Schubert / Wilhelm Müller: Die Winterreise - Wenn der Boden entzogen ist... eine Annäherung

  • Natürlich lassen sich gute Argumente für Gioachinos Deutung des Lindenbaum finden und man kann das Lied so verstehen. Damit gibt man dem Zyklus insgesamt aber einen dramaturgischen Aufbau, den man mit ebenso gutem Recht und guten Argumenten anzweifeln darf.
    Was den Gesamtkontext Tod angeht, gibt es sicher keine Zweifel. Was aber den Prozess, den der Reisende hier durchläuft angeht, sehe ich den Lindenbaum durchaus noch am Anfang der Selbstdestruktion und wir sind hier keinesfalls schon beim greisen Kopf, beim Wegweiser oder gar im Wirtshaus, diesem Endpunkt aller Verzweiflung.
    Bis zum Frühlingstraum gibt für mich es noch eine sehnsuchtsvolle Erinnerungs-Gegenwelt, so fern und vergangen sie auch immer sein mag, aber der Abglanz ist noch lebendig. Erst als die Erinnerung an Alles Schöne und damit alle Hoffnung ausgelöscht und regelrecht erfroren ist, ist die innere Verwahrlosung und Zerstörung komplett und selbst der Tod kann da nichts mehr retten- sogar er verweigert fortan seinen Trost. Der Lindenbaum ist aber noch am Anfang dieses Zersetzungsprozesses.

    Wie ich oben schon sagte: der Kontext ist natürlich Tod, und daran partizipiert das Lied. Aber sein Besonderes, sein Kontrast ist, dass es Erinnerung mobilisiert. Und die ist (@ Fairy: ich bin da ganz bei Dir!) heimatlich, "traulich", schön. Wie Du ja selber sagst, Gioachino, das Idyll war einmal - real, und es wird erinnert. Und die Sehnsucht dorthin zurück hat natürlich, indem sie einen irrealen Index hat, auch etwas konkret-lebensfeindliches/lebensfremdes. Aber wenn wir jeden Seufzer der Menschen, wenn sie sich zueinen lang vergangenen Glücksmoment zurücksehnen, gleich als Todeswunsch interpretieren würden, wo kämen wir hin?

    Ja, so empfinde ich das auch. Und ich will nochmal deutlich auf das Symbol Baum hinweisen. Der Baum ist ein Symbol des Lebens und nicht des Todes. So wie auch der Brunnen an dem er steht. Und der Baum beschwört das Lebendige, das Grünende das Frohe und das Liebevolle,die Kraft, die Treue, die Verwurzelung.
    All das hat unser Reisender verloren, aber es steht ihm hier noch einmal vor Augen und er muss deshalb die Augen schliessen (selbst im Dunkeln schliesst er sie ja noch! ) und blind daran vorübergehen, weil er eben keinen Zugang mehr dazu haben darf.
    Rein musikalisch betrachtet: die Tonart, der Rythmus, das Vorspiel, das Nachspiel- sind das Todesmelodien? Nein, das ist Sehnsucht, aber nicht disharmonische zerreissende oder auflehnende Sehnsucht wie sie spâter kommt, sondern noch sanfte, harmonische Sehnsucht nach dem schônen Verlorenen. Und all die genialen Echos die Schubert einkomponiert hat. Das sind die Echos einer heimatlcihen freundlichen Welt. Verloren, aber hier noch wehmütig erinnert.

    Man kann die Gesamt-Dramaturgie sicher auch umdrehen und die schlimmste Todesnähe an den Beginn(Lied 5 von 24) setzen, wie das Gioachino oben tut. Aber m.E gibt das musikalisch keinen rechten Sinn. Auchmusikalisch geht der Zyklus nämlich zur Auflôsung hin, man muss sich dazu nur die letzten Lieder ansehen. Beim Lindenbaum ist noch nichts mit Auflösung und totalem Identitätsverlust. Der Irrsinn ist zwar nicht mehr weit, aber er hat noch nicht wirklich Besitz ergriffen. Vielleicht hat gerade dieses Zwischenstadium zwischen Melancholie und Wahn das Lied so populâr und ergreifend gemacht? Noch besteht immerhin ein kleines Fünkchen Hoffnung, und damit auch eine Identifikationsflâche für den Zuhörer ,denn die Erinnerung an die Liebe/die Heimat ist noch lebendig.
    Mit dem Lindenbaum können auch Lieschen Müller und ihr Michel noch mit, mit dem Wirtshaus und dem Leiermann aber lange nicht mehr!
    F.Q.
    P.S. Christian Gerhaher und Gerold Huber interpretieren den Lindenbaum genau in meinem Sinn- celestement die Echos der Erinnerung! :fee:

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • Lieber Recordatorio


    First of all: Ich finde, dass es in einer bestimmten Weise kaum ein größeres Kompliment für eine Komposition geben kann, als wenn sie nach fast 200 Jahren immer noch die Spatzen von den Dächern pfeifen. Dies ist nicht ein Zeugnis des "Austrocknens", sondern des Im-Saft-Stehens und Lebendig-Seins. Dass dabei nicht alle Spatzen unideologisch oder auch nur musikalisch gewesen sind im Laufe der Zeit, steht auf einem andern Blatte.

