Stirbt das Klassik-Publikum aus?

  • Dieser Artikel zeigt exemplarisch die Überheblichkeit derer, die sich als Sachwalter der "Hochkultur" aufspielen. Gelten lässt man nur das was dem eigenen Kulturverständnis entspricht. Der zeitgenössischen "Populärmusik" wird schlicht die Daseisberechtigung abgesprochen und als künstlerisch minderwertig abqualifiziert. Mit dieser Haltung weckt man kaum Begeisterung unter jungen Menschen, deren bevorzugte Musik man so aus reinem Dünkel als minderwertig bezeichnet.
    Und der Autor lässt ja zum Schluss auch die Maske fallen: Man solle mehr zeitgenössische und weniger "tote" Musik aufführen. Er übersieht dabei, und zwar aus Prinzip, dass überwiegend zeitgenössische Musik aufgeführt und verbreitet wird. Nur nicht die welche er gerne hätte.

    Peter

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • ist die Lebensphase eines Universitätsstudiums aus meiner Sicht hervorragend geeignet, den eigenen Horizont zu erweitern

    Das sollte nicht nur für diese Phase sondern für das gesamte Leben gelten. Wer seine Neugier verliert, der hat schon verloren.

    Peter

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • Warum nun besonders Studenten sich mit klassischer Musik befassen sollten, leuchtet mir nur bedingt ein.
    M.E. "sollte" sich jeder mit klassischer Musik befassen. Nicht im Sinne eines moralischen Sollens, sondern als gut gemeinte Empfehlung, weil man bestimmte ästhetische Erlebnisse (die ich aus eigener Erfahrung als außerordentlich/herausragend/... empfinde) nur dort erfahren kann. Und daher sollte man zumindest mal ausprobieren, ob man dafür rezeptiv ist.
    Bei Studierenden sind die Voraussetzungen normalerweise günstig: Uni-Städte bieten meistens recht gute Möglichkeiten für Klassikkonzerte, sie kriegen günstigere Karten, sind zeitlich recht flexibel usw. Vermutlich ist es eine der letzten Gelegenheiten, wobei 20jährige heutzutage natürlich schon von Kind auf 10 oder Jahre popkulturell konditioniert worden sind, daher wäre eine deutliche frühere Anwerbung vorteilhaft. Andererseits sind jüngere Jugendliche noch mehr von peer groups geprägt, während man bei Studierenden schon eher erwarten kann, auch "uncoole" Sachen auszuprobieren.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • M.E. "sollte" sich jeder mit klassischer Musik befassen. Nicht im Sinne eines moralischen Sollens, sondern als gut gemeinte Empfehlung, weil man bestimmte ästhetische Erlebnisse (die ich aus eigener Erfahrung als außerordentlich/herausragend/... empfinde) nur dort erfahren kann. Und daher sollte man zumindest mal ausprobieren, ob man dafür rezeptiv ist.

    Das kann man auch kürzer fassen:
    Man sollte klassische Musik zumindest versuchen, weil man sonst etwas in seinem Leben zu verpassen droht.

    :cincinbier:

    "it's hard to find your way through the darkness / and it's hard to know what to believe
    but if you live by your heart and value the love you find / then you have all you need"
    - H. W. M.

  • Das sollte nicht nur für diese Phase sondern für das gesamte Leben gelten. Wer seine Neugier verliert, der hat schon verloren.


    Es geht hier nicht nur um Neugier, sondern gewissermaßen auch um eine "Schule des Geistes". Im Studium lernt man ja nicht nur Fachwissen, man lernt auch strukturiertes Denken. In dieser Lebensphase den eigenen Geist mit verschiedenen Stimulanzien zu füttern, und nicht nur einseitig mit einer Denkweise, halte ich für sehr empfehlenswert. (Hinzu kommt das praktische Argument von Kater Murr, dass man als Student günstig kulturelle Angebote wahrnehmen kann.)

    Das bedeutet natürlich nicht, dass man die Erweiterung des eigenen Horizonts mit dem Examen beenden sollte.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Es geht hier nicht nur um Neugier, sondern gewissermaßen auch um eine "Schule des Geistes". Im Studium lernt man ja nicht nur Fachwissen, man lernt auch strukturiertes Denken. In dieser Lebensphase den eigenen Geist mit verschiedenen Stimulanzien zu füttern, und nicht nur einseitig mit einer Denkweise, halte ich für sehr empfehlenswert. (Hinzu kommt das praktische Argument von Kater Murr, dass man als Student günstig kulturelle Angebote wahrnehmen kann.)

