Schubert / Wilhelm Müller: Die Winterreise - Wenn der Boden entzogen ist... eine Annäherung

  • Schubert / Wilhelm Müller: Die Winterreise - Wenn der Boden entzogen ist... eine Annäherung

    Liebe Cappricci,


    nur eines vorweg:

    Wenn ich die Fülle dieses Stoffes Revue passieren lassen, sind hier wirklich nur Annäherungen möglich. Die
    Literatur- und MusikwissenschaftlerInnen unter euch mögen es mir verzeihen, dass ich mir naheliegende Ausgangspunkte wähle: Das Erfassen des psychologischen Aspekte sowie gesellschaftlichen Hintergründe und deren Verarbeitung in Text und Musik und nicht zuletzt die Frage nach der gegenwärtigen Rezeption.

    Wichtig ist es mir auch, auf den Dichter einzugehen. Ganz vergessen ist er nicht; immerhin ist ein Nachwuchs
    – Literaturpreis ihm gewidmet, aber die Bekanntheit seiner heute noch weitgehend populären Zeitgenossen hat er nicht.

    Dichter und Komponist haben in der Tat zeitlich parallel gelebt und hatten eine sehr traurige Gemeinsamkeit. Sie starben fast gleich jung. Das dürfte aber schon, von den biografischen Daten her gesehen (vielleicht noch abgesehen davon, dass beide eher bescheidene Lebensstandards vom Einkommen her hatten) fast das einzige gewesen sein.

    Müller war revolutionär eingestellt, ein Gesellschaftskritiker, der zuweilen mit Verbrämungen seiner
    Texte in harmlosere Gewänder die Zensur umgehen musste; eine immanente Notwendigkeit, die wohl auch den Winterreise – Zyklus teilweise in dieser Richtung entschärft haben dürfte.

    Schubert war nach Quellenlage wohl anders gestrickt;
    ein genialer, aber labiler Künstler, ein Mensch, der umständebedingt neben
    seiner umfangreichen Kompositionstätigkeit viel mit sich selbst zu tun gehabt
    hat. Gesellschaftskritisches dürfte ihn allenfalls unterschwellig bewegt haben.
    Dennoch fanden diese beiden unterschiedlichen Geister, die sich persönlich nie
    kennengelernt haben sollen, in der Kombination Literatur und Musik zusammen in
    einem Werk, das durchaus zum Weltkulturerbe gehört.

    Die „Winterreise“ – ein Werk für altbackene Wohnsalons zu Ergötzung älterer Jahrgänge über die schönen
    blumigen alten Zeiten?

    Dies kann nicht ausgeschlossen werden, denn jede Publikumsklientel entscheidet für sich darüber,
    was von der Botschaft des Zyklus ankommen soll. Die Problematik eines nur zahlenmäßig kleinen Kreises der Interessierten kennen wir zum Thema Liederabend nur zu gut, jedoch wird speziell auch aus anderen Genres (Filmkunst z. B.) die Aktualität des Stoffes erkannt. Es gibt z. B. eine leider mir (noch) nicht
    bekannte Verfilmung, deren hochkarätige Besetzung (u.a. Hanna Schygulla) erahnen lässt, dass es sich lohnen dürfte den Film zu sehen.

    Aber auch in der klassischen Liedkonzertform ist es nicht zwingend, dass nur die Assoziation mit dem frühen
    19. Jhndt. geweckt wird. Wer sich die Geschichten in Männerwohnheimen, Bahnhofsmissionen sozialen Teeküchen und auch auf der Straße anhört, erkennt den gleichen Grundverlauf, die gleichen Ursachen, auch wenn in der heutigen Demokratie kaum jemand mehr zugibt, einen Menschen zurückgewiesen zu haben,
    weil der sozial nicht passt.

    Die Sprache des 19. Jahrhunderts, auch die der Revolutionäre, kommt uns heute „vornehmer“, ungebräuchlicher vor, aber der wenig vornehme, sondern eher bittere Inhalt passt zu nicht wenigen
    gegenwärtigen Schicksalen.

    Das sollen nun zunächst dieeinleitenden Eröffnungsgedanken sein. Ich gehe davon aus, dass die Thematik
    auch in Capriccio Resonanz findet. Ich werde dann in hoffentlich nicht allzu großen Abständen Beiträge zu den einzelnen Liedern im Detail liefern, versuchend, die Stationen dieses fundamentalen Zusammenbruchs einer inneren und äußeren Existenz und deren Ausdruck in den 24 Liedern zu analysieren.


    Liebe Grüße
    :wink:

    Ulrica

    Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren (Bert Brecht)

    ACHTUNG, hier spricht Käpt´n Niveau: WIR SINKEN!! :murg: (Postkartenspruch)

  • Liebe Ulrica nun haben wir gleich zwei der grossen Liedzyklen hier in Capriccio zur Diskussion gestellt und damit auch zu Beginn unsrer Capriccio-Laufbahn zwei der wegweisenden deutschen Liedkomponisten im Blickwinkel: Franz Schubert und Robert Schumann.

    Wäre es dann nicht auch interessant, im Verlaufe der Diskussion, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden unglücklich Liebenden dem Winterreisenden und dem Dichter herauszuarbeiten?

    Sollten wir dazu einen eigenen Thread aufmachen?


    Ersteinmal finde ich Deinen sozialkritischen und gegenwartsbeozogenen Ansatz sehr spannend.

