SängerInnen und realistische Szene: Was ist machbar? Wie weit darf man gehen?

  • SängerInnen und realistische Szene: Was ist machbar? Wie weit darf man gehen?

    Liebe Capricci,

    in der Oper ist ja auch mal was los: Degen - Duelle, eine Lady Macbeth, die im Kronleuchter rumturnt, Pinkeln auf der Bühne (sieht jedenfalls so aus), Siegfriede, die an irgendwelchen Gestellen hochkraxeln, Rheintöchter im engen Bassin, natürlich randvoll mit Wasser (Rheingold/Valencia), wobei Woglinde eine atemberaubenden Gesangsstart gleich mit dem Auftauchen hinlegt (eine faszinierende Leistung).

    Auf der anderen Seite wird viel Blutrünstiges gezeigt (die Stoffe sind z. T. einfach so), wo die DarstellerInnen alles andere als Stardivenambiente mit sich herumschleppen und reichlich unvorteilhaft aussehen.

    Wie bekommen die singenden DarstellerInnen das gebacken?, fragt sich mancher, regt sich darüber auf und schimpft über "das Regietheater". So neulich woanders gelesen.

    Aber ist das wirklich so?

    Tatsache ist, dass OpernsängerIn ein Knochenjob ist, der in der Tat körperliche Fitness (die allerdings nicht mit Model - Maßen einhergehen muss, Magersucht ist fehl am Platz, aber auch übermäßige Korpulenz ist eher hinderlich), Koordinationsvermögen, Ausstrahlung und entgegen manchen Vorurteilen auch "Hirn" erfordert. Das war es aber schon immer, denn auch der sog. Rampengesang oder Stehtheater brauchen ständige Körperspannung. Sich dabei sinnvoll zu bewegen, ist oft sogar angenehmer, denn nur starre Spannung aufbauen, kann dazu führen, dass die Stimme fest wird.

    Ich meine, dass das sog "Regietheater" per se nicht unbedingt die Sänger mehr (über-)fordert als es schon immer der Fall war. Obwohl ich selbst nie eine volle Theaterproduktion mitgemacht habe, geben mir bisherige Erfahrungen durchaus eine Ahnung davon, was hier passiert.

    Das meiste kann man machen, aber einiges ganz klar nicht, ohne dass die Stimme leidet bzw weg ist. Das wäre alles, was die die sängerische Luftsäule zerstört wie Bücken, einrollen (Purzelbäume z. B.) und den Kopf hinterstrecken z. B. Das wirkt, als würde man eine Oboe oder Klarinette umknicken. Der Torso muss gerade bleiben und gespannt, egal, was man sonst tun muss. Laufen beim Singen geht auch jedem früher oder später an die Atemstütze, weil die sängerische Tiefatmung auf Dauer mit der Atmung der Läufer und auch Tänzer nicht verträgt (jedenfalls bezogen auf den klassischen Gesang).

    Ich stelle dieses Thema mal hier zur Diskussion. Es hat ja einige Skandale gegeben, Sänger, die irgendwelche Konzepte nicht mitmachen wollten. Das sehe ich zweischneidig. Es mag ja sein, dass der Wunsch, der Star zu sein, durch allzu realistische Kostüm- und Regiekonzepte empfindlich gestört wird, aber andererseits sollten Regisseure auch berücksichtigen, dass die Sänger sinnhafte Konzepte für die Darstellung ihrer Figuren brauchen, denn sie müssen letztlich die Charaktere mit Leben füllen.

    Eine kurze Anmerkung noch: Es trifft zu, dass unerfreulich viele der "neuen" Stars frühzeitig ausgepowert sind. Wenn man allerdings dahinterschaut, hat dies nichts mit den Produktionen selbst zu tun, sondern mit der Verheizung der Stimmen im falschen Fach und der ungesunden Schnelllebigkeit dieser Branche, die Stimmentwicklungen ignoriert.

    LG
    :wink:

    Ulrica

    Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren (Bert Brecht)

    ACHTUNG, hier spricht Käpt´n Niveau: WIR SINKEN!! :murg: (Postkartenspruch)

  • Liebe Ulriica!