    Das wäre wünschenswert, ist aber de facto selten geworden. Als mein Vater in den frühen 1970er Jahren Mathematik studierte, musste er keine einzige Vorlesung abprüfen lassen. Ausschließlich Seminare mussten mit einem Zeugnis abgeschlossen werden. Ich hingegen musste in meinem Studium bereits weit über 100 Einzelprüfungen ablegen (Matrikeljahr 1996).

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Das wäre wünschenswert, ist aber de facto selten geworden. Als mein Vater in den frühen 1970er Jahren Mathematik studierte, musste er keine einzige Vorlesung abprüfen lassen. Ausschließlich Seminare mussten mit einem Zeugnis abgeschlossen werden. Ich hingegen musste in meinem Studium bereits weit über 100 Einzelprüfungen ablegen (Matrikeljahr 1996).


    Das finde ich dann nicht dramatisch, wenn diese Einzelprüfungen nicht alle in das Abschlusszeugnis eingehen - dann kann man die nämlich ohne Notendruck absolvieren. So ging es mir in meinem Studium: man musste viele Prüfungen machen, aber es war im Prinzip egal, auf welchem Notenniveau die gestemmt wurden.

    Das heutige Bachelor-Master-System hingegen hat m. E. viel zu viele Zeugnis-relevante Prüfungen, was den Aktionsradius ziemlich einschränkt. Wir konnten noch das Studium absolvieren und uns dann fürs Examen auf den Hosenboden setzen - das geht heute nicht mehr, weil sozusagen ständig Examen ist.

    LG :wink:

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  • Das jetzige System funktioniert eben nach dem Prinzip Schule, wobei ich nicht den Bachelorgrad selbst als Problem betrachte, sondern die propagierte Sicht, es handle sich tatsächlich um eine Berufsausbildung. Deswegen ist der Frust auch nachher bei vielen groß.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Dieser Artikel zeigt exemplarisch die Überheblichkeit derer, die sich als Sachwalter der "Hochkultur" aufspielen.

    Ich habe mich ungefähr während der ersten zwei Drittel des Artikels gefragt, worauf Moritz Eggert eigentlich hinaus will. Das hat er dann mit wenigen Worten gegen Ende gesagt (und das war dann auch alles, was er zu sagen hatte): In Konzerten soll 50 Prozent "Altes" und 50 Prozent "Neues" gespielt werden. "Neues" soll dabei nicht einfach nur neu, auch nicht nur gut, sondern stilistisch zwischen Avantgarde und "Easy Listening" liegen - also vermutlich etwa so wie die Werke von Moritz Eggert. Der Link zu den "haufenweise tolle[n] Komponistinnen und Komponisten, die tatsächlich noch heute leben", und denen man deshalb doch dringend eine 50-Prozent-Quote zubilligen müsste, führt übrigens zu einem Zeit-Interview mit Isabel Mundry, Sarah Nemtsov, Johannes Maria Staud und - Moritz Eggert.

    Übrigens (so viel Gerechtigkeit muss schon sein) stimmt es nicht, was Gerald Mertens (der ja in diesem Thread auch schon genannt wurde) in seinem Kommentar zu Eggerts Artikel schreibt, dass dieser nämlich bei einem Konzert in Gießen Monteverdi, Rameau, Strawinsky und Eggert auf das Programm gesetzt habe: Wenn man den von Mertens verlinkten Artikel liest (was Mertens offenbar nicht so richtig getan hat), stellt man fest, dass der angebliche Monteverdi eine Eggert-Uraufführung "nach" Monteverdi war und der Rameau nicht auf dem Programm stand sondern vom Uraufführungspianisten Moritz Ernst (der übrigens mal mein Klavierschüler war) als Zugabe gespielt wurde.

    Christian

  • Bei allen Schwächen, die man dem Text von Eggert vorwerfen mag, spricht er einen Punkt m. E. zu recht an: es wird zu wenig zeitgenössische Kunstmusik gespielt. Heutige Komponisten haben es schwer, eine weithin sichtbare Aufführung zu ergattern, d.h. nicht im Rahmen eines Mini-Festivals oder eines Musikhochschulkonzertes, sondern mal im Abo-Konzert des örtlichen Sinfonieorchesters aufzutauchen.