    Ich gebe dir insofern Recht, dass die "Wiederkäuerei" in allen Variationen durchaus für ein Werk und seine hohe Qualität spricht. Umso mehr ist es aber für solche Werke essentiell, dass der ursprüngliche Geist desselben immer wieder zu Tage geholt wird. Ich bin keinesfalls gegen eigenwillige Adaptionen des Zyklus. Ich besitze z. B. seit kurzem eine Interpretation des Liedermachers Hannes Wader mit seiner Gitarre, der aus einer ganz anderen musikalischen Ecke kommt und trotzdem die Stücke (er singt nicht alle) so stimmig einfängt, dass sich mir seine Sicht erschließt. Nur ein Beispiel. Wenn allerdings unbequeme Teile einfach weggelassen werden (hier meine ich nicht einfache Zuhörer, die die eingängigen Melodien nachsingen), weil sie die konservative Erbaulichkeit stören, dann gibts von mir Widerspruch. Die Metapher vom eingetrockneten Brunnen (nicht das Lied!) war eher launig gemeint.


    Komisch, gerade in gesanglicher Hinsicht habe ich - der ich es in der immer noch recht hoch angesiedelten "mittleren Stimme" singe - sofort einen Zugang dazu.

    Ich meinte inhaltlich im Sinne von kontextbezogen. Die linear naheliegende Denkvariante "Rückblick auf frühere bessere Zeiten" ohne weiteren Hintersinn steht durchaus im Raum, aber m. E. passt hierzu das "Unfeld des Zyklus", sprich, die vorhergehenden und auch nachfolgenden Lieder nicht. Das wären eher Gedanken einer Seele, die zumindest beginnt, zur Ruhe zu kommen, aber das kann einfach nicht sein an dieser Stelle.


    "Kantig" ist das schon, an Dramatik allerdings weit unter im Zyklus Vorangegangenem (ich halte es auch nicht für ratsam, es interpretatorisch auf diese Höhe, etwa der "Erstarrung", zu treiben),

    Du setzt meine Aussage in einen absoluten Bezug zum Gesamtzyklus, sie bezieht sich allerdings nur auf den Kontrast in Lindenbaum selbst. Dieser Kontrast innerhalb des einzelnen Liedes ist m. E. hier am schärfsten ausgeprägt. Der "Frühlingstraum" beinhaltet zwar auch eine ähnliche Konstruktion, aber diese wirkt auf mich nicht so krass.


    Ja, weit Zurückliegendes. Aber nun grade hier ist doch etwas Politisches betont, was Dir, Ulrica, ja wichtig ist. Bei dem Ausdruck "ich wendete mich nicht" assoziiere doch nicht nur ich etwas Gesellschafsbezogenes?!

    Ich würde sagen, hier nur bedingt. Es liegt sicher nahe, dass jugendliches Rebellentum bereits schon früher eine Menge Ärger für ihn verursacht hat, aber m. E. steht in diesem Lied die psychologische Deutbarkeit im Vordergrund. In dem Lied allein geht es genau nicht darum, wie die Ursache zu deuten ist, sondern um die persönliche Konsequenz aus dem als unüberwindlich empfundenes Scheitern in einem bestimmten Moment eines Prozesses, der sich zwar schwer in Richtung Untergang neigt, aber immer noch eine kleine Chance lässt, zum Verarbeitungsprozess zu werden (auch eine Option). Er tut es ja noch nicht, er geht an dem Baum ja - diesmal noch(?) - vorbei

    Daher neige ich ganz klar dazu:

    Das Ausruhen am Baum ist für mich die Aufforderung zum Suizid.

    Es trifft zu, dass der Baum grundsätzlich ein Lebenssymbol ist, aber im Winter begibt er sich in einen todesähnlichen Zustand und mancher gerade angeschlagene oder sehr alte Baum "erwacht" daraus auch nicht mehr. Menschen, die aus einer so tiefen Depression heraus, wie sie in den vorhergehenden Liedern dargelegt wird, plötzlich anfangen, von der schönen Vergangenheit zu schwärmen (und dies exakt in der von Komposition und Dichtung vermittelten Stimmung), kommen keineswegs in eine stabiliere Lage, sondern beginnen, sich die Vorteile einer suizidalen Handlung auszumalen. Die innere Entspannung wird zunehmend in der Entschlussfassung für den Suizid gesucht.