    Ich kann alles was Du schreibst nur unterstreichen - OpernsängerIn zu sein ist ein Leistungssport, schon in gesanglicher Hinsicht.

    Das meine nicht nur ich, das meinte auch Kms. Wilma Lipp, die keine große Sportlerin war, auf eine Frage von Dr. Peter Dusek in einem Interview.

    Auf alle Fälle denke ich, wie Du, dass Dauerläufe eines Sängers auf der Bühne nicht notwendig sind.

    Liebe Grüße und Handküsse sendet Dir Peter, der Dir noch viel Glück und Erfolg wünscht. :wink: :wink:

  • Meine Lieben!

    Robert hat mir etwas Interessantes über die Sänger, heutzutage gesandt:

    Ich zitiere:

    Mara Zampieri kritisiert in einem Interview den heutigen Opernbetrieb weltweit. Hier:

    Ungerechter Opernbetrieb
    Neben ihrer aktiven Karriere unterrichtet Mara Zampieri immer wieder. Aber der heutige Opernbetrieb und wie darin mit jungen Sängern umgegangen wird, frustriert sie oft. "Wenn sie mich fragen, was ich von der heutigen Opernwelt denke, dann sage ich ihnen: Sie ist pervers", findet sie. "Manche Mechanismen sind mir unverständlich. Da begegnet man Sängern, die qualitativ nun wirklich nicht sehr berückend sind. Die gewinnen aber die Wettbewerbe und werden engagiert, und jene, die wirklich das Recht zu einer Weltkarriere hätten, kommen nicht und nicht voran. Teil dieses Mechanismus', der nicht in den richtigen Bahnen läuft, sind die Agenturen, die nur für ihre Interessen arbeiten - wie übrigens viele im heutigen Opernbetrieb. Es ist manchmal wirklich zum Davonlaufen. Ich meine das wirklich ganz ernst, wenn ich sage, dass es heute sehr schwer ist, jung zu sein."

    Ich denke damit hat sie nicht ganz Unrecht!


    Liebe Grüße sendet Euch Euer Peter aus dem verregneten Wien. :wink: :wink:

  • Liebe Capricciosi!

    Dieser Thread ist mir eingefallen, wie ich jetzt gerade die Ratsszene aus "Simon Boccanegra" gehört habe. Amelia Grimaldi/Maria Boccanegra hat da von Verdi extrem wenig Zeit bekommen, um von hinter die Bühne auf selbige zu stürmen, sich laut Regieanweisung zwischen Gabriele und Simon zu werfen und "Ferisci!" zu schreien. Und anschließend muss sie ihre Erzählung singen. Ich habe jetzt hin- und herüberlegt, bin aber zu folgender Meinung gelangt: Da auch die Musik der Szene sehr auf Tempo geht, wäre es ein außerordentlicher Bruch des Gesamtbildes und äußerst unrealistisch, würde Amelia nur ganz ruhig herantreten. Also würde ich, wenn ich diese Szene inszenierte, der Sängerin einen Sprint zumuten - und sollte sie dann ein bisschen außer Atem sein, würde ich das zugunsten der Realistik in Kauf nehmen: Das "Ferisci!" darf ja wohl ein bisschen veristisch gequietscht werden, es ist schließich auch eine dramatische Situation! Das anschließende "O Doge, salva l'Adorno tu!" liegt recht tief und kann meiner Meinung nach ohne großen Verlust für die Musik ebenfalls etwas außer Atem gesungen werden. Und dann hat sich die Sängerin hoffentlich schon wieder ein bisschen erholt.

    Ich bin jetzt darauf gefasst, dass mir etwas Gegenwind um die Ohren bläst. Besonders interessieren würde mich allerdings, was praktizierende Sängerinnen meinen, was in dieser Szene machbar ist.

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • RE: SängerInnen und realistische Szene: Was ist machbar? Wie weit darf man gehen?

    Zitat

    Sich dabei sinnvoll zu bewegen, ist oft sogar angenehmer, denn nur starre Spannung aufbauen, kann dazu führen, dass die Stimme fest wird. [..]