    LG :wink:

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  • Was Eggert vorbringt, nennt man neudeutsch "rant". Da darf man keine strukturierte Argumentation erwarten. Ich frage mich allerdings, ob seine Kernthese, nämlich dass klassische Musik "tot" sei, wenn nicht genügend zeitgenössische klassische Musik gespielt würde, wirklich so plausibel ist.
    Verglichen mit der Zeit Mozarts, in der fast nur neue Musik gespielt wurde, wurde zur Zeit Richard Strauss' und Alban Bergs sicher erheblich mehr nichtzeitgenössische Musik gespielt. Hat das der zeitgenössischen Musik ca. 1900-1940 massiv geschadet vgl. mit der Musik 1760-1800?

    Ich kenne mich in der Kulturgeschichte nicht genügend aus und die gegenwärtige Situation, dass zeitgenössische ("klassische") Musik marginalisiert ist (denn zeitgen. Populärmusik ist es ja keineswegs), ist sicher sehr untypisch. Meinetwegen auch relativ unfruchtbar. Aber deswegen gleich scheintot oder gar untot? Ich kenne das, wie gesagt, nur aus Populärliteratur, aber dominierte im alten China nicht jahrhundertelang die Doktrin, dass jegliche Kunst/Literatur/Philosophie nur den konfuzianischen Klassikern usw. nacheifern dürfte und je besser wäre, je näher sie diesen unerreichbaren Idealen käme?
    Warum sollte man bestimmte Kunstformen nicht jahrhundertelang "museal", aber durchaus mit Begeisterung betreiben, während die jeweils zeitgenössischen Fortsetzungen dieser Kunstformen eben 1%, nicht 50% ausmachten? Oder, wie bei uns, es parallel eine Populärmusik gibt, die eh den Löwenanteil der gegenwärtigen Musik ausmacht?

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    (B. Pascal)

  • Uraufführungspianisten Moritz Ernst (der übrigens mal mein Klavierschüler war)

    Dann hast du ihm (neben bestimmt vielem anderen) eine beeindruckende Ausdauer mitgegeben! Ernst hat ja in den letzten 12 Monaten einen beachtlichen Output hingelegt. Und überwiegend ganz originelle Projekte (Haydn geht immer!).

    Dieser Artikel zeigt exemplarisch die Überheblichkeit derer, die sich als Sachwalter der "Hochkultur" aufspielen.

    In der Einschätzung der Gegenwartsmusik finde ich Eggert in diesem Artikel auch ein bisschen beschränkt. Andere Dinge (Konzertsäle bitte unbegrenzt, kommerzieller Erfolg darf keine Richtschnur sein, Musik transzendiert unser "niedriges Dasein" etc.) sehe ich ganz anders. Worin er aber meiner Meinung nach Recht hat, ist seine Kritik an einem unreflektierten Gebrauch historischer Musik. Von der starren Programmierung, die sich bis heute erhalten hat, bis zur anwachsenden Bedeutung nicht-musikalischer Bestandteile (Starkult, Architektur des Konzerthauses etc) demonstrieren viele Elemente heutiger "klassischer" Konzerte, dass es eigentlich gar keine genaue Vorstellung davon gibt, warum man zusammenkommt und 100, 200, 300 Jahre alten Ideen von Klangorganisation lauscht. Sein Vorschlag, über die Klanglichkeit der Gegenwart wieder einen Bezug zur Vor-Geschichte zu kriegen, ist sicher eine Option. Ich könnte mir auch vorstellen, dass eine gegenwärtige Berechtigung alter Musik gerade dadurch erreicht würde, dass man sie aus ihrer eigenen Zeit kommend versteht und nicht so tut, als hätte sie auch heute geschrieben worden sein können.

  • bis zur anwachsenden Bedeutung nicht-musikalischer Bestandteile (Starkult, Architektur des Konzerthauses etc)

    Das war m.E. früher auch nicht anders. Die älteren Opernhäuser und Konzertsäle dienten auch der Repräsentation, und wollten das Publikum beeindrucken. Und den Starkult kennen wir spätestens seit dem Barock.

