Bach, J. S.: Matthäus-Passion, BWV 244 - Die Große Passion
Liebe Freunde,
wann genau Bachs wohl größtes und bedeutendstes Kirchenwerk zum ersten Mal erklang, ist nicht sicher. Sicher ist, dass es an einem Karfreitag in der Thomaskirche in Leipzig war. Dort gab es seit 1721 die von Bachs Amtsvorgänger als Thomaskantor, Johann Kuhnau, eingesetzte Tradition, an diesem für die Christen höchsten Feiertag eine Passionsmusik im Gottesdienst aufzuführen. Man geht davon aus, dass sechs Jahre später, also 1727, die Passion nach dem Evangelisten Matthäus ihre Uraufführung erlebte.
Laut erstem Werkverzeichnis von 1750 hat Bach fünf Passionen geschrieben. Zwei davon sind erhalten (Matthäus und Johannes). Von der Markus-Passion existiert nur der Text und von den beiden Anderen fehlt jegliche Spur. Im Bach’schen Familienkreis sprach man von der „Großen Passion“, wenn man die Matthäus-Passion meint. Und groß ist sie in jeglicher Hinsicht.
Allein die Länge von circa drei Stunden ist bemerkenswert, hat sich doch Bach bei Amtsantritt in Leipzig 1723 dazu verpflichtet, die Kirchenmusiken so zu gestalten, dass sie nicht zu lange geraten. Wenn man bedenkt, dass in der Vesper zwischen den beiden Teilen der Passion zusätzlich eine Predigt obligat war, kann man sich vorstellen, dass die eh schon harten Kirchenbänke für die Zuhörer, die von 14 Uhr bis in den Abend hinein darauf saßen, am Rande der Erträglichkeit waren.
Groß angelegt ist auch die Besetzung des Werkes. Es gibt zwei Chöre, zu denen jeweils ein Orchester samt reich besetztem Basso continuo gehört. Aus beiden Chören treten noch einmal jeweils vier Solisten heraus. Ein Umstand, der aber selten berücksichtigt wird.
Vor Allem lässt sich die Größe aber in der Musik erkennen. Bach baut diverse Ebenen in sein Werk ein: Bibeltext, bekannte Kirchenchoräle, Texte freier Dichtung (in diesem Fall von Christian Friedrich Henrici, der sich Picander nannte). Allerdings stehen diese Elemente nicht wie in vielen Vorgängerwerken nebeneinander, sondern weben sich ineinander ein und überlagern sich gegenseitig.
Ein gutes Beispiel dafür ist bereits der gewaltige Eingangschor. Vom Orchester her ein schwergewichtiger Trauermarsch im italienischen Stil, der Bass klopft im Rhythmus des Herzschlags bedeutungsschwanger. Dann der einsetzende Chor: „Kommt ihr Töchter, helft mir klagen“. Die beiden Chöre kommunizieren im Dialog miteinander: „Sehet!“ – „Wen?“ – „Den Bräutigam! Seht ihn!“ – „Wie?“ – „Als wie ein Lamm.“ Darüber entspinnt sich der Soprano in ripieno mit der Choralmelodie „O Lamm Gottes unschuldig“, oft gesungen von Knaben als Zeichen der reinen Unschuld. Wir haben hier also 5 Ebenen übereinander. Zuerst der Solosopran, dann der klagende Chor I, der nachfragende Chor II, das dichte und kompakte Orchester und der unerbittlich pochende Bass. Rein inhaltlich fasst dieser Eingangschor bereits das gesamte Geschehen, das folgt, zusammen: Jesus Christus stirbt am Kreuz und nimmt die Schuld der Menschheit auf sich.
Wie das passiert, erlebt der Zuhörer danach in der Erzählung des Matthäus, angefangen mit Jesus, der seinen Jüngern eröffnet, dass er bald sterben wird. Die Hohenpriester beraten schon, wie sie ihn festnehmen: „Ja nicht auf das Fest, auf dass nicht ein Aufruhr werde“.
Die Jünger, zunächst meckernd („Wozu dienet dieser Unrat?“) bereiten das Passahfest vor, auf dem Jesus mit ihnen das letzte Abendmahl feiert. Dort erzählt er ihnen, dass Einer von ihnen ihn verraten wird. An der folgenden kurzen Chorstelle kann man Bachs Meisterschaft erkennen. Genau 11 mal fragen die Jünger: „Herr, bin ich’s?“ – 11 Mal bedeutet 11 Jünger. Der 12. Jünger braucht nicht nachfragen. Er weiß es ja bereits. Da Judas im Folgenden von einem Bass gesungen wird, fehlt die 12. Nachfrage natürlich im Bass.