    Laufen beim Singen geht auch jedem früher oder später an die Atemstütze, weil die sängerische Tiefatmung auf Dauer mit der Atmung der Läufer und auch Tänzer nicht verträgt

    Ausnahmsweise zitiere ich mich hier mal selbst. Die entscheidende Frage ist, wieviel gerannt werden muss und hierbei sind natürlich auch manche fitter als andere. ich bin mit Simone Boccanegra nicht allzu vertraut, aber nach deiner Schilderung, lieber Areios, kann ich mir die Szene auch nicht anders vorstellen. Wahrscheinlich soll der Einwurf sogar etwas außer Atem klingen. Entscheidend ist, dass die schnellere, flachere Atmung des rennens punktgenau wieder ruhig wird und tief in den Körper gebracht wird. Das ist durchaus steuerbar, aber sportlichere Menschen tun sich hier leichter.

    Ich hatte zum Thema Rennen und Vorsingen ein recht aufregendes Erlebnis. Ich wollte Marita Knobel zur Auslotung meiner Möglichkeiten im Nationaltheater (nicht für!) vorsingen und gerit in eine Straßensperre. Igrendwie kam ich zwar da wieder raus, konnte aber nur noch in der Schranne parken, ca. 1. km von der BSO weg. Diesen Kilometer bin ich dann, eh schon völlig verspätet, gerannt, (2 Zentner rennen auf Pumps, wie elegant, :wacko:) und erschien letztlich mit hängender Zunge. Marita Knobel meinte, das sei jetzt gar nicht so verkehrt, das kann auch im Echtbetrieb passieren und dann muss man trotzdem startklar sein. An der ersten Nummer ging das nicht spurlos vorüber.....Mir wurde der Zusammenhang Singen und Kondition daraufhin sehr drastisch bewust, es gab und gibt Handlungsbedarf, aber man überlebt das auch.

    Wenn eine stimmige Inszenierung Gerenne verlangt, dann sollte man das hinbringen. Nervig sind unpassende Regievorstellungen, die die Sänger an einer Stelle anderweitig fordern, obwohl die volle Konzentration auf die Stimme notwendig wäre. Das Herumturnen auf dem Kronleuchter in München fand ich z. B. voll daneben. Wahrscheinlich büsst hierbei jede/r stimmliche Qualität ein.

    LG
    :wink:
    Ulrica

    Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren (Bert Brecht)

    ACHTUNG, hier spricht Käpt´n Niveau: WIR SINKEN!! :murg: (Postkartenspruch)

  • Amelia Grimaldi/Maria Boccanegra hat da von Verdi extrem wenig Zeit bekommen, um von hinter die Bühne auf selbige zu stürmen, sich laut Regieanweisung zwischen Gabriele und Simon zu werfen und "Ferisci!" zu schreien.

    Das ist auch eine Frage der Größe der Bühne. Auf den paar Quadratmetern einer kleinen italienischen Provinzbühne aus dem Ottocento ist das weniger ein Problem als auf dem viertel Hektar Bühne des Münchener Nationaltheaters...

    Mir wurde der Zusammenhang Singen und Kondition daraufhin sehr drastisch bewust, es gab und gibt Handlungsbedarf, aber man überlebt das auch.


    Also ich konnte schon immer am besten singen, wenn ich vorher mindestens eine halbe Stunde gelaufen bin... ;+)
    (nee, ganz ernsthaft! Da ist dann alles ziemlich weit gestellt und gut gedehnt und das Zwerchfell weiß auch, wo's hingehört und was es tun muß...)

    Turnen im Kronleuchter ist ohnehin momentan mal Mode. Das gab's auch im "Tasso" am Resi...

