für den Ton dieser Musik und den Mut, eben diesen auszukosten. Vaughan Williams selbst ist das deutlich vorsichtiger, Davis ebenso und Boult wirkt auf mich unbeteiligt.

    :wink: Agravain

  • Alexander Gibson mit der Sinfonie Nr.5

    Alexander Gibson wurde bisher noch nicht mit seiner ausgezeichneten Interpretation der Sinfonie Nr.5 genannt.

    :thumbup: Heute war ich absolut überwältigt von Alexander Gibsons hochkarätiger Aufnahme mit dem Royal PO. Er gehört zu denen, die "Sinn für den Ton dieser Musik und den Mut haben, eben diesen auszukosten": :angel: Besonders eindrucksvoll im eingebungsvollen 3.Satz Romanza.
    Sehr gut fand ich auch die etwas zügigeren Spielzeiten im 1. und 2.Satz, die mich hier ganz besonders zu fesseln vermochten:
    Sinfonie Nr.5 = 11:36 - 4:54 - 12:31 - 10:11

    Die Gibson-Aufnahme der 5ten findet sich (für mich zunächst nur rein zufällig) auf der von Johannes empfohlenen EMI-Doppel-CD der Sinfonie Nr. 4 und 6 mit Paavo Berglund, die auch der Grund für den Kauf war:

    EMI, 1967-1982 (Sinf.Nr.5), ADD/DDD

    :spock: Eine ganz grosse Aufnahme, die diese EMI-Doppel-CD noch einmal mehr kaufwürdig macht.

    ______________

    Gruß aus Bonn

    Wolfgang

  • Klarinettist Michael Collins drängt es auch zunehmend ans Dirigentenpult und er hat sich für sein CD Debüt Vaughan Williams' 5. Symphonie ausgewählt.

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Dank idagio konnte ich die Aufnahme heute morgen noch hören und sie hat mir so gut gefallen, dass ich sie beim Einklang gleich mitgenommen habe als ich heute mittag dort vorbei kam.
    Ein zweiter Hördurchgang bestätigte den positiven Höreindruck. Das ist eine wundervolle Aufnahme dieser schönen Symphonie, eine die mich berührt hat wie bisher keine, die ich kenne. Ein wunderbarer warmer Orchesterklang mit sehr schön gespielten Soli, das Philharmonia Orchestra in Bestform und eine Aufnahme, die auch technisch nichts zu wünschen übrig lässt.
    Offenkundig hat sich Collins für seine erste CD als Dirigent ein Werk ausgesucht, das ihm besonders am Herzen liegt. Man glaubt es jedenfalls zu hören.

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Diese Aufnahme war auch dort kürzlich mal kurz im Gespräch: Eben gehört.

    Selbst kann ich es nicht beurteilen; ich kenne lediglich die Haitink-Aufnahme, mit der ich sehr glücklich bin.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Diese Aufnahme war auch dort kürzlich mal kurz im Gespräch: Eben gehört.

    Selbst kann ich es nicht beurteilen; ich kenne lediglich die Haitink-Aufnahme, mit der ich sehr glücklich bin.

    :wink:

    Dafür finde ich deine Anmerkungen zur Previn-Aufnahme, die ich gerade höre (die Aufnahme, nicht die Anmerkungen), auf der ersten Seite dieses Threads aber sehr treffend! ;)

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • Dafür finde ich deine Anmerkungen zur Previn-Aufnahme, die ich gerade höre (die Aufnahme, nicht die Anmerkungen), auf der ersten Seite dieses Threads aber sehr treffend! ;)

    Dank Dir! :) Du meinst # 14? Huch, das ist ja schon 12 Jahre her! RVW ist gerade ganz weit weg für mich, aber das werde ich sicher mal wieder ändern. Schön, daß Du mich dazu anregst!

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Dafür finde ich deine Anmerkungen zur Previn-Aufnahme, die ich gerade höre (die Aufnahme, nicht die Anmerkungen), auf der ersten Seite dieses Threads aber sehr treffend! ;)

    Dank Dir! :) Du meinst # 14? Huch, das ist ja schon 12 Jahre her! RVW ist gerade ganz weit weg für mich, aber das werde ich sicher mal wieder ändern. Schön, daß Du mich dazu anregst!

    :wink:

    Ja, ganz genau! Ich höre die Symphonie gerade und habe deshalb im Katalog gesucht, ob es hier nicht einen Thread zu ihr gibt. Und da ich auch die Komplettbox mit dem London Symphony Orchestra habe, ist mir dein Beitrag #14 beim Durchscrollen besonders ins Auge gefallen, ohne dass ich auf die Jahreszahl geachtet hätte. Die Aufnahme lief im Hintergrund, ich habe deine Anmerkungen gelesen ("arbeitet die Strömungen transparent heraus, niemals Klangbrei, sondern deutlich ausbalanciert und fein abgestuft. Aber auch nicht eben analytisch, sondern warm und einfühlsam") und gedacht: Ja, genau so ist es! :)

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

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