    Winterreisende unserer Zeit- ja denen begegne ich auch in der Psychiatrie(und nciht nur da!) oft und vielleich war ansatzweise jeder von uns auch mal ein Solcher. Wie auch jeder vielleciht jeder von uns mal ein Dichterliebender war.

    Das macht diese Werke so identifikationsträchtig und uber alle Zeiten und Generationen(und Länder!) hinweg gültig und tief bewegend.


    Ich freue mich sehr, dass wir beiden Frauen mit diesen grossen angeblichen Männer-Zyklen hier das Kunstliedforum beginnen.

    F.Q. :wink:

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • Ein Hinweis:
    Der Film "Winterreise" läuft am 31. Mai um 23.25 in der ARD.

    Darsteller: Josef Bierbichler Sibel Kekilli Philipp Hochmair Anna Schudt Johann von Bülow Hanna Schygulla André Hennicke
    Regie: Hans Steinbichler. D 2006


    :wink: Talestri

    One word is sufficient. But if one cannot find it?

    Virginia Woolf, Jacob's Room

  • Lieber talestri,

    herzlichen Dank für den Hinweis.

    Typisch, so etwas kommt immer ganz spät, aber angesichts des kommenden Feiertages ist es machbar.

    :wink:

    Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren (Bert Brecht)

    ACHTUNG, hier spricht Käpt´n Niveau: WIR SINKEN!! :murg: (Postkartenspruch)

  • das 1. Lied: Gute Nacht: Knall auf Fall vor die Tür gesetzt!

    Auch der durch Irrationalitäten begleitete Niedergang kann nicht ganz ohne Logik erfolgen, und nach dieser muss am Anfang der Auslöser stehen.

    Ich betone, der Auslöser, denn der weitere Verlauf zeigt ja, dass davon unabhängige Prozesse in gang
    gesetzt werden.

    Ob diese Prozesse nun vollends auf die mentale Konstitution, oder populär gesagt, auf die Psyche des jungen Menschen, dem dies alles widerfahren ist, zurückzuführen ist oder auf sozialisierende
    und gesellschaftliche Einflüsse, darüber streiten die Geister seit mindestens
    200 Jahren. Wahrscheinlich stehen alle Aspekte in Wechselwirkung zueinander.

    Es wird zuweilen spekuliert, ob nun der Vater der Geliebten seine Zustimmung zur ja offensichtlich schon in
    Aussicht stehenden Vermählung verweigert hat oder das Mädchen nichts mehr von
    ihm wissen wollte. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die erste Variante zutrifft.

    Die Geschichten um arrangierte Ehen mit ungeliebten Partnern und die Ablehnung geliebter Partner
    unter Stand sind ja ein zentraler Themenbereich der Romantik als Bewegung. Die
    jungen Leute lehnten sich auf gegen die Einflussnahme der Eltern und hingen dem
    Ideal der Heirat aus Liebe an.

    Hierum dürfte es dem Revolutionär Müller (damals ideologisch eher bürgerlich – liberal als neuer
    Denkrichtung, die sich zunächst mit den gleichen RECHTEN Armer und Reicher und
    weniger mit den ökonomischen Ungleichheiten befasste) wohl noch mehr gegangen
    sein, als um individuelle psychische Abgründe und das Frönen der Melancholie.

    An der Oberfläche befasst sich der Text mit der äußeren Dynamik
    des Geschehens. Der fremde Jüngling gewinnt zunächst sogar die Sympathie der
    Mutter seines Mädchen und kann sich Hoffnung machen auf die Erfüllung seiner
    Liebe und auch auf eine geregelte Lebenssituation, bis der Vater ihn,
    offensichtlich völlig aus heiterem Himmel mit der Begründung, er sei nicht gut
    genug für seine Tochter, in einer Winternacht auf die Straße setzt.

    Es deutet auch nichts darauf hin, dass er sich eventuell nicht korrekt benommen hat o. ä., denn es ist
    deutlich zu erkennen, dass er sich auch keiner Schuld bewusst ist. Ergo: Eine
    grobe Ungerechtigkeit ist geschehen, eine Kränkung tiefsten Ausmaßes.

    Das Lied legt nun, m. E. in genialer Weise sowohl in Text als auch Musik die widerstreitenden Gefühle des
    Ausgeschlossenen dar, das dringende Verlangen, eine schnelle Lösung zu suchen,
    eine sofortige Entscheidung über die innere (und notgedrungen auch äußere) Verarbeitungsstrategie zu treffen; ein Unterfangen, dass nicht gelingen kann. Es geht Schlag auf Schlag immer wieder in andere
    Richtungen, während er ziellos durch den Schnee stapft und letztlich sich zur
    geschriebenen Nachricht an die „Zwangs – Ex“, in der Hoffnung, sie möge es
    sehen und vielleicht irgendwie selbst initiativ werden (ausbrechen?). Aber:„Gute
    Nacht“, eine leise Vorahnung des kommenden Stillstandes in der Seele?

    Er analysiert auch. War er doch immer fremd, auch wenn er eine hoffnungsvolle Zeit hatte. Nun muss er wieder suchen, irgendwo hin ziehen, ungewollt nomadisieren.


