Chopin: Die Balladen

  • In all dem ist dieses Stück purer Ausdruck extremer menschlicher Erfahrungen und Seelenzustände, rücksichtslos gegenüber Spielern und Zuhörern

    Ja, wenn man sich auf diese Betrachtungsweise konzentriert. Allerdings nehme ich diese Ballade gleichzeitig als geschlossener wahr als beispielsweise über weite Strecken die Fantaisie-Polonaise mit ihrer bisweilen umherirrend-suchenden Charakteristik. Letztere ist, wie ich es höre, schwerer zugänglich, löst sich aber wohlgefälliger auf. Die Ballade hat durchaus auch vornehme, empfindsame Züge, aber eingebettet in eine sehr komplexe, z.T. polyphone Struktur und in der Ausarbeitung mit durchaus auch radikalen Mittel sehr fordernde Klangsprache. Eine Herausforderung für den Interpreten, eine überzeugende Balance zu finden, die die empfindsame Seite der Menschlichkeit Chopins genausowenig leugnet wie die verstörend kompromisslose kompositorische Kunst.

  • Eine Herausforderung für den Interpreten, eine überzeugende Balance zu finden, die die empfindsame Seite der Menschlichkeit Chopins genausowenig leugnet wie die verstörend kompromisslose kompositorische Kunst.

    Ich bin mir gar nicht so sicher, ob das ein Gegensatz ist. Anders als z.B. die plötzlich in den idyllischen A-Teil hereinbrechenden Kaskaden in der F-Dur-Ballade kommt hier doch die Katastrophe des Schlusses nicht unvermittelt sondern entwickelt sich aus einer aus dem Ruder laufenden Steigerung bis zu den irren, sich überschlagenden Akkorden als Höhepunkt, bevor dann nach dem kurzen Innehalten alles zusammenbricht. Das erinnert fast an manche Stellen bei Ravel, allerdings ohne dessen kalkulierte Kühle. Die "empfindsame Seite der Menschlichkeit" enthält deshalb hier von vornherein den Keim der Katastrophe. Ich finde deshalb nicht, dass das Ziel eine Balance zwischen Idylle einerseits und Katastrophe andererseits sein sollte (das wäre zumindest in den beiden ersten Abschnitten der F-Dur-Ballade so), sondern dass die Verunsicherung, die Suche, die dann doch nur zur Katastrophe führt, von vornherein spürbar sein muss. Die f-Moll-Ballade ist von den vieren ohne Zweifel die mit dem am meisten improvisatorischen Charakter, und zwar vom ersten Ton an. Es gibt bei ihr durchgehend viel weniger Stabilität, weniger Sicherheit als bei den anderen dreien.

  • sondern entwickelt sich aus einer aus dem Ruder laufenden Steigerung bis zu den irren, sich überschlagenden Akkorden als Höhepunkt, bevor dann nach dem kurzen Innehalten alles zusammenbricht

    D'accord. Das ist zu einem erheblichen Teil wohl das, was ich mit "geschlossen" meinte. Chopin entwickelt das Ganze aber nicht wie z.B. oft Beethoven aus einem der Entwicklung dieser Katastrophe entsprechenden strengen Thema, sondern aus seiner Lyrik heraus, welche lange wichtiges Teilelement des Geschehens bleibt. Mit Balance meinte ich, den gesanglichen Charakter dieser Themen nicht zu verlieren ohne dabei auf die zunehmende Stringenz zu verzichten. Und da sich diese Katastrophe stetig mehr ausprägt, verschiebt sich diese Balance immer mehr.

    Es gibt bei ihr durchgehend viel weniger Stabilität, weniger Sicherheit als bei den anderen dreien

    Das stimmt, aber interessanterweise auch - korrigiere mich, wenn ich da falsch liege - eine sehr strikte Umsetzung, die auf die verwobene Entwicklung anstatt auf kontrastierende Blöcke ausgerichtet ist.

