Bach, J. S.: Matthäus-Passion, BWV 244 - Die Große Passion

  • Nach den Erläuterungen des Dirigenten Richard Egarr wird hier die Fassung von 1729 eingespielt, die Egarr der üblichen von 1736 vorzieht.

    Das wäre dann die zweite Aufnahme der Fassung von 1727 (nicht 29, oder?), die dieses Jahr erscheint...

    Soll ja nicht schaden. Derzeit bin ich recht angetan von Seymours Aufnahme:

    Details bei Bedarf und mit etwas Zeit sehr gerne.

    LG - C.

  • Auf der Rückseite der Seymour-Aufnahme steht, dass die aufgenommene Version der MP von 1727 ist und die BWV-Nr. 244b hat. Bei der Egarr-Aufnahme steht auf der Rückseite, dass die dort aufgenommene Version der MP auch von 1727 ist aber als BWV-Nr. ist nur die 244 angegeben.

    Gibt es jetzt da noch einmal Unterschiede zwischen der MP, BWV 244b von 1727 mit der MP, BWV 244 ebenfalls von 1727 und gibt es noch die MP, BWV 244a oder ist das die übliche gespielte Version aus den 1730er Jahren?

    Bei Presto-Classical steht über die von Egarr aufgenommene Version u. a., dass anstatt des Schlusschors zum 1. Teil (O Mensch, bewein dein Sünde groß) ein schlichter Choral steht und die Arie "Ach, nun ist mein Jesus hin" wird vom Bass und nicht vom Alt gesungen. Des weiteren ist in der Arie "Komm, süßes Kreuz" nicht die Viola da Gamba, sondern die Laute das obligate Soloinstrument.

    Armin

    "Musik ist für mich ein schönes Mosaik, das Gott zusammengestellt hat. Er nimmt alle Stücke in die Hand, wirft sie auf die Welt, und wir müssen das Bild zusammensetzen." (Jean Sibelius)

  • Nach nunmehr knapp drei Jahren habe ich mir spontan mal wieder eine neue Einspielung der MP gegönnt - und im Gegensatz zu meiner Vermutung, daß es nur noch HIPpe Aufnahmen sein würden, die noch dazu kämen, ist es stattdessen eine traditionelle geworden. Es ist meine 20. Einspielung einer MP - diese:

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    (P) 1959 Vanguard "The Bach Guild" BGS 5022/5 (4 LPs) [198:34]
    rec. Frühjahr 1959 (Großer Saal des Musikvereins, Wien)
    EAN: 3351475102735

    Teresa Stich-Randall (s - Arien)
    Hilde Rössel-Majdan (a - Arien)
    Waldemar Kmentt (t - Arien)
    Walter Berry (b - Arien, Pilatus, 2. Hohepriester)

    Uno Ebrelius (t - Evangelist)
    Hans Braun (b - Jesus)
    Max Weirich (b - Petrus)
    Friedl Kummer (b - Judas, 1. Hohepriester)
    Laurence Dutoit (s - Pilati Weib, 1. Magd)
    Christl Zottl-Holmstaedt (a - 1. falscher Zeuge, 2. Magd)
    Karl Vogel (t - 2. falscher Zeuge)

    Wiener Kammerchor
    Knabenchor des Schottenstift
    Orchester der Wiener Staatsoper

    Dirigent: Møgens Wöldike

    Spontane Neugier hatte mich veranlaßt, diese CD zuzulegen. Und ich hatte nicht erwartet, solch ein seltenes Teil an Land zu ziehen, denn diese CD-Ausgabe von 1997 ist schwerer zu bekommen als ein Exemplar der LP-Erstausgabe. Aber der Reihe nach...

    Diese Einspielung gehört zu den ersten Stereo-Aufnahmen der MP, die Ende der 1950er Jahre gemacht worden waren. Im Zuge der Richter-Einspielung von der Archiv Produktion, die auch in den USA Furore gemacht hatte, hatte sich Vanguard vorgenommen, eine eigene Produktion auf die Beine zu stellen. Da die Passion in Originalsprache erklingen sollte, wendete man sich an die ortsansässigen Kräfte in Wien, um etwas Geeignetes zusammenzustellen. Darüber hinaus zeigt es sich auch, daß Bachs Partitur komplett ungekürzt aufgenommen wurde (auch wenn mich bei einigen Arien das Gefühl beschlich, daß einige Takte weggelassen wurden). Gespielt wird die 1736er Fassung.