    Er sucht die Marschrichtung, wird dabei zunächst zornig, will den
    Staub von den Füßen schütteln. Eine Richtung, die ihn vielleicht vor dem Absturz
    bewahrt hätte, aber dass er nicht dabei bleibt, verrät schon sein Ausflug ins generalisierende
    Philosophieren: Die Liebe liebt (eben) das Wandern, das ist halt so (gottgegeben).
    Die Idee, gute Nacht zu sagen, also den – gefährlichen – Blick zurück tun, keimt
    langsam auf. Er setzt sie um, der verstand kommt zum Einsatz, zunächst erleichternd,
    weil er eine Planung erdacht hat.

    LG


    :wink:

    Ulrica

    Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren (Bert Brecht)

    ACHTUNG, hier spricht Käpt´n Niveau: WIR SINKEN!! :murg: (Postkartenspruch)

  • „Gute Nacht“: Musikalisch – interpretatorische Anmerkungen:

    Zunächst ein Link zu Text:

    "http://www.recmusic.org/lieder/assembl…?SongCycleId=47"


    Die Winterreise ist neben der Originaltonart noch in drei Transponierungen herausgegeben worden, was
    natürlich mit den verschiedenen Stimmlagen zu tun hat. Erforderlich ist aber
    dabei, dass die jeweiligen Tonarten des Gesamtzyklus zusammenpassen, dass die
    Transponierungen in sich so aufeinander abgestimmt sind, dass der musikalische
    Sinnzusammenhang identisch bleibt.

    Trotzdem ändern sich Liedcharaktere im Detail. Gute Nacht ist
    original in D – Moll gesetzt. Ich singe es in der tiefsten Transponierung, in A
    – Moll, eine verwandte Tonart, die vom Charakter dem Original am ähnlichsten
    ist. In Korrelation mit dem zweiten Lied wird die Folge umgedreht: Im Original
    geht es hier nach A – Moll, in „meiner“ Transponierung nach D – Moll.

    Die erste Strophe schildert das Geschehen, ist aber bereits voller musikalischer Symbolik. Der damalige
    Einzug war optimistisch, der junge Mann erdet sich in der absteigenden Linie. Der
    Auszug stellt sich durch eine ebensolche dar, aber die tiefste Stelle ist nun
    voll Traurigkeit.

    „Das Mädchen sprach von Liebe, die Mutter gar von Eh´“:
    Hier sind die unterschiedlichen Sichtweisen der beiden Generationen deutlich zu interpretieren:
    Das Glücksgefühl der Jugend ohne Netz und doppelten Boden und der
    Stabilitätswunsch des mittleren Alters werden gegenübergestellt durch die
    sanfte, zarte Wiedergabe des ersten Halbsatzes und einen herberen Ausdruck des zweiten. Die Wiederholung steigert das Ganze noch in die Richtung, dass die Aussicht schon sehr real
    gewesen sein muss.

    Aber nun: Nix war´ s außer blödem Schnee, kalte Füße, klirrende Nacht,
    das Allerletzte! Jedoch in Wiederholung, packt ihn neben der Wut gleich wieder
    die trübe Resignation. Die dynamische Abstufung
    verläuft nach der kräftigen Erstaussage leise – depressiv in der
    Wiederholung.

    In der zweiten Strophe wird er sich des entzogenen emotionalen und wohl auch existenziellen Bodens voll
    bewusst. Eine Orientierung ist zu suchen, aber wie? Deutlich tritt die
    landschaftliche Umgebung visuell vor dem Zuhörer auf, ich möchte fast behaupten,
    obwohl das ganze Lied ja so aufgebaut ist, hier ist der gehende Achtelnoten – Grundrhythmus
    am deutlichsten merkbar. Stapf – stapf – trampel – trampel und der Mondenschatten
    unerbittlich nebenher. Das Klavier übernimmt unmittelbar das Phrasenende des
    Gesangs und bereitet diesen auf das neue vor. Der Schockzustand wird hier
    dargestellt im „unnatürlichen“ Licht.

    Nicht nur in der Landschaft ist der Mondenschatten eine diffuse Angelegenheit. Er spiegelt die Seele nach
    außen wieder. Nun kommt langsam die Wut auf, die Suche nach des Wildes Tritt
    macht sauer. Der Gesang deutet es bereits an, aber das Zwischenspiel leitet
    dies erst im Übergang zur dritten Strophe durch eine kleine Modulation ein.

    Für die kurze Zeit der dritten Strophe entsteht aus der Trauer eine Wut, verbunden mit der wichtigen
    Aussage: Ich bin auch wer! Ich lasse doch am besten den Staub hinter meinen
    Füßen zurück! Ein belebender Entscheidungsansatz, der Beginn der Strophe ist Forte
    und feurig. Doch er bekommt damit die Schwermut nicht los. Es beginnt so eine
    Art inneres Schwadronieren über die Welt und den Charakter der Beziehungen
    allgemein. Die Liebe liebt das Wandern,
    Gott hat sie so gemacht..: Das sagt er nun leise für sich, gespickt mit
    bitterer Ironie, auch m. E. gegen die Geliebte. Dann bleib doch, wo du bist und
    schlafe weiter im warmen Bett, während ich friere. So weit war es dann wohl
    nicht her mit der Liebe!

    Auch diese Stelle wird textgleich wiederholt, aber nun ist sie anders zu interpretieren: Der Blick zurück leitet
    sich ein, die Idee zum Handeln, ein strategisches Handeln, das von der Emotion
    getragen ist, aber ihr nicht nachgibt. Diese Wiederholung wird nun sehr nüchtern interpretiert.