    Zum Schluss noch ein paar Worte zu einigen Hintergründen der Rezeptionsgeschichte, die viele "Volkslieder" betrifft:

    Den wenigsten, und speziell denen aus der Kriegsgeneration, die mit deutschnational - reaktionärer Adaption sozialisiert wurden, aber deren Erinnerung an das Liedgut an sich noch präsent ist/war, ist bewust, dass zur Entsteheungszeit des gesamten Zyklus die "deutsch - nationale" Bewegung einherging mit Bestrebungen der bürgerlichen Demokratie (beeinflußt durch die Ideen der franz. Revolution) und somit eine Massenbewegung des Fortschritts darstellte (also so etwas wie eine "linke" Bewegung war) und somit durchaus vergleichbar mit den Nationalstaatsbetrebungen der westlichen Staaten. Dem permanenten Scheitern der Deutschen, diese Ideen durchzusetzen und der danach immer wieder gestärken Position rückwärtsgewandter Kräfte (bis zum nationalsozialistischen "Exzess") ist die reaktionäre und faschistoide Entwicklung des nationalen Gedankens. zu verdanken. Eine revolutionäre Deutung der Lieder der deutschnationalen Demokraten wäre diesen späteren "Staatszielen" ganz gewiss nicht förderlich gewesen.

    (auch wenn vielleicht den Historikern unter uns ob der verkürzten Darstellung der Hut schwillt: Die These lässt sich sehr gut belegen, was allerdings den Thread hier sprengen würde)

    :wink:

    Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren (Bert Brecht)

    ACHTUNG, hier spricht Käpt´n Niveau: WIR SINKEN!! :murg: (Postkartenspruch)

  • Daher neige ich ganz klar dazu:

    Zitat von »gioachino«
    Das Ausruhen am Baum ist für mich die Aufforderung zum Suizid.


    Es trifft zu, dass der Baum grundsätzlich ein Lebenssymbol ist, aber im Winter begibt er sich in einen todesähnlichen Schlaf und mancher gerade angeschlagene oder sehr alte Baum "erwacht" daraus auch nicht mehr. Menschen, die aus einer so tiefen Depression heraus, wie sie in den vorhergehenden Liedern dargelegt wird, plötzlich anfangen, von der schönen Vergangenheit zu schwärmen (und dies exakt in der von Komposition und Dichtung vermittelten Stimmung), kommen keineswegs in eine stabiliere Lage, sondern beginnen, sich die Vorteile einer suizidalen Handlung auszumalen.

    Ich glaube, der Gedanke ist hier bisher noch nicht erwähnt worden: Mir erklärte kürzlich jemand, der Lindenbaum sei traditionell der Baum, an dem sich die Selbstmörder aufgehängt hätten, ein Lindenbaum also in einem literarischen Text ein starkes Symbol für den Suizid. So sei sowohl der "Lindenbaum" von Schubert/Müller zu deuten als auch die (damit zweifellos eng verwandte) Passage in den "Liedern eines fahrenden Gesellen":
    Auf der Straße steht ein Lindenbaum,
    Da hab' ich zum ersten Mal im Schlaf geruht!
    Unter dem Lindenbaum,
    Der hat seine Blüten über mich geschneit,
    Da wußt' ich nicht, wie das Leben tut,
    War alles, alles wieder gut!

    Mir scheint diese These sehr plausibel, die Symbolik sehr nachvollziehbar. Kennt jemand von euch diese Interpretation?

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • @ Recordatorio : In meiner Ausgabe für mittlere Stimme ( Edition Peters ) ist der Lindenbaum tatsächlich in der Originalversion notiert. Du kennst das Lied offenbar in der Ausgabe für tiefe Stimme. Dann verstehe ich auch, dass Du keinerlei Schwierigkeiten in der sängerischen Umsetzung siehst.

    Cherubino : Bei Mahler hat der Lindenbaum für mich etwas hoffnungsvoll Tröstendes. Ein Baum, der seine Blüten über den Gesellen schneit, ist von sommerlichem Leben erfüllt : Alles wird gut.

    Müllers und Schuberts winterlicher Lindenbaum reckt seine blattlosen Äste gen Himmel. Er bietet keinen Schutz, kämpft selbst ums Überleben. Der geniale Zeitgenosse Caspar David Friedrich hat die beklemmenden Bilder dazu gemalt.