    Tatsächlich liest sich die Besetzung ziemlich beeindruckend: als Sopran wurde Teresa Stich-Randall aus den USA mitgebracht, mit Rössel-Majdan, Kmentt und Berry hatte man die Crème de la Crème des österreichischen Bachgesangs vorhanden. Mit wienerischen Kräften stemmte man Orchester, Chöre und weitere Solisten - alles unter dem Dirigat eines gebürtigen Dänen.

    Die Umsetzung ist traditionell mit großem, gemischtem Chor, eines Orchesters mit modernem Instrumentarium sowie Solisten, die eindeutig der älteren Gesangstradition entstammt. Als Evangelist ist der Schwede Uno Ebrelius (1918-1988) ist hören, dessen deutsche Aussprache wirklich sehr gut ist. Zwar wirkt sein Timbre etwas seltsam, aber er gestaltet die Rolle mit klarer Diktion und gutem Ausdruck. Hans Braun (1917-1992) war neben seiner Tätigkeit an der Oper auch ein erfolgreicher Bachsänger - hier ist er als Jesus sehr gut bei der Sache, auch wenn seine Stimme sehr tief aus dem Bauch heraus erklingt. Max Weirich und Friedl Kummer artikulieren als Bässe sehr deutlich und intonieren einwandfrei.

    Interessant ist bei dieser Produktion, daß es ein Solisten-Quartett gibt, welches (bis auf eine Ausnahme) nur die Arien singt. Walter Berry singt noch zwei weitere Rollen in den Rezitativen, darunter den Pilatus. Sein dunkler Baß setzt sich so deutlich ab und macht die Arien zu besonderen Höhepunkte; sein Mache dich, mein Herze, rein ist äußerst bewegend und gehört zu den Knallern in dieser Aufnahme. Kmentts elegante Tenorstimme setzt sich deutlich gegen Ebrelius ab, und Hilde Rössel-Majdan kann mit ihrer dunklen Stimme eine besondere Demut in ihren Vorträgen zementieren. Und Teresa Stich-Randall? Kurz gesagt: Knaller! Ihr Vibrato ist leicht ausgeprägt, aber sie benötigt es nicht, um damit mögliche technische Defizite auszugleichen - nie, nicht ein einziges Mal verdeckt ihr Vibrato die Präzision, mit der sie sämtliche Töne trifft und zu einer erstaunlichen Emotionalität erweitert! Unter den Sopranen der älteren Generation hat sie sich auf Anhieb einen Spitzenplatz unter den MP-Solisten gesichert, die ich bisher hören durfte... :verbeugung1:

    Der Wiener Kammerchor wirkt zwar groß, ist aber von einer erfreulich deutlichen Aussprache und Staffelung; der Knabenchor erklingt nicht anders. Das Orchester spielt mit großer Geschlossenheit und weist eine hübsche Anzahl an großartigen Instrumental-Solisten auf (z.B. Willi Boskovsky an der Violine, Jörg Schaftlein an der Oboe, Franz Opalensky und Karl Prohaska an den Querflöten). Die Arien erklingen sehr fragil besetzt mit ihrem bc und dem Solo-Instrumenten und Solisten. Stets bemerkt man die virtuose Brillanz, mit der alle Beteiligten ihre Aufgaben erfüllen.

    Wöldike legt ein sehr breites Tempo auf, so daß diese Einspielung so lang wie die von Richter geraten ist. Der Ausdruck ist ernst, aber nicht so tief, daß man sich gleich mit ans Kreuz nageln läßt (Klemperer läßt grüßen... :D ). Nicht ein einziges Mal habe ich den Eindruck, daß Wöldike hier nur eine Aufgabe erfüllt, sondern daß er stets um würdigen Ausdruck bemüht ist, um Bachs Musik ihre Wirkung zu verleihen. Vom ersten Chor bis zum letzten zieht sich eine klare Linie durch alle 78 Teile, die ganz auf die Verinnerlichung des Passionsgedankens gerichtet ist. Dabei kam mir die etwas entspanntere Stimmung entgegen, die bei Richter so nie zu spüren ist; dort muß um jeden Preis gelitten werden, aber bei Wöldike wirkt es lockerer.