    In der vierten Strophe passiert nun Entscheidendes: Die Tonart ändert sich in Dur. Eine Zwischenlösung
    ist gefunden, die Angelegenheit ist nun vom Bauch in den Kopf gewandert. Er
    will die Frau zurückgewinnen mit einem Plan. Er schleicht sich an, und hinterlässt
    seinen Zettel. Er ist eine kurze Weile voller Optimismus, dass dies klappen
    könnte, bis ganz am Ende die Rückmodulation und (einzige) Verlangsamung des Metrums
    Zweifel andeuten.

    Der Einsatz zur vierten Strophe verlangt dem Sänger in relativ hoher Lage einen extrem leisen Einsatz ab
    und ein stringentes Legato trotz der immer gleichbleibenden spröden
    Intervallsprünge, m. E. mustergültig umgesetzt von DiFi. Der Sänger muss sich
    von dem Achteltrab lösen und in Viertel denken (nicht nur in der vierten Strophe).

    Wir erfahren in der Fortsetzung sehr bald, was aus diesem „Plan“ wird….
    :?: :wink:

    Ulrica
    PS: Es handelt sich um das längste Lied der Winterreise, daher wohl eine lange Ausführung. Dies wird sich sicher für die Fortsetzung verkürzen. :angel:

    Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren (Bert Brecht)

    ACHTUNG, hier spricht Käpt´n Niveau: WIR SINKEN!! :murg: (Postkartenspruch)

  • Liebe Ulrica,

    nur erst einmal kurz vorweg: Ich freue mich sehr, dass Du Dich der „Winterreise“ angenommen hast! Ich kann kaum in Worte fassen, wie sehr ich diesen Lied-Zyklus liebe! Es gab eine Zeit, da habe ich jeden Abend eine meiner Aufnahmen gehört. Inzwischen haben sich bei mir 13 Stück angesammelt – allein 9 davon mit Fischer-Dieskau. :love:

    Ich hoffe, ich kann im Laufe der Zeit etwas beitragen zu Deinem schönen Thread.

    Gruß, Cosima

  • Liebe Ulrica,

    der Thread ist ja noch nicht so weit gediehen, aber ich muss das eben loswerden, weil es mich immer wieder überwältigt. :juhu: Seh es mir also bitte nach! – Ich höre gerade in die 1955-er Aufnahme mit Fischer-Dieskau / Moore rein.

    Beeindruckend – ach was: himmlisch, umwerfend, zutiefst berührend… wie auch immer – ist z. B. wie Fischer-Dieskau in „Frühlingstraum“ die Verquickung von Illusion und Realität hörbar macht. In seinem „Ihr lacht wohl über den Träumer…“ klingen Trotz, Verachtung und gleichzeitig Verbitterung, Angst und Resignation an. Ich weiß nicht, wie oft ich allein diese kleine Textzeile immer wieder in Folge gehört habe. Die Schubertsche Anmut tanzt hier tatsächlich am Rande des Abgrunds, wobei vor allem die Zerbrechlichkeit in Fischer-Dieskaus Stimme diesen Eindruck verstärkt. Was für eine enorme Ausdrucksvielfalt, das ist ganz große Kunst! :juhu: :juhu: :juhu:

    Gruß, Cosima

  • Winterreise

    Hallo Ulrica,

    mit deinem Beitrag zum wohl tiefgängigsten Liederzyklus deutscher Sprache hast du ein weites Tor aufgestossen.

    Mich würde interessieren, welche Singstimmen die für dieses Werk geeignetsten angesehen werden. Ich besitze Tenor- und Baritonaufnahmen, doch auch Bässe und Sopran- und tiefere Frauenstimmen werden angeboten. Welche Stimme vermittelt die größte Authentizität? :wink:

    Grüsse von Sotka

  • Hallo Ulrica,

    auch ich danke für die Eröffnung dieses Threads.
    Ich bin seit Jahren ein großer Liebhaber der Winterreise und besitze
    da auch einige Aufnahmen dieses Werks.

    Die mir liebste, seit ihrem Erscheinen ist die Aufnahme mit
    Matthias Goerne (Bariton) und Alfred Brendel. (Live in der Wigmore Hall)
    Als ich diese zum ersten Mal hörte saß ich wie gebannt vor den
    Lautsprechern und war fasziniert von soviel Ausdrucks- und Gestaltungskraft.

    Ich besitze auch die Aufnahmen mit Christine Schäfer (Sopran), Christa Ludwig (Mezzo) und
    Brigitte Fassbaender (Mezzo), bin aber der Meinung das eine tiefe Stimme den Zyklus am
    besten zur Geltung bringt.

    Viele Grüsse,

    HollaD

  • Liebe Ulrica,

    ich will zunächst an deine Einleitung zu Wilhelm Müller anknüpfen, der in der Restaurationsperiode tatsächlich als revolutionärer Demokrat Verfolgung und Zensur ausgesetzt war. Er kam später zu dem Beinahmen "Griechenmüller", weil er es hielt, wie spätere radikale Linke auch: Nach der Enttäuschung darüber, dass die "Befreiungskriege" in die mit dem Wiener Kongreß eingeleitete Restaurationsphase überging, war er unablässig darum bemüht, die bessere Zukunft erst einmal woanders zu suchen und für den Befreiungskampf der Griechen zu werben.