  • "Geschmackvoll gelassen", "zur Erbauung anderer", ohne "tiefe Enthüllungen" (!), und das alles nicht etwa zu den Walzern (wo es über weite Strecken auch schon falsch wäre) sondern ausgerechnet zu der f-Moll-Ballade, die eines der radikalsten, modernsten Werke ihrer Zeit ist, mit harmonischen Wendungen, die weit in die Zukunft weisen, mit den extremsten Kontrasten, die auf dem Klavier möglich sind, mit explodierender, bis an die Grenze der Wahrnehmbarkeit gehender Harmonik und einem Schluss, der sogar die spieltechnischen Grenzen bis ins Utopische überschreitet. In all dem ist dieses Stück purer Ausdruck extremer menschlicher Erfahrungen und Seelenzustände, rücksichtslos gegenüber Spielern und Zuhörern. Das hat nichts, aber wirklich gar nichts mit dem zu tun, was Du da oben schreibst.

    Jetzt mische ich mich doch noch einmal ein!

    Meinst Du nicht, Christian, dass diese Zusammenstellung von Zitaten ganz bewusst Rosamunde falsch verstehen will?

    Wenn das immer so läuft, kann man in diesem Forum nicht mehr argumentieren. Da muss ich Rosamunde Recht geben. Sorry!

    Ich gebe gerne zu, dass ich aus dem Dialog zwischen Dir und Tastenrabe zuletzt nur lernen konnte.

    Und gerade deshalb: Schade!

    Es grüßt Wolfgang.

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • Mit Balance meinte ich, den gesanglichen Charakter dieser Themen nicht zu verlieren ohne dabei auf die zunehmende Stringenz zu verzichten. Und da sich diese Katastrophe stetig mehr ausprägt, verschiebt sich diese Balance immer mehr.

    Ja, damit bin ich einverstanden.

    Das stimmt, aber interessanterweise auch - korrigiere mich, wenn ich da falsch liege - eine sehr strikte Umsetzung, die auf die verwobene Entwicklung anstatt auf kontrastierende Blöcke ausgerichtet ist.

    Ich vermute zu verstehen, was Du meinst :) . Das Wort "strikt" würde ich persönlich in diesem Zusammenhang vielleicht nicht verwenden, weil es für mich mehr nach Strenge und Konsequenz klingt, während die Entwicklung hier eher in einer Art komponierter Improvisation stattfindet, die dann immer mehr in diesen besonderen "Sog" gerät. Aber wahrscheinlich meinen wir im Grunde dasselbe.

  • Ich vermute zu verstehen, was Du meinst

    Ich würde meinen mögen, daß du da richtig liegen könntest ... :D (sehr schön formuliert )

    während die Entwicklung hier eher in einer Art komponierter Improvisation stattfindet, die dann immer mehr in diesen besonderen "Sog" gerät

    Ja, einverstanden. Umso faszinierender, wie ein Komponist es schafft, einen musikalischen 70-Tonnen-Truck geradewegs bergab in die Katastrophe rauschen und es dann auch noch wie eine Improvisation wirken zu lassen. Da haben wir die gemeinte "strikte" Umsetzung, wobei diese Bezeichnung wohl wirklich irreführend sein kann (es ist schließlich eine Ballade und keine Fuge oder Sonatendurchführung)

  • :P :D + NB - off topic; Bezug jetzt in den Untiefen des Forums verschwunden:

    Würde jemand zu mir sagen, mir würde das Gebet einer Jungfrau "sicher" gefallen, ich würde ihn anzeigen wegen Körperverletzung ...

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • :D

    Siehst Du, der eine entdeckt die Große Fuge, der andere die Planeten, der dritte ...

    Eigentlich beneidenswert.

    Hab die Nummer schon geklimpert, aber letztlich tut einem dann das Klavier leid.

    Immerhin eine Komposition, die man nicht interpretieren muss, nicht falsch oder schlecht interpretieren kann.