    Ciao. Gioachino

    miniminiDIFIDI

  • @ Recordatorio : In meiner Ausgabe für mittlere Stimme ( Edition Peters ) ist der Lindenbaum tatsächlich in der Originalversion notiert. Du kennst das Lied offenbar in der Ausgabe für tiefe Stimme. Dann verstehe ich auch, dass Du keinerlei Schwierigkeiten in der sängerischen Umsetzung siehst.

    Ich singe auch "mittlere Stimme", Bärenreiter Urtext. In meiner Ausgabe ist die mittlere Stimme durchweg einen Ganzton tiefer gesetzt als die hohe (originale), wodurch das Tonartenverhältnis gewahrt bleibt was ich gut und wichtig finde. Wenn Du hingegen in einer transponierten Ausgabe des Zyklus den Lindenbaum im Original singst, dann stellt sich natürlich das 'entspannende' Verhältnis des Liedes zum Vorigen nicht so ganz ein..

    Müllers und Schuberts winterlicher Lindenbaum reckt seine blattlosen Äste gen Himmel. Er bietet keinen Schutz, kämpft selbst ums Überleben.

    Der winterliche Lindenbaum wird doch gar nicht wirklich evoziert. "Jener Ort" ist der der Vergangenheit, also der sommerliche. Dass der den Winterreisenden lockt, wird meinem Gefühl nach schon durch die auf das Blätterwerk sich beziehende akustische Formulierung "Rauschen" bestätigt.

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    Musica est exercitium metaphysices occultum nescientis se philosophari animi

  • Da es sich um ein Lied, ergo um ein Musikstück handelt, wâre es da nicht hilfreich, sich nicht nur am Text sondern auch an der Musik zu orientieren?

    Die Tonart, der Rythmus, das Vorspiel, das Nachspiel, die Schlichtheit der Melodie und insbesondere die einkomponierten melancholischen Echos- Erinnerungen an das Schône und Schmerzliche, also: das Lebendige, das dieser Baum begleitet hat-- spricht das nicht eine Sprache, die deutlich genug ist?
    Ich höre da jedenfalls (noch) nichts von Bäumen, die selbst ums Überleben kämpfen müssen und die Bilder von CD Friedrich passen für mich erst in den zweiten Teil des Zyklus.
    Wenn man dieses Lied musikalisch mit dem vergleicht, was später kommt, wird der sich in Richtung Destruktion und Identitätsverlust steigernde dramaturgische Aufbau des Zyklus deutlich. Jedenfalls für mich.
    Der Reichtum der Winterreise liegt aber wahrscheinlcih gerade in den unterscheidlichen Möglichkeiten der Deutung, wie sie ja auch von unterschiedlichen Interpreten vertreten werden.
    Bei Gerhaher oder Souzay oder Hotter käme man nicht auf die Idee, dass der Lindenbaum schon lange mausetot ist oder vielleicht nie lebendig war und Schubert vielleicht sogar die falsche Melodie dazu geschrieben hat bzw sich in der Tonart geirrt haben muss? :rolleyes:
    Und Recordatorio sagt es oben schon:
    "Rauschen" kann natürlich nur ein Baum ,der seine Blâtter noch hat, bzw dessen grüne, lebendige Blâtter gerade in diesem Lied in diesem Moment mit allem Herzblut evoziert werden: "noch immer hör ich's rauschen".
    Für mcih spiegelt dieses wunderbare Lied Schuberts ganzes Universum und das lebt ja gerade aus der Spannung zwischen dem Fremdsein, dem immerzu Wandernmûssen und der Sehnsucht, nach dem was man verloren oder nie wirklich besessen hat. Ohne das Bild dieses Schönen, dieser inneren und äusseren Heimat gäbe es diese Spannung aber nicht, sondern es gäbe nichts als tot und zerissen und disharmonisch. Was ja im Mittelteil des Lieds bereits deutlich aufscheint! Aber eben noch umrahmt und nicht nackt und bloss wie spâter beim Leiermann.
    Und ohne diese Sehnsuchts/Erinnerungs Umrahmung gäbe es auch keine Identifikationsfläche für die Popularitât dieses Lieds bzw seinen völkischen oder sentimentalen "Missbrauch".

    Mich würde sehr interessieren, wie diejenigen, für die der Lindenbaum ein Gipfelpunkt der Depression, Hoffungslosigkeit und Todesnâhe ist, den dramaturgischen Aufbau des Gesamtzyklus sehen? Von der tiefsten Depression im Lindenbaum zur fortschreitenden Genesung und Hoffnung auf Überleben mit dem Leiermann?