    Die Klangqualität ist sehr gut für das Alter: das Stereo-Panorama ist sehr plastisch, sauber gestaffelt und in seiner Transparenz und Abstimmung wirklich vorzüglich. Allerdings bemerkt man gelegentlich in leisen Passagen, daß die Masterbänder bereits so ihre Probleme hatten. Der Frequenzraum ist gut austariert mit guten Bässen, einer präsenten Mitte und recht klaren Höhen.

    Das einzige, was ich etwas blöd finde, ist die Beschriftung des CD-Sets: als (P) ist 1968 angegeben, was aber nicht korrekt ist, und Aufnahmedaten sind nicht verzeichnet; tatsächlich erschien in jenem Jahr 1968 eine Neuausgabe der 4-LP-Box in einer Billigreihe der Vanguard mit neuem Cover, die auch das hiesige CD-Cover schmückt. Aber bereits im September 1959 wurde die LP-Erstausgabe in der Billboard besprochen - interessanterer Weise ist die Einspielung von Anfang an neben der Mono-Ausgabe auch in der Stereo-Version erschienen.

    Ansonsten hat die CD-Ausgabe ein ordentliches Booklet mitsamt des Librettos in Deutsch sowie einer recht guten englischen Übersetzung. Die drei CDs sind von Sonopress hergestellt worden.

    Fazit: eine sehr gute Aufnahme, wenn man zu Karl Richter eine Alternative wünscht. Klasse...
    :thumbup: :thumbup: :thumbup: :thumbup:


    jd :wink:

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Aber bereits im September 1959 wurde die LP-Erstausgabe in der Billboard

    ... so auch in der Septemberausgabe der high fidelity, S. 57. Konkrete Ausnahmedaten sind in der Tat ums Verrecken nicht finden, :boese1:

    Zitat von JD

    interessanterer Weise ist die Einspielung von Anfang an neben der Mono-Ausgabe auch in der Stereo-Version erschienen.


    ... wobei die Preise für beide Versionen mit 11,90 $ bzw. 17;85 $ recht erheblich waren, was heute einem kalkulierten Wert von rund 100,00 $ bzw. 150,00 $ entspräche.

  • Hübsches Thema - Preise:

    ... wobei die Preise für beide Versionen mit 11,90 $ bzw. 17;85 $ recht erheblich waren, was heute einem kalkulierten Wert von rund 100,00 $ bzw. 150,00 $ entspräche.

    Ja, nicht wahr - wobei ich zeitgenössische Preise von 21,- & 25,- $ meine gesehen zu haben. Ich finde es aber nicht mehr.

    HiFi war sauteuer in den 1950er Jahren. Ein Preiskatalog der DGG listete die 30cm-LPs mit 24,- DM auf (Archiv sogar 32,- DM). Nach "http://inflationsrechner.list-of.info/" wären 24,- DM heute rund 226 € (!). Für eine einzige Mono-LP. [Gut, nach einer anderen Liste wäre ich bei 119 € gelandet... :S ]

    Auf jeden Fall hatten die Labels früher richtig Asche machen können - im Gegensatz zu heute.


    jd :wink:

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    (P) 1978 Cetra LO 508 (3 LPs)
    (C) 1986 Movimento Musica 051-005 (3 CDs) [154:54]
    rec. 14.-17. April 1954 (Großer Musikvereinssaal, Wien) live
    EAN: 8003278510051

    Anton Dermota (t - Evangelist, Arien)
    Dietrich Fischer-Dieskau (bt - Jesus)
    Elisabeth Grümmer (s - Mägde, Pilati Weib, Arien)
    Otto Edelmann (b - Judas, Petrus, Pilatus, Kaiphas, Arien)
    Marga Höffgen (a - Arien)

    Anton Heiller (Clavicembalo)
    Wiener Singverein
    Wiener Sängerknaben
    Wiener Philharmoniker

    Dirigent: Wilhelm Furtwängler

    Furtwänglers letzte von drei MPs entstand in seinem Todesjahr 1954, in der Heiligen Woche als Live-Aufführung im Wiener Musikverein (Ostersonntag war der 18. April). Mir ist nicht bekannt, unter welchen Umständen diese Aufführung aufgezeichnet wurde (Radio-Übertragung?, Mitschnitt für die EMI?, Archivaufzeichnung für den Musikverein?), doch erschien sie bereits in den 1970er Jahren in Italien auf LP. Inzwischen liegt sie auch auf CD vor.