    Die "Winterreise", jedenfalls der Gedichtzyklus Müllers, ist auch als Double-Talk lesbar und wurde von Zeitgenossen auch durchaus noch so aufgefaßt, wie z. B. von Heine, der sich durch Müllers Zyklus selbsterklärtermaßen zu seinem "Deutschland - Ein Wintermärchen" anregen ließ. Dabei ist die doppelte Codierung zwar sicherlich zensurbedingt gewesen, Müllers Lösung aber durchaus für sich kunstvoll. Insofern ist natürlich die Leseweise der "Winterreise" als Flucht des enttäuschten, eine konkrete Person Liebenden völlig in Ordnung und auch selbst gar nicht ganz unpolitisch: Du hast auf die Hoffnung der Romantiker auf die "romantische Liebe" im Gegensatz zur arrangierten Standesehe hingewiesen.

    Ebenso bezieht sich die enttäuschte Liebe aber auch auf das deutsche Volk selbst, die den Liebenden in Flucht, Verzweiflung und Tod treibt. Das hier offenbleibt, ob es die Geliebte selbst oder "die Alten" sind, die diese verweifelte Flucht erzwingen, erscheint mir in diesem Zusammenhang als bewußtes Kunstmittel. Denn jedenfalls bleibt die Geliebte wohl doch fügsam bei den autoritären "Alten".

    Durch die Schubertsche Komposition rückte diese politische Seite wohl etwas in Vergessenheit. Aber nicht ganz. So gab es eine illegale Aufführung durch jüdische Künstler in Theresienstadt.

    Der DDR-Komponist Reiner Bredemeyer hat in seiner Neukomposition des Müllerschen Zyklus gezeigt, dass auch eine unmittelbarer politische Lesart des Müllerschen Zyklus funktionieren kann. Dabei versetzte er die Winterreise implizit in die lethargisch ihrem Untergang entgegensteuernde DDR der 80´ er Jahre. Bredemeyers Komposition steht m.E. Schuberts Meisterwerk kaum nach. Aber ich möchte hier nur darauf hinweisen. Dieses Werk hat seinen eigenen Thread verdient.

    Abschließend, ich halte Müllers Gedichtzyklus übrigens selbst, auch für sich betrachtet, für richtig gut und keineswegs zweitklassig, wie häufig zu lesen ist.


    :wink: Matthias

  • Geeignete Stimmlage

    Liebe Sotka und HollaD,

    in dieser Frage bin ich äußerst parteiisch, denn ich wage mich an den Zyklus überhaupt nur, weil ich eine tiefe Stimme habe.

    In alle hier genannten Aufnahmen habe ich zumindest hineingehört, möchte dies aber in Verbindung mit der eigenen Arbeit daran nicht allzusehr ausweiten, da es nicht ratsam ist, sich zu sehr an Aufnahmen zu orientieren. Ich verlasse mich hier weitgehend auf meinen Interpretationslehrer und Pianisten, der optimale Erfahrung mit dem Zyklus besitzt.

    Was die Männer betrifft, so ist nach meinem Dafürhalten - auch wenn ich ihn in vielen anderen Interpretationen kritisch sehe (z. B. im Opernbereich) - Fischer - Dieskau maßstabsetzend. Ich fasse diesen Zyklus auch sehr von seiner inhaltlich - intelektuellen Seite auf (was hier trotz meiner vorherigen Bedenken dazu den Gesang nicht beeinträchtigt, dazu hat Schubert zu gut geschrieben). Trotzdem, wahrscheinlich weil es ursprünglich für Männer geschrieben ist, sind m. E. alle drei Männerlagen geeignet (einen schwarzen Bass habe ich allerdings auch noch nicht gehört). Der Tenor bringt sehr viel Larmoyanz zum Ausdruck und die Baritone unterstreichen die Düsternis.

    Auch die drei Frauenbeispiele kenne ich. Christine Schäfers Stimme ist m. E. am wenigsten geeignet. Sie gibt sich durchaus Mühe, aber kommt nicht wirklich in den Liedern an. Es wirkt aufgesetzt und die helle Stimme erfasst die Stimmung einfach nicht. Ein dunkler gefärbter, reifer Sopran kann hier vielleicht mehr erreichen, aber die hohe Frauenlage finde ich problematisch.

    Die beiden Mezzi werden der Sache durchaus gerecht, sie klingen jedenfalls angedunkelt genug. In der ganz tiefen Lage, die ich gewählt habe, fehlt mir der Vergleich gänzlich. Ich würde hierzu gerne eine Aufnahme finden. Mein eigenes Gefühl dabei ist sehr stimmig. Ob das dann auch herauskommt, wird sich allerdings zeigen müssen.

    LG
    :wink:
    Ulrica

    Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren (Bert Brecht)

    ACHTUNG, hier spricht Käpt´n Niveau: WIR SINKEN!! :murg: (Postkartenspruch)

  • Hallo Ulrica,

    mit deiner Einschätzung von Christine Schäfer gehe ich d'accord.

    Eine Aufnahme mit einem Bass gibt es wohl, mit Josef Greindl und Hertha Klust,
    ist mir aber nur vom Hörensagen bekannt. Wäre sicherlich mal
    interessant zu hören, allein zum Vergleich.