    Das würde man natürlich jedem Wintereisenden wünschen. :fee:

    F.Q., die jetzt mal sehr gespannt auf die Version von Richard Tauber ist! Lotte Lehmann mit Bruno Walter ist übrigens auch ein Erlebnis der besonderen Art. 1942 im Exil gesungen/gespielt bekommt das Ganze noch mal eine andere und sehr dramatische Wendung.

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • Noch eine Nachbemerkung: Lotte Lehmann singt auf meiner CD den Lindenbaum leider nicht, sie hat nur die "wütendsten" Stûcke ausgewählt..; dass sie nicht explizit singt: "lass irre Hunde heulen vor ihres Führers Haus" wundert mich beim Gesamtduktus Interpretation wirklich. Ein bemerkenswertes und erschütterndes historisches Dokument, diese Teileinspielung, auf der sich ausserdem Schumann Dichterliebe findet.

    Aber zum Lindenbaum: noch eine andere interessante Interpretation von Christoph Pregardhien und dem Ensemble Berlin (ein Radomitschnitt aus der Frauenkirche Gautingen 2008): hier erklingt der Lindenbaum in einer Version für 5 Streicher 5 Holzbläser und Tenor und bezeichnenderweise kommen bei den Sehnsuchts-Echos das Waldhorn zum Einsatz. Da ist doch Herr Eichendorff und opus 39 von Schumman gleich um die Ecke.Was für eine Evokation!!!!! Ganze Welten schienen da für zwei Takte auf. Das sagt mehr als jedwede weitere wortreiche Erklärung.
    F.Q.

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  • Ganze Welten schienen da für zwei Takte auf. Das sagt mehr als jedwede weitere wortreiche Erklärung.

    Genau wie bei »Alle meine Entchen«! Deswegen ist es ja so unendlich schwer für uns, die wir hier nur Worte haben ...

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Lieber Algabal, wer Schubert mit "Alle meine Entchen" vergleicht, sollte sich nicht wundern, wenn ihm irgendwann die Worte fehlen..... :rolleyes:
    ich wünsche jedenfalls allen Liebhabern stiller Entchen-Einfalt und edler Lindenbaum-Grösse ein frohes Weihnachtsfest :fee:

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  • Ich glaube, Du missverstehst mich grade ganz gewaltig. Ich hab die »Winterreise« nicht mit »AmE« verglichen, sondern anhand eines - zugegeben: extremen - Beispiels darauf hinweisen wollen, dass zwischen dem, was in Musik passiert und all unseren wortreichen Näherungsversuchen ein nicht einzuholendes/aufzuholendes/einzufangendes Expressivitätsgefälle besteht, das schlicht in der grundsätzlich differenten Hardware der beiden Ausdruckssysteme begründet liegt.

    Und keine Sorge: Die Worte gehen mir so bald nicht aus. Ich bin mir aber immer weniger sicher, ob damit irgendetwas Substanzielle über Musik zu sagen ist, das sich nicht in der Beschreibung ihrer nackten Strukturen erschöpfen würde.

    Dir auch frohe Weihnachten und sowas - vielleicht ja sogar mit Entchen-Einfalt in der Bratröhre ... ;+)

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Ich bin mir aber immer weniger sicher, ob damit irgendetwas Substanzielle über Musik zu sagen ist, das sich nicht in der Beschreibung ihrer nackten Strukturen erschöpfen würde.

    Dem stimme ich voll und ganz zu. Das Problem teibt mich auch um, nicht nur auf die Musik bezogen. (Aber ich bin hier ja Gottseidank nur für weiche Themen ohne Notenbeispiele zuständig :D ) (Off topic; kann wieder gelöscht werden). Eigentlich ein gutes Thema für einen eigenen Faden, lieber Algabal


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    Immer noch da ... ab und an.

  • Weiss zufällig jemand etwas zu dem Theaterstück "Winterreise" von Elfriede Jelinek zu sagen, das in München in den Kammerspielen aufgeführt wird?
    Ich bin zufällig zu dieser Zeit in München und würde mir das evtl ansehen, aber wenn es ganz und gar unerträglich sein sollte......

    Danke im voraus


    P.S. Etwas zu den Dingen zu sagen, zu denen man eigentlich ncihts sagen kann, weil sie angeblich eine andere Hardware besitzen ist ja wohl eine der vornazhmsten Aufgabe der Dichter-oder? Ein Brentano war sich dazu jedenfalls nciht zu schade-gottseidank!
    Im übrigen ist die "emotionale Hardware" in der Rezeption der diversen Kunstgattungen m.E. keineswegs so verschieden.
    Aber ganz abgesehen davon: wenn man ncihts zu Musik sagen kônnte, was über Strukturenbeschreibung hinausgeht: warum gibt es dann dieses Forum und seine zahlreichen musikgerichteten Threads überhaupt noch????? ?(

    F.Q.