    Peter

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • Das war m.E. früher auch nicht anders. Die älteren Opernhäuser und Konzertsäle dienten auch der Repräsentation, und wollten das Publikum beeindrucken. Und den Starkult kennen wir spätestens seit dem Barock.

    Ja, aber doch für die längste Zeit als Merkmale einer Musik der Gegenwart, nicht als Begründung für die Programmierung alter Musik! Werke, die wir heute "klassisch" nennen, entstanden aus der Mitte der Gesellschaft als Dokumente ihrer Zeit und wurden in Räumen (deren Zeitgebundenheit erkennt Eggert irgendwie nicht) präsentiert, die Werk und Gesellschaft Rechnung trugen (die letzte Neuerung dürfte hier die Weinbergarchitektur der Berliner Philharmonie in der jungen Demokratie gewesen sein). Wann vor, sagen wir mal, 1914 war es denn die Regel, dass Menschen ihrer Zeit Musik einer fernen Vergangenheit in einem nach ebenfalls alten Prinzipien gebauten Saal zuhörten? Gegen diesen Historismus ist ja erstmal nichts zu sagen, aber ich verstehe Moritz Eggert, wenn er sich der Distanz zur Entstehungszeit der Werke wieder bewusst werden will - sei es durch den Kontrast zu Klängen der Gegenwart oder durch eine umfassenden Einführung (nicht das oft ziellose Gerede 60 Minuten vor Beginn) oder Ähnliches. Ansonsten hat man es vielleicht wirklich mit einer "hübsch geschminkten Leiche" statt einer lebhaften Vergegenwärtigung des als vergangen Erkannten zu tun.

  • wenn er sich der Distanz zur Entstehungszeit der Werke wieder bewusst werden will - sei es durch den Kontrast zu Klängen der Gegenwart oder durch eine umfassenden Einführung

    Das sehe ich ähnlich. Die übliche Mischung der Programme geht mir ohnehin schon länger auf den Geist, und so gehe ich selbst in Konzerte die mich eigentlich interessieren würden nicht hinein. Die Zusammenstellungen, auch unter Einschluss zeitgenössischer Werke, sind nicht selten ziemlich zusammenhanglos, einfach nach dem Motto "Hauptsache was Modernes drin". Bei den Einführungen hätte ich die Befürchtung das viele das gar nicht so genau wissen möchten, frei nach dem NDR 3 Motto "Hören und geniessen". Aber man könnte das ja auch durchaus unterhaltend gestalten. Das ist übrigens auch ein wichtiges Merkmal für Anfängerkonzerte (gleich welchen Alters), dass man etwas zum Werk und seiner Entstehung erzählt, gewissermaßen "the talking booklet", gerne auch mit Klangbeispielen. Wenn den Leuten so ein schwerer Brocken ohne Vorwarnung vor den Latz geknallt wird, ist das schnell mal kontraproduktiv. Man sollte auch ruhig mal davon erzählen, was es bedeutet ein bedeutendes Werk zu schaffen, und warum das eigentlich bedeutend ist. Aber bitte nicht mit der Attitüde "Achtung Hochkultur, aufrecht sitzen!".

    Peter

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • Um den Bogen zurück zum Thema zu bekommen: es ging ja um die Frage, ob man den Anspruch an Studentinnen und Studenten formulieren soll/kann, sich mit klassischer Musik zu befassen.

    Mir wäre das in dieser Formulierung etwas zu speziell, aber in einer allgemeineren Formulierung halte ich es durchaus für zuteffend. Ich würde nämlich sehr wohl den Anspruch an Studentinnen und Studenten formulieren wollen, dass sie sich auch mit Bildungsgütern jenseits ihres eigenen Faches befassen sollten - dies kann durchaus klassische Musik sein, muss es aber nicht.

    Ich bin der festen Überzeugung, dass eine geistige Betätigung in verschiedenen Disziplinen letztlich immer auch einen Gewinn für die Fähigkeiten in der eigenen Disziplin bedeutet.

    Eben gerade weil eine Universität keine Stätte der Berufsausbildung, sondern der akademischen Ausbildung ist, ist die Lebensphase eines Universitätsstudiums aus meiner Sicht hervorragend geeignet, den eigenen Horizont zu erweitern. Es ist bedauerlich, dass die "modernen" Studiengänge des Bachelor-Master-Zuschnitts hierfür nicht mehr unbedingt Raum bieten.