    Gruß, HollaD

  • Hallo Ulrica,

    nimm's mir nicht übel, aber genau solche Transpositionen sind es, die mich bei fast allen Aufführungen bzw. Aufnahmen der Winterreise stören: Wenn Du die Tonartenfolge der beiden ersten Lieder einfach umdrehst, veränderst Du die Dramaturgie des Anfangs und entfernst im Vorspiel des zweiten Liedes die Anspielung an das erste. Im Einzelnen: Bei der originalen Folge d-moll--a-moll beginnt das zweite Lied mit dem aufsteigenden Quartsextakkord im Vorspiel einen Ton über dem Grundton des ersten, was die Energie und den Schwung dieses Beginns unterstreicht. Bei Deiner Folge beginnt dieser arpeggierte Akkord auf dem Grundton des ersten Liedes, was sehr viel entspannter wirkt. Im Original sind im zweiten Lied die Spitzentöne (f und e) des Vorspiels identisch mit dem Beginn des ersten Liedes, in Deiner Folge nicht (der erste der beiden Töne, also das b, ist sogar in a-moll leiterfremd). Überhaupt versteckt sich in diesem Vorspiel fast die ganze absteigende Linie des ersten Liedes: Nach f-e im ersten Takt folgen a-f-e-d in den beiden nächsten Takten, zusammengenommen also bis auf das d der komplette Beginn des ersten Liedes. Bei Deiner Tonartfolge ist davon nichts übrig. Zusammengefasst bin ich der Meinung, dass man zwar Liederzyklen transponieren darf, aber in aller Regel nur sämtliche Lieder um dasselbe Intervall, so dass die internen Verhältnisse unangetastet bleiben. Alles andere greift in die Komposition ein, normalerweise lediglich aus Gründen der Bequemlichkeit.

    Viele Grüße,

    Christian

  • Liebe Ulrica, hast Du schon Nathalie Stutzmann, die frz. Altistin mit der winterreise gehört?

    Ich konnte zuerst kaum glauben, dass eine Frau singt und war serh überrascht von der herben, tiefen Fülle und welche interpretatorische Richtung damit eingeschlagen wurde.


    Was die Originlatonarten bei den Liederzyklen angeht, teile ich Christians Bedenken und habe da bereits im andene Forumsleben und im Bezug auf Schumann harte Diskussionen ausgetragen.

    Es ist m.E. etwas anderes, ob ich voneinander unabhägige Lieder in einem Konzert transponiere oder ganze Zyklen je nach Bedürfnis der Stimme durch punktuelle Transponierungen binnenmusikalisch auseinanderreisse.

    Für den unbefangenen Zuhörer mag das erstmal keine Rolle spielen, aber nachdem ich mich intensiv mit der Tonartenfolge von Dichterliebe und Liederkreis op 39 befasst habe, bin ich da sehr sensibel geworden.

    Im Hinblick auf die Winterreise kenne ich mich nicht hinreichend aus.

    Was hohe und tiefe Stimme angeht , wird damit natürlich die Interpretationsrichtung direkt beeinflusst.

    Mein Horrorbeispiel war hier der hohe Tenor Ian Bostridge in Paris dessen gesungene Jeunesse doré Dandy-Pose so im kompletten Gegensatz zu dem aus allen Eingeweiden singenden Leiden z.B. eines Hans Hotter stand, dass ich das wahrlich nciht nciht mehr geniesssen konnte.


    Allerdings sollte man nicht vergessen, dass Schubert bei der Kompostition einen Tenor vor Augen und Ohren hatte und das Ganze auch selbst als Tenor gesungen hat. Peter Pears und B. Britten machen beispielhaft vor, wie wunderbar das gelingen kann!


    Das kühle Timbre eienr Christine Schäfer kann ich mir zwar selbst hier nicht vorstellen, aber ich habe eine Aufnahme mit der Sopranistin Lotte Lehmann(und Bruno Walter am klavier!), die so manchen tieftönenden Herrn serh alt und kalt aussehen lässt!

    Im Sinne des Erfinders sollten höhere Stimmen m.E. jedenfalls nciht ausgeschlossen werden- im Gegenteil.


    Meine derzeitigen Lieblingsaufnahmen aus rein sängerischer Sicht sind die mit Gérard Souzay, Hans Hotter und Peter Pears. In all ihrer Verscheidenheit zeigen diese Sänger die Facetten auf, die für mich diesen Zyklus ausmachen.


    F.Q.

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • Liebe FairyQueen,

    was Du schreibst finde ich sehr interessant - ich habe nämlich Bostridge mit Leif Ove Andsnes sowohl live als auch auf CD gehört, und er hat mir sehr gefallen. Nun muß ich dazu sagen, daß ich seine schlanke Stimme und seine klare Diktion einfach sehr gerne mag. Ich habe aber schon von einigen Leuten (auch Sängern) gehört, daß sie Bostridge nicht mögen, er scheint zu polarisieren.

    Die Kombination Pears/Britten habe ich mir als Anschaffung vorgemerkt. Wie ist das Deutsch von Pears?

    Gibt es eigentlich eine Komplettaufnahme mit Fritz Wunderlich, und wenn ja, wie ist die Einschätzung? Die "Winterreise" zählt nämlich auch zu meinen Favoriten, von denen man kaum genug Aufnahmen haben kann.

    Viele Grüße,

    :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Lieber Symbol, ich mag Bostridges Stimme, das ist nciht das Problem.