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  • Liebe Ulrica,
    auch ich hatte Zeiten in denen ich die Winterreise täglich mindestens zwei mal hören mußte! Damals hatte ich zunächst nur die Aufnahme mit Hermann Prey. Sie war und ist auch heute noch mir die Liebste. Später kamen noch Peter Schreier und Rudolf Knoll dazu.
    Gerade Wilhelm Müllers Text und Schuberts geniale Vertonung treffen so tief ins Herz. Auch heute noch kann ich immer und immer wieder die Winterreise hören.
    Mag es sein, dass wir bisweilen auch ein Stück auf "Winterreise" gehen, uns selber darin erkennen können. Diesbezüglich kann ich hier für mich sprechen.
    Sie ist mir so vertraut, als sei ich mit ihr aufgewachsen.
    Ein großes Kopmpliment für Deine hervorragende Arbeit!
    Mit lieben Grüßen,
    Polarlicht. ;+)

  • Weiss zufällig jemand etwas zu dem Theaterstück "Winterreise" von Elfriede Jelinek zu sagen, das in München in den Kammerspielen aufgeführt wird?
    Ich bin zufällig zu dieser Zeit in München und würde mir das evtl ansehen, aber wenn es ganz und gar unerträglich sein sollte......

    Winterreise wird ja erst am 3. Februar in den Kammerspielen uraufgeführt, insofern kann man über die Produktion noch nichts sagen (Johan Simons ist allerdings ein interessanter Regisseur, und Christoph Homberger verantwortet die musikalische Konzeption: das verspricht viel.)

    Das Stück selbst ist in Buchform seit Samstag im Handel:

    Ein paar Eindrücke schildert "http://derstandard.at/1293370712813/…rts-Winterreise" dieser Zeitungsartikel.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Nach den anerkannten Gesetzen der Flugmechanik kann die Hummel nicht fliegen, denn ihr Gewicht ist im Vergleich zu ihrer Flugfläche viel zu gross. Aber die Hummel weiss das nicht und fliegt trotzdem. .

    Das gilt analog für den Bassisten Kurt Moll, der m.E. ebenfalls zu schwer, aber trotzdem durch die Winterreise geflogen (am Flügel: Cord Garben - sehr gut).
    Die Aufnahme ist von 1982. Mir liegt hier seit ein paar Tagen die 1983er Doppel-CD vor, die in ähnlicher Aufmachung wieder oder immer noch im Handel ist:

    Durchwegs seeehr breit angelegt, mit durchwegs seehr langsamen Tempi. Molls Stimme ist (für meinen Geschmack) viel zu behäbig, opernhaft, wuchtig, breit und - was eigentlich mein Hauptvorbehalt gegen die Aufnahme ist - geradezu penetrant gesund angelegt. Ich stelle mir jedenfalls den Winterreisenden nicht als wuchtigen, beleibt-wohlgenährten und gesunden Brocken mit runden Backen vor, der behauptet, leidend zu sein.
    In einigen Passagen (m.E. viel zu wenigen) zeigt er allerdings, dass er anders gekonnt hätte: da reduziert er auf kammermusikalisches Format, singt schmal oder gar brüchig und wirkt ergreifend. Leider hält er das nicht durch, dann geht's mit Gesundheit und breitem Druck weiter.
    [Unwichtig, nur als musikhistorische Kleinstnebenbemerkung: eine rheinischer artikulierte "Krähe", eher "Kräö", hab ich noch nie gehört...]

    Weil ich (ausser ein paar Häppchen Holler, Greindl) keine Bass-Winterreise kannte, fand ich das Zuhören trotzdem als herausfordernde, teils irritierende Abwechslung zu meinen Winterreise-Hörgewohnheiten interessant: Moll ist - ich bin weder Opernkenner, noch -freund - wohl sicher ein sehr bühnenwirksamer und vorzüglicher Opernsänger gewesen, seine Stimme ist mir auch keineswegs unsympathisch und gefällt mir durchaus, trotzdem meine ich, dass seine Interpretation nicht aufgeht. Er singt mit allen Mitteln gegen seine Disposition an, aber es haut - bei mir jedenfalls nicht hin, ich nehme ihm das nicht ab.
    Kennt jemand diese Aufnahme und fand sie überzeugend??