Gleich darauf folgend setzt die gläubige Gemeinde ein, die das Geschehen sofort auf sich bezieht und in im Fehler Judas’ die eigene Schuld sieht: „Ich bin’s, ich sollte büßen.“
Auch in einigen Arien schaltet sich die Gemeinde kommentierend ein. Jesus ist mit seinen Jüngern im Garten Gethsemane und bittet sie, mit ihm zu wachen. In der Arie „Ich will bei meinem Jesu wachen“ erkennt die Gemeinde sofort: „So schlafen unsre Sünden ein.“
Ein weiteres schönes Beispiel der sich überlappenden Ebenen ist die Duett-Arie am Ende des ersten Teils. Ein zerbrechliches, aber auch umgarnendes Gebilde spielen hier Flöte, Oboe, Geige und Bratsche. Der stützende Bass fehlt. Sopran und Alt setzen ein: „So ist mein Jesus nun gefangen“. Das kann die Gemeinde natürlich nicht akzeptieren. Sie skandiert: „Lasst ihn, haltet, bindet nicht!“ In fast resignierter Verzweiflung spinnen die Solisten ihr Duett weiter, ehe plötzlich beide Chöre wie in einem Unwetter einfallen: „Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?“ Der Bass imitiert hier großartig lautmalerisch das Donnergrollen. Dann nach einer kurzen Zäsur die unbändige Wut auf den Verräter: „Eröffne den feurigen Abgrund, o Hölle! Zertrümmre, verderbe, verschlinge, zerschelle mit plötzlicher Wut den falschen Verräter, das mördrische Blut!“
Der erste Teil endet mit dem wunderschönen und groß angelegten Choralsatz „O Mensch, bewein dein Sünde groß“, der übrigens als Eingangschor in der zweiten Fassung der Johannes-Passion verwendet wurde.
Im zweiten Teil folgt das Verhör Jesu, das in seiner Dramatik oft an dieselbe Passage in der Johannes-Passion erinnert. Jesus wird misshandelt und verspottet, währenddessen verleugnet Petrus seinen Meister. Die darauf folgende berühmte Arie „Erbarme dich“ kann man wohl in seinen Mund legen.
Judas bereut ebenso seine Tat, bringt seinen Lohn den Hohenpriestern zurück, die es in einem kurzen Duett als Blutgeld titulieren, das nicht als Opfer dient, und erhängt sich.
In einem Akkord und drei Silben wird Jesu Todesurteil mit brutaler Härte vom Volk besiegelt. Pilatus fragt das Volk, ob er lieber Jesus oder den Mörder Barrabas freilassen soll. Mit einem hasserfüllten und dissonanten Schrei skandieren beide Chöre: „Barrabam!“ Nüchtern berichtet der Evangelist von Pilatus, der nun nachfragt, was man dann mit Jesus mache? Es folgt eine chromatische Fuge, die wohl ihresgleichen in ihrer Zeit sucht: „Lass ihn kreuzigen!“ Einige Minuten später wird sie noch einmal wiederholt, jetzt einen Ton höher, das Volk wird ungeduldig. Lange muss es nicht mehr warten, Jesus wird zum Kreuz geführt und aufgehängt. Dort wird er weiter von den Soldaten verspottet. Letzte Worte Jesu, dann stirbt er. Wie der Vorhang im Tempel zerreißt, lässt uns der Generalbass eindrucksvoll miterleben. Die Erde verdunkelt sich und erbebt. Das bekommt auch der Hauptmann am Kreuz mit. Und was jetzt in zwei Takten passiert, ist für mich persönlich nicht nur der Höhepunkt des Werks, ich würde es sogar als eine der bedeutendsten Stellen in der gesamten Musikgeschichte bezeichnen: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.“ Was in diesen paar Noten an Kraft und Gläubigkeit drin ist, jagt mir jedes Mal einen Schauer über den ganzen Körper. Eine Wahnsinnsstelle! :juhu: :juhu: :juhu:
Am Ende wird der Leichnam Jesu vom Kreuz abgenommen und ähnlich wie in der Johannes-Passion beschließt ein Trauerchor das Werk (wenn man bei Johannes vom letzten Choral absieht): „Wir setzen uns mit Tränen nieder und rufen dir im Grabe zu: Ruhe sanfte, sanfte Ruh!“. Mit dem letzten Akkord und seinem großen Septimenvorhalt hört man unweigerlich die Todesstunde schlagen.
So, mit diesem Ritt durch das Werk habe ich euch meine persönlichen Highlights versucht, vorzustellen. Viele wichtige Aspekte sind nicht erwähnt und stecken noch drin. Ich würde mich freuen, wenn ihr ergänzt und eure Erfahrungen und Lieblingsstellen vorstellt. Es gibt ganz sicher, noch mehr zu sagen!
Jetzt noch zu Aufnahmeempfehlungen:
Zunächst zwei Aufnahmen mit Chor, eine Studio- und eine Live-Aufnahme.
Was mich aber zuletzt besonders beeindruckt hat, ist eine Aufnahme ohne Chor, also solistisch gesungen:
Wie die Szenen trotz weniger Aufführenden hier an Kraft und Dramatik gewinnen, ist umwerfend! Kuijken hat mich zum absoluten Fan der solistischen Aufführungspraxis gemacht!
Liebe Grüße,
Peter.