    Was ich nciht mag, ist, wen jemand die Winterreise nciht inihrer existentielistischen Komponente begreift udn als Attitüde eiens Jünglings vermittelt, der ja sosnt schon alles erlebt hat und isch dieser tolle Schubert/Müller Story als letzten Emotional Kick geben kann.


    Das mag man als zeitgemässe Interpetation akzeptieren und es war auch von beiden Teilnehmern gut musiziert, aber mich hat das abgestossen.


    Pears Deutsch hist besser als das von Souzay und das will wahrlich was heissen! Leichte Unsicherheiten bei den Vokalfärbungen überhöre ich einfach.


    Wunderlichs Version kenne ich nicht.

    F.Q.

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)


  • Mein Horrorbeispiel war hier der hohe Tenor Ian Bostridge in Paris dessen gesungene Jeunesse doré Dandy-Pose so im kompletten Gegensatz zu dem aus allen Eingeweiden singenden Leiden z.B. eines Hans Hotter stand, dass ich das wahrlich nciht nciht mehr geniesssen konnte.


    Allerdings sollte man nicht vergessen, dass Schubert bei der Kompostition einen Tenor vor Augen und Ohren hatte und das Ganze auch selbst als Tenor gesungen hat. Peter Pears und B. Britten machen beispielhaft vor, wie wunderbar das gelingen kann!


    Hallo zusammen,

    Ein positives Beispiel für einen Tenor in der Winterreise ist für mich Christoph Prégardien:

    Prégardien hat allerdings einen dunkel gefärbten Tenor. Ich schätze bei ihm die Konzentration auf den Text, die aber in keinster Weise aufgesetzt wirkt und mich immer tief erschüttert. Andreas Staier als Begleiter hat hieran übrigens einen wesentlichen Anteil und ein Hammerklavier als begleitendes Instrument finde ich einen wesentlichen Vorteil. Es erlaubt Staier z.B. bis an die äußersten Lautstärke-Gerade des Instruments zu gehen, ohne den Sänger zu überdecken.

    Ich habe die Winterreise über Fischer-Dieskau kennengelernt und war lange der Überzeugung, dass nur tiefe Stimmen den Zyklus angemessen singen können. Dann gab es beim WDR ein KOnzert mit Staier (den ich damals schon sehr schätzte) und einem mir damals unbekannten Tenor (eben Prégardien). Und die haben mich von meinen Vorurteilen radikal befreit... Das Konzert, das einige Zeit vor der CD-Aufnahme war, gehört zu den eindrücklichsten Konzert-Ereignissen, die ich erlebt habe.

    Viele Grüße,

    Melanie

    With music I know happiness (Kurtág)


  • nimm's mir nicht übel, aber genau solche Transpositionen sind es, die mich bei fast allen Aufführungen bzw. Aufnahmen der Winterreise stören: Wenn Du die Tonartenfolge der beiden ersten Lieder einfach umdrehst, veränderst Du die Dramaturgie des Anfangs und entfernst im Vorspiel des zweiten Liedes die Anspielung an das erste. Im Einzelnen: Bei der originalen Folge d-moll--a-moll beginnt das zweite Lied mit dem aufsteigenden Quartsextakkord im Vorspiel einen Ton über dem Grundton des ersten, was die Energie und den Schwung dieses Beginns unterstreicht. Bei Deiner Folge beginnt dieser arpeggierte Akkord auf dem Grundton des ersten Liedes, was sehr viel entspannter wirkt. Im Original sind im zweiten Lied die Spitzentöne (f und e) des Vorspiels identisch mit dem Beginn des ersten Liedes, in Deiner Folge nicht (der erste der beiden Töne, also das b, ist sogar in a-moll leiterfremd). Überhaupt versteckt sich in diesem Vorspiel fast die ganze absteigende Linie des ersten Liedes: Nach f-e im ersten Takt folgen a-f-e-d in den beiden nächsten Takten, zusammengenommen also bis auf das d der komplette Beginn des ersten Liedes. Bei Deiner Tonartfolge ist davon nichts übrig. Zusammengefasst bin ich der Meinung, dass man zwar Liederzyklen transponieren darf, aber in aller Regel nur sämtliche Lieder um dasselbe Intervall, so dass die internen Verhältnisse unangetastet bleiben. Alles andere greift in die Komposition ein, normalerweise lediglich aus Gründen der Bequemlichkeit.

    Viele Grüße,

    Christian

    Lieber Christian,

    bevor ein Mißverständnis entsteht: es handelt sich nicht um eine "Privat - Transponierung", sondern um eine editierte.

    Das Argument der "Bequemlichkeit" kann nicht greifen, denn der Zyklus verlangt von keinem Stimmfach außergewöhnliche Spitzentöne oder dergleichen. Die relativ bequeme Lage für alle ist ja gerade eine der Ursachen für die hohen Anforderungen an die Interpretation über den Intellekt. Man muss einiges tun, dass es nicht fad wird.

    Beim Operngesang ergibt sich das Prickelnde eher (nicht ausschließlich natürlich) aus der stimmlichen Umsetzung, mit der die Sänger oft schon genug zu tun haben. Aber das genau will Schubert nicht. Da er aus eigener Erfahrung was von Stimme verstand, wusste er m. E. auch genau, in welchen Tessiturrahmen er von den Stimmen die entsprechenden Paletten der Farbgebung erwarten konnte. Es sollte für alle eine Lage sein, wo eine entspannte und daher modulierfähifge Singweise mit mehreren Optionen möglich ist.