    LG :wink:

    Mir aus der Seele gesprochen, ebenso wie spätere, in die gleiche Richtung argumentierende Beiträge in diesem Thread. Ein Hauptmalheur des modernen Studienbetriebs ist die gesetzliche Vorgabe, die auf quantitativen und leider nicht auf qualitativen Vorstellungen beruht: Lernstoff wird in abgemessenen Portionen gelehrt, abgeprüft, abgehakt. Eine völlig widersinnige Vorstellung! Zusammenhänge, übergreifende Phänomene usw. werden dabei überhaupt nicht berücksichtigt. Wie kann ich Verdi-Opern oder Wagner-Dramen verstehen, wenn ich keine Ahnung von Literatur, bildender Kunst/Architektur, Theaterwissenschaft etc.etc. habe? Der Gesetzgeber möchte nur möglichst viele Absolventen in möglichst kurzer Zeit. Was die wert sind, ist wurscht, auch wenn dies natürlich kein Verantwortlicher zugeben würde, wie ich mir anzunehmen gestatte. Interesse wäre bei den Studierenden oft genug vorhanden, aber für nützliche Extratouren, nicht im Curriculum vorgesehene Diskussionsrunden oder Seminare ist wenig bis kein Platz bzw. keine Zeit über. Zumal sehr viele, wenn nicht die meisten Studierenden daneben noch einer beruflichen Tätigkeit nachgehen (oft sogar müssen).
    Viele Abbrecher sind eigentlich keine solchen, sondern studieren zu Bildungszwecken. Oft wird das erworbene Wissen dann später im Beruf als sehr nützlich empfunden (außerdem werden akademische Abschlüsse oft gehaltsmäßig keineswegs so honoriert, wie man das erwarten würde).

    ______________________

    Homo sum, ergo inscius.

  • Ich könnte mir auch vorstellen, dass eine gegenwärtige Berechtigung alter Musik gerade dadurch erreicht würde, dass man sie aus ihrer eigenen Zeit kommend versteht und nicht so tut, als hätte sie auch heute geschrieben worden sein können.

    Das sehe ich genau anders rum: Musik ist prinzipiell eine Gegenwartskunst, deshalb kann für mich ihre "gegenwärtige Berechtigung" (in diesem Zusammenhang ein etwas problematisches Wort, aber lassen wir das mal beiseite) auch nur in der Gegenwart liegen.
    Noch einmal zu Eggert: Ich fände ihn glaubwürdiger, wenn er nicht seine Forderung nach einem größeren Anteil zeitgenössicher Musik in den Konzertprogrammen mit seinen eigenen stilistischen Vorlieben vermischt hätte. Außerdem müsste er den Widerspruch erklären, der darin liegt, dass er einerseits ablehnt, künstlerische Qualität am Erfolg zu messen, andererseits aber Avantgardemusik kritisiert, weil sich "keine Sau dafür interessiert".
    Zudem stimmt es nicht, dass sich Konzertprogramme in den vergangenen 60 Jahren nicht verändert hätten, man denke etwa nur an die Mahler-Renaissance oder den gewachsenen Stellenwert von Barock-Opern. Und wenn man Musikrezeption nicht nur in Bezug auf Konzerte sondern auch auf Tonträger betrachtet, ist von der angeblich ewigen Wiederholung derselben Stücke ohnehin nicht mehr viel übrig. Junge Künstler suchen doch heute geradezu zwanghaft nach Repertoirelücken; das auf Tonträgern verfügbare Repertoire an Musik aller Epochen dürfte deshalb heute um ein Vielfaches höher liegen als noch vor wenigen Jahrzehnten.

    Wie kann ich Verdi-Opern oder Wagner-Dramen verstehen, wenn ich keine Ahnung von Literatur, bildender Kunst/Architektur, Theaterwissenschaft etc.etc. habe?