    Furtwängler nahm Kürzungen vor, die folgende Nummern beinhalten (Nr. 1-78):

    • Es fehlen komplett: 19, 23, 29, 38, 40, 41, 48, 49, 50, 51, 55, 61, 70, 75.
    • Es wurden gekürzt: 32 (Beginn), 34 (Beginn), 37 (Mittelteil), 39 (Beginn), 52 (Beginn), 63 (2. Strophe), 67 (Beginn), 73 (Mittelteil), 76 (Ende).

    Diese Kürzungen habe ich aufgrund zweier CD-Ausgaben nachvollzogen: der oben abgebildeten und der bekannteren Ausgabe von der EMI:

    (C) 1995 EMI "Reference"

    Obwohl ich kaum daran zweifle, daß die EMI-Ausgabe ein besseres Mastering haben wird, habe ich mich doch für die Movimento-Ausgabe entschieden - der Grund ist die Angabe im Booklet der EMI-Ausgabe, daß zwei Nummern aufgrund schlechtem Erhaltungszustand der Originalbänder weggelassen wurden. Das trifft auch zu - die fehlenden Nummern 65 und 66 sind nur in der Movimento-Ausgabe drin. Blöderweise fehlt aber in der die Nummer 64, die aber wiederum die EMI-Ausgabe enthält... :hammer1:

    Tja - man kann wohl nicht alles haben... :herrje1:

    -----

    Was die Aufführung selbst betrifft, so verspricht die Besetzung genau das, was man sich erhofft: es ist eine Aufführung von großer Güte und guten Darbietungen. Elisabeth Grümmer brilliert mit präzisem Gesang und betörendem Einfühlungsvermögen, Marga Höffgen wirkt selten herb und trifft genau den Kern der Arien. Anton Dermota hat als Evangelist viel zu tun, aber er gestaltet die Rolle mit aufrichtiger Wirkung; Dietrich Fischer-Dieskau ist als Jesus einfach nur grandios: der Klang seiner Stimme, die Präzision seiner Gestaltung, die Wirkung seiner Rolle ist überwältigend. Otto Edelmann dagegen schmiert ganz schön ab: in den Rollen ist sein Auftritt etwas schwerfällig und ungenau, doch das ist schnell vorbei; aber in den Rezitativen und Arien (speziell in Nr. 65 & 66... :P ) merkt man, wie schwer er sich mit der Technik und sein Klangvermögen tut. Es wirkt träge, irgendwie müde und abgekämpft, wo man sich wache Präzision wünscht. Letztendlich ist es Edelmanns Vortrag zu verdanken, weshalb man diese Aufführung nicht in den Rang erheben kann, die ihr gebührt.

    Der Chor klingt zwar nicht übermäßig präzise, aber bemüht sich um einen passenden Ausdruck und deklamiert schon sehr deutlich. Die Wiener spielen wie immer: fein abgestuft, als Ganzes wie auch als Teil (Solisten in den Arien) mit Präzision, Würde und Einfühlungsvermögen - fähig, jede Diktion umzusetzen, die Furtwängler verlangt.

    Und Furtwängler fordert: stets ist ein Ausdruck an Demut in der Umsetzung zu spüren, die dem Anlaß angemessen bleibt. Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen beginnt mit vorsichtiger Annäherung, die Choräle sind sehr langgezogen und mit trauriger Wirkung versehen, die Arien stets mit Sinn fürs Fragile umgesetzt. Den Schlußchor Wir setzen uns mit Tränen nieder erfüllt eine Demütigkeit, die diese Passion so treffend beendet, wie man es sich wünschen kann: hier wird getrauert, aber mit einer Tröstlichkeit, die immer so selten war. Im Grunde eine nachvollziehbare Deutung, aber wie schwer ist das doch umzusetzen... :ohnmacht1: :verbeugung1:

    Kommen wir jetzt zur Klangqualität: die Aufnahme an sich ist gut austariert, die einzelnen Gruppierungen sind in beeindruckender Abstimmung zueinander eingefangen worden, was darauf hinweist, daß hier nicht gekleckert wurde. Auch die vorhandenen Publikumsgeräusche sind nie wirklich störend, sondern geben der Aufführung ein gerüttelt Maß an Authentizität. Die Tonbänder sind aber nicht mehr in optimaler Verfassung gewesen: grundsätzlich sehr dumpf in den Höhen, mit einem gerüttelt Maß an Rauschen versehen, erweisen sich der magere Baß und die matten Mitten als eine mittelmäßige Qualität. Stellenweise merkt man auch einige Schadstellen der Bänder, auch wenn das alles im Rauschen untergeht. Das Remastering (falls es eines gab) beschränkt sich auf ganz leichte Klangkosmetik, um den Eindruck nicht unregelmäßiger als ohnehin schon wirken zu lassen. In der Hinsicht ist die Movimento-Ausgabe kein großer Burner... :|

    Was diese Ausgabe aber dennoch interessant macht, ist die editorische Seite: es ist tatsächlich etwas seltsam, daß die ganze MP gerade mal 27 Tracks umfaßt - aber das Booklet zeigt immerhin eine besondere Überlegung dahinter. Dieses umfaßt 36 Seiten mit Tracklisting, einem Text zur MP (in Italienisch, Englisch, Deutsch und Französisch) sowie das komplette Libretto. D.h. selbst die gekürzten Stellen sind darin vorhanden, und sie wurden sämtlich durch Fettdruck gekennzeichnet worden; man kann also beim Lesen alle Kürzungen nachvollziehen. Außerdem gibt es schwarze Quadrate, die im Libretto anzeigen, wann ein neuer Track auf der CD beginnt. Insgesamt wirkt diese Ausgabe nicht so billig, wie man denken sollte - und vermutlich war sie es vor dreißig Jahren auch nicht.

    Als Letztes spreche ich noch einen Punkt an, der sich auf die Laufzeiten beider Ausgaben bezieht. Ich habe die angegebenen Laufzeiten der Hörproben von der EMI-Ausgabe gegen die Movimento-Anzeigen verglichen und festgestellt, daß die EMI-Ausgabe gut 3:40 Minuten länger läuft (Nr. 64 und 65-66 entsprechend gegengerechnet). Mich hatte das anfangs verwirrt, denn Nr. 65-66 läuft 8:43 Minuten und das Rezitativ Nr. 64 0:55 Minuten; ich kann also nicht auf die gleiche Laufzeit für beide Ausgaben. Beim Zusammenrechnen der einzelnen Abschnitte fiel mir jedoch diese Differenz auf. (Ich gebe zu, daß ich nicht weiß, ob die EMI die Bänder vielleicht mit allen Pausen zwischen den Nummern erhalten hat, die bei der Movimento-Ausgabe sinnvoll getrimmt wurden. Tonhöhenunterschiede fielen mir in den wenigen Hörproben, die ich machte, nicht auf - eine andere Bandgeschwindigkeit, wie ich anfangs dachte, ist es wohl nicht. Denke ich... ;) )

    -----

    Fazit: eine letztendlich gute Live-Darbietung mit starken Momenten in leider mittelmäßiger Klangqualität, dafür fast komplett und editorisch gut aufbereitet. Als Vu-Fermächtnis sicherlich von Wert... :D
    :thumbup: :thumbup: :thumbup:


    jd :wink:

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  • Ein paar Gedanken zu dieser Einspielung:

    (P) 2006 Gala GL 100.661 (4 CDs) [MP - 180:52]
    rec. 23. Februar 1951 (Konferenzsaal des Deutschen Museums, München)

    Peter Pears (t - Evangelist; Arien)
    Hans Braun (b-bt - Jesus)
    Elisabeth Grümmer (s - Pilati Weib, 1. Magd; Arien)
    Gertrude Pitzinger (a - 2. Magd; Arien)
    Hermann Uhde (b - Judas, Petrus, Pilatus, Pontifex, Hohepriester; Arien)
    Knabenchor des Wittelsbacher Gymnasiums
    Chor & Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

    D: Eugen Jochum


    Dieses 4-CD-Set enthält auf CDs 1-3 die MP in einer Live-Aufzeichnung eines Konzertes, welches vom Datum her erstaunlich früh für jenes Werk erscheint; tatsächlich war der Ostersonntag im Jahre 1951 sehr früh, nämlich am 25. März - Aschermittwoch war also am 07. Februar. Somit war das Konzert in der Fastenzeit begangen worden. [Ich gebe zu, ich zweifle ein bißchen an der Korrektheit dieses Datums: exakt vier Wochen danach - also am 23. März 1951 - war Karfreitag. Könnte es sein, daß man sich vielleicht im Monat geirrt hat? Ich konnte nichts dazu eruieren, deshalb bleibt es einfach eine unbewiesene Behauptung meinerseits.]