    Für solche Bässe ist die Winterreise m.E. nichts, mit einer schmaler angelegten Stimme könnte sie funktionieren. - Gibt es eine derartige Aufnahme?

    Für meinen Geschmack ist die "Winterreise" auch eher kein Fall für Frauenstimmen. Da ich aber nur die Fassbaender-Version (mir sehr unsympathisch und abschreckend affektiert, schon bei der "Guten Nacht" geht es mir zu roh, extrovertiert und übertrieben los), die (geringfügig weniger unangenehme) Schäfersche und einzelne Häppchen von Stutzmann (Artikulation, Buchstabenverschlucken, Falschaussprachen, Gezische und ihre trompetenartige Tonbildung gefallen mir nicht) kenne, möchte ich aber nicht ausschliessen, dass es auch da eine (mich) überzeugende Lösung geben könnte.

  • Für solche Bässe ist die Winterreise m.E. nichts, mit einer schmaler angelegten Stimme könnte sie funktionieren. - Gibt es eine derartige Aufnahme?


    Vielleicht sagt Dir Quasthoff zu; er ist ja eher Bassbariton, singt aber jedenfalls die tiefe Stimme. Ich finde die Aufnahme viel zu manieriert und eitel, aber das mag Dir u. U. ganz anders gehen... s. u.

    Fassbaender-Version (mir sehr unsympathisch und abschreckend affektiert, schon bei der "Guten Nacht" geht es mir zu roh, extrovertiert und übertrieben los)


    "Affektiert"? Wenn man das im Wortsinne versteht als "von Affekten gesteuert/geprägt", dann würde ich sofort zustimmen, aber im Sinne von "gekünstelt emotional", wie das Wort ja meist verwendet wird, dann würde ich sagen: Die Fassbaender-Winterreise ist für mich genau diejenige aller mir bekannten Aufnahmen, die am weitesten weg ist von dieser Art von Affektiertheit. Ich finde sie sehr direkt gesungen - das kann man sicher "roh" finden (extrovertiert ist es auf alle Fälle), "übertrieben" ist es für mich gar nicht, weil es die Lieder endlich wieder näher an ihre Existenzialität bringt, die in dem ganzen Frack-und-Konzertflügel-Gestus, schön Phrasieren, Atem strömen lassen, Worte ausleuchten etc. ziemlich abhanden gekommen ist.

    (Möglicherweise gefällt Dir, weil Du ja nach Frauenstimmen fragst, die Christa-Ludwig-Aufnahme. Sie ist recht zurückhaltend, "weise" und musikalisch makellos. Ich habe mit ihr meine Probleme... aber das sollte, nach Deinen Bemerkungen zu Fassbaender, für Dich vielleicht grade umgekehrt ein Grund sein, die Aufnahme zu kaufen ;+) .)

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  • Die Idylle war einmal. Das Ausruhen am Baum ist für mich die Aufforderung zum Suizid.


    Kann man das überhaupt anders sehen? Es ergibt sich doch schon aus dem Wortlaut und der beschriebenen Situation:


    Folgte der Reisende dieser Einladung, würde er, gegen den Stamm gekauert, erfrieren.


    Es macht auch musikalisch Sinn, denn die Wendung nach Dur steht in diesem Zyklus für zweierlei: Für den Schmerz bei der Erinnerung an vergangene (Schein?-) Idyllen und für die Todessehnsucht, vor allem im letzten Teil (nr. 21, 23). An eine Idylle, wie sie von Männerchören mit der Silcher-Version produzieren, haben sicher weder Müller noch Schubert gedacht.


    Der bewegte Mittelteil des Liedes bedeutet dann trotziges Aufbegehren gegen den Suizidgedanken, wie es ja im Verlauf des Zyklus immer wieder zu finden ist. Interessant in diesem Zusammenhang, dass wohl in den ersten Ausgaben der Winterreise die Lieder 22 und 23 noch vertauscht waren, das Lied "Mut" also direkt vor dem Leiermann stand.


    In diesem Sinne hab ich das Ende des Zyklus' auch nie als wahnhaft verzerrt oder gar tragisch, sondern als offen empfunden. Das mag eine allzu psychologische Betrachtung sein - eine schmerzhafte Erfahrung wird verarbeitet und die Natur erscheint als Spiegel der Seele - es erklärt aber auch, warum der Wanderer der Winterreise anders als der viel ursprünglichere und naivere Protagonist der schönen Müllerin, den Weg in den Suizid gerade nicht wählt.