    Er dachte sicher in erster Linie an Männerstimmen, das sehe ich auch so. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Schubert nur auf ein Stimmfach fixiert war. Ein Fischer - Dieskau wäre ohne Transponierung nicht zu seiner Interpretationsleistung fähig gewesen, denn er hätte sich viel zu sehr mit der hohen Lage herumplagen müssen. Eine überhöhte Tessitur wäre mit Sicherheit der Tod jeglicher kontrollierter Interpretation (eine individuell zu tiefe auch).

    Dass Frauen den Zyklus angehen, ist sicher eine Rezeptionsangelegenheit späterer Zeit. Da könnten Puristen sicher auch meckern, aber es setzt sich doch mit durch; meist in Form der tieferen Stimmen.

    Was die Energie des Starts beim zweiten Lied betrifft, meine ich doch, dass diese eher von der Stimmbeweglichkeit und musikalischer Phrasengenauigkeit der Sänger abhändig ist und kaum von der Stellung des Anfangstones im Spiel der Tonarten. Ich will nicht ausschließen, dass bestimmte Tessituren beim Ausführenden rein subjektiv Bremswirkungen auslösen kann, aber dem kann m. E. mit größerer musikalischer Disziplin abgeholfen werden.

    LG

    :wink:

    Ulrica

    Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren (Bert Brecht)

    ACHTUNG, hier spricht Käpt´n Niveau: WIR SINKEN!! :murg: (Postkartenspruch)


  • Die "Winterreise", jedenfalls der Gedichtzyklus Müllers, ist auch als Double-Talk lesbar und wurde von Zeitgenossen auch durchaus noch so aufgefaßt, wie z. B. von Heine, der sich durch Müllers Zyklus selbsterklärtermaßen zu seinem "Deutschland - Ein Wintermärchen" anregen ließ. Dabei ist die doppelte Codierung zwar sicherlich zensurbedingt gewesen, Müllers Lösung aber durchaus für sich kunstvoll. Insofern ist natürlich die Leseweise der "Winterreise" als Flucht des enttäuschten, eine konkrete Person Liebenden völlig in Ordnung und auch selbst gar nicht ganz unpolitisch: Du hast auf die Hoffnung der Romantiker auf die "romantische Liebe" im Gegensatz zur arrangierten Standesehe hingewiesen.

    Ebenso bezieht sich die enttäuschte Liebe aber auch auf das deutsche Volk selbst, die den Liebenden in Flucht, Verzweiflung und Tod treibt. Das hier offenbleibt, ob es die Geliebte selbst oder "die Alten" sind, die diese verweifelte Flucht erzwingen, erscheint mir in diesem Zusammenhang als bewußtes Kunstmittel. Denn jedenfalls bleibt die Geliebte wohl doch fügsam bei den autoritären "Alten".

    Durch die Schubertsche Komposition rückte diese politische Seite wohl etwas in Vergessenheit. Aber nicht ganz. So gab es eine illegale Aufführung durch jüdische Künstler in Theresienstadt.


    :wink: Matthias

    Lieber Matthias,

    ich bin wirklich fasziniert, welche spannenden Details sich aus der Aufführungsgeschichte dieses Zyklus ergeben.

    Deine Lesart erscheint mir sehr plausibel und verständlich aus dem Zeitgeschehen der " (Anti-) Napoleonischen Befreiungskriege" und der anschließenden Restauration der alten Ordnung heraus. Die damaligen Geschehnisse sind heute kaum mehr präsent, weil sie von der Nazi - Ideologie schwerstens entstellt wurden, indem man die demokratische Komponente dieser frühen deutschen Nationalbewegung erfolgreich aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht hat. Das ist bis heute so hängengeblieben.

    Es gibt historische Einschätzungen, die besagen, dass uns wahrscheinlich der übersteigerte Nationalismus der Folgezeit (mit den ganzen unseligen Folgen) erspart geblieben wäre, wenn sich die Kombination Nationalstaat und demokratische Revolution in Deutschland durchgesetzt hätte. Eine bedeutsame zeit der Weichenstellung also.

    Ich denke auch, Müllers Dichtung kann man ohne diesen gesellschaftlich - historischen Kontext nicht gerecht werden, jedoch könnte ich mir vorstellen, dass er sowohl den politischen als auch den (individual-) psychologischen (und ja auch sozialkritische) Ansatz im Blick hatte.

    Für eine zeitgemäße Darlegung kommt mir jedoch im Moment die zweite Ansatzvariante (noch?) leichter vermittelbar vor, weil hier eine Löslösung vom Ansatzpunkt der Entstehungsepoche möglich ist, also ein "zeitloser" Inhalt transpotiert werden kann.

    Wenn man die historisch - politischen Aspekte übermitteln wollte, würde dies den Rahmen einer Aufführung der Winterreise als Liederkonzert jedenfalls sprengen. In der DDR hat man, soviel ich weiß, die revolutionäre Komponente der Befreiungskriege gelten lassen, wenn vielleicht auch in der üblichen, oft reduzierten Sicht, sodass Bredemeyer wahrscheinlich auf ein anderes Grundwissen des Publikums zurückgreifen konnte.

    LG :wink: Ulrica

    Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren (Bert Brecht)

    ACHTUNG, hier spricht Käpt´n Niveau: WIR SINKEN!! :murg: (Postkartenspruch)

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