    Die Aufführung war zwar lang, doch die MP ist dennoch gekürzt worden: es fehlen ganz Nr. 22, 23, 41, 61, 66 und 75 (von 78 Nummern); weitere Kürzungen von Rezitativen und Arien sind mir zwar nicht aufgefallen, doch muß ich zugeben, daß ich da nicht sorgfältig genug hingehört habe, um das beschwören zu können. Grundsätzlich ist es eine typisch großbesetzte, traditionelle Interpretation mit den Tempo-Entrückungen in den Chören, wie sie damals öfters gemacht wurden (je trauriger der Inhalt, desto langsamer und verhaltener werden sie gesungen und gespielt). Das Grundtempo ist langsam, aber nicht zu breit und wirkt alles andere als erdrückend. Jochum gibt dem Ganzen einen demütigen, aber dennoch aufrechten Gestus, Stücke wie der Anfangs- und der Schlußchor sind nie übermäßig monumental, sondern bleiben stets fortschreitend und würdig. Die Arien klingen nie übermäßig pathetisch, die Rezitative wirken eher erzählerisch denn mitleidend - insgesamt eine Konzeption, die durch ihre "nüchterne" Lesart wesentlich mehr echte Würde erzielt als durch das übermächtige Pathos, was manch andere Aufnahmen aufweisen.

    Peter Pears ist als Evangelist ein echter Gewinn: sein Deutsch ist klasse, er ist stets deutlich zu verstehen und versingt sich so gut wie gar nicht. Hans Braun wirkt zwar mächtig, aber bleibt immer zurückhaltend genug, um nicht übers Ziel hinauszuschießen. Hermann Uhde empfinde ich als recht angenehm, Gertrude Pitzingers Alt ebenso. Elisabeth Grümmers heller Sopran kann auch hier herrlich erstrahlen. - Die beiden Chöre sind zwar eine gewichtige Masse, bleiben aber einigermaßen verständlich und in guter Intonation; das Orchester spielt ohne Schwächen in präziser Manier.

    Ich kenne nun einige alte Live-Aufnahmen der MP aus der damaligen Zeit und muß sagen, daß Jochums Aufführung durchaus ihre Meriten hat. Ich finde sie angenehm im Ausdruck und ist auf hohem Niveau musiziert. Die Klangqualität ist vielleicht nicht ganz so gut wie die Einspielung von Fritz Lehmann zu Ostern 1949 in Berlin: die Originalbänder warten mit saftigem Grundrauschen auf, doch die Bässe sind solide ausgeprägt, die Mitten recht präsent und die Höhen erstaunlich hell und klar mit wenig Verzerrungen. Grobe Patzer wie Bandschäden und Aussetzer habe ich nicht mitbekommen, und die Tracks sind gut editiert worden. Orchester und Chor sind gut eingefangen worden, die Solisten stehen deutlich näher, ohne überpräsent zu werden. Zwar sind die Publikumsgeräusche nicht gerade gering, selbst das Setzen und Aufstehen des Chores kann man deutlich hören, doch ich störe mich nicht daran, weil es eben live ist. Insgesamt ein Dokument, was als Veröffentlichung durchaus seinen Sinn hat.

    Fazit: gut... :thumbup:

    -----

    Ein paar Worte zum CD-Set: es ist eine breite Doppelhülle vom Gala-Label, ein Tochterunternehmen der britischen Intermusic Ltd., die in Portugal pressen läßt. Die CDs wirken ganz ordentlich, die Einleger der Hülle vernünftig gestaltet. Das Booklet umfaßt 16 Seiten und ist ansprechend mit ausführlichem Tracklisting und einem Text zu den Solisten (in Englisch) ausgestattet. Das alles wirkt nicht übermäßig hochwertig, ist aber wenigstens gut ausgeführt worden. Ich selbst habe dafür nun läppische 5,- € bezahlt - eine Summe, die das Set mehr als wert ist, wenn man sich für diese Live-Aufnahmen interessiert.