    Es ist teilweise noch schlimmer: Es gibt Musikstudenten, die von einem Komponisten genau ein Werk kennen, nämlich das, welches sie gerade spielen. Ich hatte das neulich tatsächlich mit einer Geigenstudentin im Master, die einfach den Schumannschen Tonfall in der a-moll-Sonate nicht traf, woraufhin ich sie fragte, welche Werke von Schumann sie denn noch kennt. Nach längerem Schweigen meinte sie, sie habe "mal die andere Sonate gehört". Auf meine Nachfrage, welche der beiden anderen sie meint, kam keine Antwort mehr, auch an eine Tonart oder ein jeweils vorgespieltes Thema konnte sie sich nicht erinnern. Ich fragte sie dann gezielt nach Symphonien, Klaviermusik, Kammermusik (Klavierquintett!), Liedern, aber alles ohne Erfolg. Sie wusste nicht einmal, dass Schumman verheiratet war. Ein Kollege von mir hat mir daraufhin erzählt, dass er mal einen Studenten hatte, der nicht nur auf die Frage nach den Lebensdaten von Bach keine Antwort wusste sondern auf Nachfrage allen Ernstes vermutete, dass der noch unter den Lebenden weilt. Kein Witz.

    Christian

  • Ein Kollege von mir hat mir daraufhin erzählt, dass er mal einen Studenten hatte, der nicht nur auf die Frage nach den Lebensdaten von Bach keine Antwort wusste sondern auf Nachfrage allen Ernstes vermutete, dass der noch unter den Lebenden weilt. Kein Witz.

    Bach ist irgendwie immer aktuell.. :)

    Das sehe ich genau anders rum: Musik ist prinzipiell eine Gegenwartskunst, deshalb kann für mich ihre "gegenwärtige Berechtigung" (in diesem Zusammenhang ein etwas problematisches Wort, aber lassen wir das mal beiseite) auch nur in der Gegenwart liegen.

    Das sagt sich so bequem, aber hätte dann nicht vieles einach keine Berechtigung mehr? Wenn Couperin in seinen Triosonaten "Les Nations" französischen und italienischen Stil auf neue Art kombiniert, weil in den 1690er Jahren in ganz Paris die Triosonaten Corellis gespielt wurden, würden das ohne Vorwissen, nur hörend, geschätzt 0,1% der gegenwärtigen Konzertgänger erkennen. Dass es sich um stilisierte Tänze handelt, würde ohne Vorwissen auch keiner mehr hören, weil niemand die Tänze noch beherrscht. Ein wichtiger Teil der Musik ist einem heute also verschlossen (wenn man die historische Distanz eben nicht herausstellt, sondern so tut, als wäre das heute noch genauso verständlich), da wird's mit der Berechtigung bei einigen Stücken schon eng.

  • Ein wichtiger Teil der Musik ist einem heute also verschlossen (wenn man die historische Distanz eben nicht herausstellt, sondern so tut, als wäre das heute noch genauso verständlich), da wird's mit der Berechtigung bei einigen Stücken schon eng.

    Wieso denn das? Wer heute Musik des, sagen wir, 17. Jahrhunderts aufführt, braucht doch keine Berechtigung dafür! Auch wenn den Aufführenden und dem Publikum heute das eine oder andere, was in solcher Musik enthalten ist, auch Wichtiges, nicht mehr erkennbar ist - solchen Aufführungen die "Berechtigung" abzusprechen, finde ich schon ziemlich schräg.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Wieso denn das? Wer heute Musik des, sagen wir, 17. Jahrhunderts aufführt, braucht doch keine Berechtigung dafür! Auch wenn den Aufführenden und dem Publikum heute das eine oder andere, was in solcher Musik enthalten ist, auch Wichtiges, nicht mehr erkennbar ist - solchen Aufführungen die "Berechtigung" abzusprechen, finde ich schon ziemlich schräg.

    Nein, natürlich braucht niemand eine Berechtigung um Musik aufzuführen. Christian meinte nur, die "Berechtigung" (wohl im Sinne von "Antrieb" oder "Auslöser") zur Aufführung von Musik könne, da es Gegenwartskunst sei, nur in der Gegenwart liegen. Aber in der Gegenwart findet sich, deswegen mein Beispiel, bei mancher Musik vielleicht gar nicht so viel, was eine Aufführung rechtfertigt. Ließe sich, das war der Punkt, beheben, indem man den historischen Charakter der Musik deutlicher betont und gerade dadurch wieder mit der Gegenwart verbindet. So in etwa hatte ich auch Eggert verstanden...

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