    Zu den Aufnahmen: Mein Verständnis der Winterreise ist durch vier davon geprägt: Einmal Pears/Britten (eine extrem psychologische, sehr "zerrissene" Version), dann Fischer-Dieskau/Moore in der älteren Aufnahme (eine sehr jugendlich-trotzige Variante), dann eine geradezu "asketische" Live-Aufnahme von Peter Schreier und Svjatoslav Richter, und schließlich - wieder ein extemer Kontrast! - eine Aufnahme mit BarryMcDaniel und Aribert Reimann, die wohl nie kommerziell erschienen ist und vor einigen Jahren als Bonus-CD für Abonnenten der Opernwelt herauskam: Hier sind die Kontraste gemildert, spürbar vor allem in dem lyrisch-warmen Grundton des Sängers einerseits und der sehr schroffen, teils abweisenden Klavierbegleitung andererseits - für mich fast die "kompletteste", vielseitigste Aufnahme überhaupt.


    So viele Möglichkeiten, so viele Interpretationen...

  • Hans Zender: Schuberts "Winterreise" - Eine komponierte Interpretation

    Kennt eigentlich jemand Hans Zenders Arrangement der "Winterreise" für Tenor und Orchester? Es ist eigentlich mehr als ein bloßes Arrangement; Zenders eigener Untertitel "Eine komponierte Interpretation" trifft es schon recht gut.

    Ich habe diese Musik gestern zum ersten Mal gehört, allerdings nicht in der hier abgebildeten einzigen CD-Einspielung, sondern als Radiomitschnitt eines Freiburger Konzertes des SWF-Sinfonieorchesters unter Sian Edwards mit dem mir bisher unbekannten, ziemlich guten Tenor Steve Davislim.

    Am Anfang kam es mir zu plakativ vor, wie Zender etwa im ersten Lied die Orchesterinstrumente wie Hunde bellen oder im zweiten wie Wind heulen lässt. Mit der Zeit kam ich aber dahinter, dass die illustrative Ausdeutung des Textes, durchaus gelegentlich mit einer fragwürdigen Vergröberung des subtilen Klaviersatzes einhergehend, nur sozusagen die Oberfläche seiner Fassung bildet. Spannend wurde das Hören für mich, als mir klar wurde, wie Zender die Musik Schuberts von heute aus betrachtet und sozusagen davon erzählt, "was seitdem geschah". Bei ihm steht die "Winterreise" am Beginn einer Geschichte des Liedes, die sich in die verschiedensten Richtungen entwickelt, und das Faszinierende an seiner Fassung ist für mich, wie er praktisch alles, was die Gattung "Lied" im 19. und 20. Jahrhundert wurde, hier schon angelegt findet: Zenders "komponierte Interpretation" ist eine in Töne gesetzte Rezeptions- und Interpretationsgeschichte der "Winterreise", ja eine aus der Schubertschen Komposition herausarrangierte Geschichte der Gattung "Lied". Mal scheint die Welt der Mahlerschen Wunderhornlieder auf, mal fühlt man sich an Webernsche Verfitzelungen von Melodien in einzelne Kurzmotive erinnert, hier wird der Text auf Agitpropweise pathetisch deklamiert, dort schielen Brecht/Weill um die Ecke, plötzlich wird man von Akkordeon und Schlagzeug unter die Laterne zu Lili Marleen versetzt und findet sich im nächsten Lied in den still-fragmentarischen Hölderlinwelten Luigi Nonos wieder. Der "Lindenbaum", um ein Beispiel zu nennen, beginnt schlicht mit Wandergitarre und entferntem Horn und kreist sich schließlich über eine schluchzende Solovioline in eine Passage mit gespenstisch gedämpften Streichern, gedämpftem Blech und unheilvollem Donnern der Großen Trommel hinein, die an fernes Schlachtengewitter denken lässt. Das alles macht Zender mit dem nötigen Maß an frecher Verschmitztheit, sprühender Intelligenz und meisterhafter Instrumentationskunst - eine so herausfordernde (nämlich den Hörer als hörend nachvollziehenden Mit-Interpreten) wie beglückende Interpretation, die ich sehr empfehlen möchte.

    Grüße
    vom Don

  • Ich finde den Zender auch intelligent und gut; es ist außerdem heilsam, denke ich, die Lieder von so einer Konzertflügel-Frack-, Lauschen-wir-in-uns-Hinein-Pseudo-Innerlichkeit zu befreien. Dazu weist er die Wege. Aber: genau als "komponierte Interpretation" lässt dieser Zyklus natürlich auch deutlich weniger Raum für Interpretationen des Hörers; er erzwingt Vieles und ist mir in diesem Sinne ein wenig zu didaktisch. Aber das spricht nicht gegen die kompositorische Qualität und auch nicht gegen die hervorragende Einspielung, auf die Du hinweist.

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