    Nein, das haben die Balladen von Chopin nicht verdient, dass man die Thekla hier vorfindet, das hätte noch nicht einmal die Toccata von Khatchaturian verdient ... oder die Spiegel-Nummer von unserem milden, aber mittlerweile alten Esten ... :versteck1:

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • Es ging der Foristin doch erkennbar um die Rolle des Salons und eine Wertung diesbezüglich, vor allem auf Liszt und Chopin im Vergleich bezogen.

    Alle Zitate beschäftigten sich nicht mit der "Rolle des Salons" sondern mit der Charakterisierung der f-Moll-Ballade. In diesem Zusammenhang steht da z.B., in Chopins Musik seien "ernsthafte Enthüllungen nicht erlaubt". Das ist derart verquer, dass ich wirklich Mühe mit der Vorstellung habe, irgendjemand könne so etwas ernst meinen. .
    Zur "Rolle des Salons" kannst Du doch einfach einen neuen Thread eröffnen (ernst gemeinter Vorschlag!). Da könnte man dann z.B. schreiben, dass Berlioz von Chopin berichtet hat, dieser habe immer erst dann angefangen zu spielen, wenn das plaudernde Publikum weg war. Dass es ihm nicht um "Party Tricks" ging, kann man also sogar ohne jedes Musikverständnis wissen.

  • Hier gilt's der Ballade No.1 , zweimal ABM , und mir gefällt die 1962er Live besser als die ca.10 Jahre jüngere DG Produktion . ( War aber auch schon mal umgekehrt ). Ansonsten hat sich ABM noch viel mehr mit der Ballade No.1 beschäftigt .

    https://www.youtube.com/watch?v=EfttRR…_7Fuatp&index=8

    Und in Turin kann man ihm zuschauen : https://www.youtube.com/watch?v=X45xLfQGXaA

    Good taste is timeless "Ach, ewig währt so lang " "But I am good. What the hell has gone wrong?" A thing of beauty is a joy forever.

  • Alle Zitate beschäftigten sich nicht mit der "Rolle des Salons" sondern mit der Charakterisierung der f-Moll-Ballade. In diesem Zusammenhang steht da z.B., in Chopins Musik seien "ernsthafte Enthüllungen nicht erlaubt". Das ist derart verquer, dass ich wirklich Mühe mit der Vorstellung habe, irgendjemand könne so etwas ernst meinen. .
    Zur "Rolle des Salons" kannst Du doch einfach einen neuen Thread eröffnen (ernst gemeinter Vorschlag!). Da könnte man dann z.B. schreiben, dass Berlioz von Chopin berichtet hat, dieser habe immer erst dann angefangen zu spielen, wenn das plaudernde Publikum weg war. Dass es ihm nicht um "Party Tricks" ging, kann man also sogar ohne jedes Musikverständnis wissen.

    Das Zitat mit den Party Tricks habe ich anders verstanden. Vielleicht kann ich aber nicht lesen.

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • Das Zitat mit den Party Tricks habe ich anders verstanden.

    Rosamunde bezog "Party tricks" zunächst eindeutig auf Liszt. Dann sagt sie, daß sie den "großbürgerlichen Salon", den sie allerdings nochmal dadurch charakterisiert, daß da Liszt-Manieren vorkommen können, auch bei Chopin hört. Aus dem folgenden wird aber deutlich, daß sie gleichwohl Chopin und Liszt unterscheidet. Ich würde da einen gewissen Klärungsbedarf sehen, also Anlaß zur Nachfrage, mehr aber auch nicht.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Die zeitweise hier geführte Diskussion zum musikalischen Salon kann in diesem Faden fortgesetzt werden.

    Außerdem wurden Beiträge zu Chopins Bedeutung und stilistischer Einordnung in den Thread zum Komponisten verschoben. Hier können die Balladen weiter besprochen werden.

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