Natürlich lassen sich gute Argumente für Gioachinos Deutung des Lindenbaum finden und man kann das Lied so verstehen. Damit gibt man dem Zyklus insgesamt aber einen dramaturgischen Aufbau, den man mit ebenso gutem Recht und guten Argumenten anzweifeln darf.
Was den Gesamtkontext Tod angeht, gibt es sicher keine Zweifel. Was aber den Prozess, den der Reisende hier durchläuft angeht, sehe ich den Lindenbaum durchaus noch am Anfang der Selbstdestruktion und wir sind hier keinesfalls schon beim greisen Kopf, beim Wegweiser oder gar im Wirtshaus, diesem Endpunkt aller Verzweiflung.
Bis zum Frühlingstraum gibt für mich es noch eine sehnsuchtsvolle Erinnerungs-Gegenwelt, so fern und vergangen sie auch immer sein mag, aber der Abglanz ist noch lebendig. Erst als die Erinnerung an Alles Schöne und damit alle Hoffnung ausgelöscht und regelrecht erfroren ist, ist die innere Verwahrlosung und Zerstörung komplett und selbst der Tod kann da nichts mehr retten- sogar er verweigert fortan seinen Trost. Der Lindenbaum ist aber noch am Anfang dieses Zersetzungsprozesses.
Wie ich oben schon sagte: der Kontext ist natürlich Tod, und daran partizipiert das Lied. Aber sein Besonderes, sein Kontrast ist, dass es Erinnerung mobilisiert. Und die ist (@ Fairy: ich bin da ganz bei Dir!) heimatlich, "traulich", schön. Wie Du ja selber sagst, Gioachino, das Idyll war einmal - real, und es wird erinnert. Und die Sehnsucht dorthin zurück hat natürlich, indem sie einen irrealen Index hat, auch etwas konkret-lebensfeindliches/lebensfremdes. Aber wenn wir jeden Seufzer der Menschen, wenn sie sich zueinen lang vergangenen Glücksmoment zurücksehnen, gleich als Todeswunsch interpretieren würden, wo kämen wir hin?
Ja, so empfinde ich das auch. Und ich will nochmal deutlich auf das Symbol Baum hinweisen. Der Baum ist ein Symbol des Lebens und nicht des Todes. So wie auch der Brunnen an dem er steht. Und der Baum beschwört das Lebendige, das Grünende das Frohe und das Liebevolle,die Kraft, die Treue, die Verwurzelung.
All das hat unser Reisender verloren, aber es steht ihm hier noch einmal vor Augen und er muss deshalb die Augen schliessen (selbst im Dunkeln schliesst er sie ja noch! ) und blind daran vorübergehen, weil er eben keinen Zugang mehr dazu haben darf.
Rein musikalisch betrachtet: die Tonart, der Rythmus, das Vorspiel, das Nachspiel- sind das Todesmelodien? Nein, das ist Sehnsucht, aber nicht disharmonische zerreissende oder auflehnende Sehnsucht wie sie spâter kommt, sondern noch sanfte, harmonische Sehnsucht nach dem schônen Verlorenen. Und all die genialen Echos die Schubert einkomponiert hat. Das sind die Echos einer heimatlcihen freundlichen Welt. Verloren, aber hier noch wehmütig erinnert.
Man kann die Gesamt-Dramaturgie sicher auch umdrehen und die schlimmste Todesnähe an den Beginn(Lied 5 von 24) setzen, wie das Gioachino oben tut. Aber m.E gibt das musikalisch keinen rechten Sinn. Auchmusikalisch geht der Zyklus nämlich zur Auflôsung hin, man muss sich dazu nur die letzten Lieder ansehen. Beim Lindenbaum ist noch nichts mit Auflösung und totalem Identitätsverlust. Der Irrsinn ist zwar nicht mehr weit, aber er hat noch nicht wirklich Besitz ergriffen. Vielleicht hat gerade dieses Zwischenstadium zwischen Melancholie und Wahn das Lied so populâr und ergreifend gemacht? Noch besteht immerhin ein kleines Fünkchen Hoffnung, und damit auch eine Identifikationsflâche für den Zuhörer ,denn die Erinnerung an die Liebe/die Heimat ist noch lebendig.
Mit dem Lindenbaum können auch Lieschen Müller und ihr Michel noch mit, mit dem Wirtshaus und dem Leiermann aber lange nicht mehr!
F.Q.
P.S. Christian Gerhaher und Gerold Huber interpretieren den Lindenbaum genau in meinem Sinn- celestement die Echos der Erinnerung!