    Nach der MP folgt noch eine Aufnahme der h-moll-Messe - dazu mehr an anderer Stelle.

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • Als großer Verehrer sowohl Elisabeth Grümmers als auch Peter Pears habe ich mir nach dem Beitrag von JD diese Matthäus Passion von 1951 zugelegt. Und ich kann JD nur Recht geben: es wird mit wenig Pathos, sondern vielmehr recht nüchtern und mit "echter Würde" musiziert und gesungen, und vor allem die Solisten sind ganz wunderbar. Und auch wenn die Tempi der Zeit entsprechend recht langsam sind und der Chor sehr groß besetzt ist, sind es gerade die Arien und Peter Pears als Evangelist, die diese Einspielung zu etwas Besonderem machen. Das Rauschen ist in den einzelnen Titeln unterschiedlich laut und mal mehr und mal auch gar nicht störend. Es ist eben ein historisches Zeitdokument - dafür sind die Stimmen aber sehr gut eingefangen und erstaunlich klar und deutlich. Ein wahrer Gewinn! (Vielen Dank, Josquin Dufay, für diesen Hinweis!)

  • Ein wahrer Gewinn! (Vielen Dank, Josquin Dufay, für diesen Hinweis!)

    Freut mich, daß es dir gefällt... :cincinsekt:

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

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    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • Die Matthäus-Passion wird auch hier im Thread - völlig zu Recht - als Vokalwerk behandelt, so dass bei der Beurteilung von Aufnahmen wie Aufführungen neben den vom Dirigenten angeschlagenen Tempi die sängerischen Leistungen der Solisten und des Chores angesprochen werden. Ein anderer Aspekt ist der Reichtum an Klangfarben, der mir beim heuten Hören der Aufnahme von Brüggen wieder einmal aufgefallen ist. Ich mag jetzt keine Stellen heraussuchen und aufschreiben, die mich heute besonders erfreut haben, sondern möchte schlicht anregen, beim nächsten Hörgang mehr darauf zu achten, wie Bach mit Klängen malt und wie er sie mischt. Für mich war das heute ein besonders schönes Hörerlebnis.

  • In den letzten Tagen mir angefangen reinzuziehn. Leider keine Infos dazu. ?( :(
    Orchester und Chor ?(
    https://www.youtube.com/watch?v=Ams5SQIWNhE
    https://www.youtube.com/watch?v=wAWhtjzsIxE

    https://www.youtube.com/watch?v=0T8E70USZ5o
    https://www.youtube.com/watch?v=4egBn_IXqO0
    https://www.youtube.com/watch?v=7F4CyFijVrY

    ~ 175 Minuten

    Solisten kommen klangschön und erstaunlich lebendig rüber.
    Diese MP-Chose zwar kein HIP, aber könnte sich mir als fetzige Ergänzung zu John Butts MP-Einspielung mausern….
    Wer kann Stimmbandquäler identifizieren und weitere Infos über diese MP rüberwachsen lassen?

    Danke im voraus. :thumbup:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Nach grobem Vergleichshören könnte es sich um diese Aufnahme handeln:

    (AD: Februar - April 1994, Stadthalle Sindelfingen)

    Deckt sich zumindest auch mit den Infos, die bei der YT-Aufnahme angegeben sind ("mehr ansehen" anklicken).

    "Musik ist für mich ein schönes Mosaik, das Gott zusammengestellt hat. Er nimmt alle Stücke in die Hand, wirft sie auf die Welt, und wir müssen das Bild zusammensetzen." (Jean Sibelius)

  • Bekanntlich führte Felix Mendelssohn Bartholdy 1829, erst 20jährig, in Berlin die Matthäuspassion auf und brachte sie damit wieder ins Licht der Öffentlichkeit. Es soll allerdings schon lange vorher Bemühungen um eine Wiederaufführung des Werks gegeben haben, ebenfalls in Berlin. Das legen Dokumente nahe, die jetzt aufgetaucht sind.

    So jedenfalls berichtet es Jan Brachmann in der FAZ: https://www.faz.net/aktuell/feuill…n-16581163.html

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

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