Schubert / Wilhelm Müller: Die Winterreise - Wenn der Boden entzogen ist... eine Annäherung
Liebe Cappricci,
nur eines vorweg:
Wenn ich die Fülle dieses Stoffes Revue passieren lassen, sind hier wirklich nur Annäherungen möglich. Die
Literatur- und MusikwissenschaftlerInnen unter euch mögen es mir verzeihen, dass ich mir naheliegende Ausgangspunkte wähle: Das Erfassen des psychologischen Aspekte sowie gesellschaftlichen Hintergründe und deren Verarbeitung in Text und Musik und nicht zuletzt die Frage nach der gegenwärtigen Rezeption.
Wichtig ist es mir auch, auf den Dichter einzugehen. Ganz vergessen ist er nicht; immerhin ist ein Nachwuchs
– Literaturpreis ihm gewidmet, aber die Bekanntheit seiner heute noch weitgehend populären Zeitgenossen hat er nicht.
Dichter und Komponist haben in der Tat zeitlich parallel gelebt und hatten eine sehr traurige Gemeinsamkeit. Sie starben fast gleich jung. Das dürfte aber schon, von den biografischen Daten her gesehen (vielleicht noch abgesehen davon, dass beide eher bescheidene Lebensstandards vom Einkommen her hatten) fast das einzige gewesen sein.
Müller war revolutionär eingestellt, ein Gesellschaftskritiker, der zuweilen mit Verbrämungen seiner
Texte in harmlosere Gewänder die Zensur umgehen musste; eine immanente Notwendigkeit, die wohl auch den Winterreise – Zyklus teilweise in dieser Richtung entschärft haben dürfte.
Schubert war nach Quellenlage wohl anders gestrickt;
ein genialer, aber labiler Künstler, ein Mensch, der umständebedingt neben
seiner umfangreichen Kompositionstätigkeit viel mit sich selbst zu tun gehabt
hat. Gesellschaftskritisches dürfte ihn allenfalls unterschwellig bewegt haben.
Dennoch fanden diese beiden unterschiedlichen Geister, die sich persönlich nie
kennengelernt haben sollen, in der Kombination Literatur und Musik zusammen in
einem Werk, das durchaus zum Weltkulturerbe gehört.
Die „Winterreise“ – ein Werk für altbackene Wohnsalons zu Ergötzung älterer Jahrgänge über die schönen
blumigen alten Zeiten?
Dies kann nicht ausgeschlossen werden, denn jede Publikumsklientel entscheidet für sich darüber,
was von der Botschaft des Zyklus ankommen soll. Die Problematik eines nur zahlenmäßig kleinen Kreises der Interessierten kennen wir zum Thema Liederabend nur zu gut, jedoch wird speziell auch aus anderen Genres (Filmkunst z. B.) die Aktualität des Stoffes erkannt. Es gibt z. B. eine leider mir (noch) nicht
bekannte Verfilmung, deren hochkarätige Besetzung (u.a. Hanna Schygulla) erahnen lässt, dass es sich lohnen dürfte den Film zu sehen.
Aber auch in der klassischen Liedkonzertform ist es nicht zwingend, dass nur die Assoziation mit dem frühen
19. Jhndt. geweckt wird. Wer sich die Geschichten in Männerwohnheimen, Bahnhofsmissionen sozialen Teeküchen und auch auf der Straße anhört, erkennt den gleichen Grundverlauf, die gleichen Ursachen, auch wenn in der heutigen Demokratie kaum jemand mehr zugibt, einen Menschen zurückgewiesen zu haben,
weil der sozial nicht passt.
Die Sprache des 19. Jahrhunderts, auch die der Revolutionäre, kommt uns heute „vornehmer“, ungebräuchlicher vor, aber der wenig vornehme, sondern eher bittere Inhalt passt zu nicht wenigen
gegenwärtigen Schicksalen.
Das sollen nun zunächst dieeinleitenden Eröffnungsgedanken sein. Ich gehe davon aus, dass die Thematik
auch in Capriccio Resonanz findet. Ich werde dann in hoffentlich nicht allzu großen Abständen Beiträge zu den einzelnen Liedern im Detail liefern, versuchend, die Stationen dieses fundamentalen Zusammenbruchs einer inneren und äußeren Existenz und deren Ausdruck in den 24 Liedern zu analysieren.
Liebe Grüße
Ulrica