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Dieser Thread ist mir eingefallen, wie ich jetzt gerade die Ratsszene aus "Simon Boccanegra" gehört habe. Amelia Grimaldi/Maria Boccanegra hat da von Verdi extrem wenig Zeit bekommen, um von hinter die Bühne auf selbige zu stürmen, sich laut Regieanweisung zwischen Gabriele und Simon zu werfen und "Ferisci!" zu schreien. Und anschließend muss sie ihre Erzählung singen. Ich habe jetzt hin- und herüberlegt, bin aber zu folgender Meinung gelangt: Da auch die Musik der Szene sehr auf Tempo geht, wäre es ein außerordentlicher Bruch des Gesamtbildes und äußerst unrealistisch, würde Amelia nur ganz ruhig herantreten. Also würde ich, wenn ich diese Szene inszenierte, der Sängerin einen Sprint zumuten - und sollte sie dann ein bisschen außer Atem sein, würde ich das zugunsten der Realistik in Kauf nehmen: Das "Ferisci!" darf ja wohl ein bisschen veristisch gequietscht werden, es ist schließich auch eine dramatische Situation! Das anschließende "O Doge, salva l'Adorno tu!" liegt recht tief und kann meiner Meinung nach ohne großen Verlust für die Musik ebenfalls etwas außer Atem gesungen werden. Und dann hat sich die Sängerin hoffentlich schon wieder ein bisschen erholt.

    Caro Areio,

    bei der szenischen Umsetzung gibt es doch fast immer - so auch hier - eine mehr oder weniger große Spannweite von Lösungen. Vorgaben, dass "ein Bruch des Gesamtbildes" unstatthaft sei oder dass die Inszenierung "realistisch" sein müsse, sind schon einmal recht einengend. Aber selbst wenn wir versuchsweise mal eine "realistische" Inszenierung mit halbwegs korrekter Umsetzung der szenischen Anweisungen des Librettos ins Auge fassen: Eine Amelia, die während der eskalierenden Auseinandersetzung zwischen dem Dogen und Gabriele erst einmal zwanzig Meter von der Hinterbühne in den Vordergrund sprinten müsste, um sich dann im genau richtigen Augenblick zwischen die Kontrahenten zu werfen, fände ich ziemlich unglücklich. Ich behaupte mal (auf Grundlage mehrerer erlebter Inszenierungen der Oper), dass die Standardlösung ein Hervorbrechen Amelias aus der nahe bei den Kontrahenten stehenden Menschenmenge (bzw. dem Chor) ist: so hat die Sängerin, ohne vorher eine läuferische Leistung erbracht haben zu müssen, immer noch genug Kondition, um sich "realistisch" mit einem gewissen Impetus zwischen die beiden Herren zu werfen und gleichzeitig das Ferisci? sängerisch angemessen zu bewältigen.

    Bei einer anderen Theaterästhetik, die die szenische Verdoppelung von Text und Musik eher scheut, würde aber auch eine ganz ruhig vorgebrachte Aktion Amelias ihre Wirkung tun. Amelia muss auch gar nicht zwischen die Kontrahenten treten: Sie könnte auch an ganz entfernter Stelle der Bühne ihr Ferisci? singen - allein schon die klangliche Gewalt dieses vokalen Ausbruchs auf dem zweigestrichenen B reichte dabei aus, um Gabriele zu stoppen. Ich denke auch, dass die Atemlosigkeit bei der Passage O Doge, salva l'Adorno tu! schon auskomponiert ist (die Wiederholung des Wortes salva, die Pause dazwischen usw.), so dass man sie nicht noch durch "echte" Atemlosigkeit der Sängerin verdoppeln muss. Was nicht heißen soll, dass solche Verdopplungen manchmal nicht doch auch eine Potenzierung der szenischen Präsenz bewirken können. Viele Lösungen sind denkbar und können u.U. überzeugend sein.

    Das ist eben eine Frage des Gesamtkonzepts einer Inszenierung und der jeweils verfolgten theatralischen Ästhetik. Gegenüber der isolierten Ausarbeitung von Einzelszenen auf dem (virtuellen) Papier bin ich etwas skeptisch...


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Lieber Bernd!

    Im Threadtitel steht ja "realistische Szene" - deshalb bin ich auch im Beispiel davon ausgegangen. Schon klar, dass in einer stilisierenden Ästhetik die Szene ganz anders ausfallen kann.
    Unglücklich finde ich es allerdings, wenn Amelia aus der Menschenmasse, die gerade zuvor den Palast gestürmt hat, herausbricht: wieso sollte sie dort sein, wo sie dann ist? Und wieso haben die umstehenden Menschen sie nicht schon längst bemerkt? Nein, Amelia muss ganz klar allein, am besten aus einer anderen Richtung kommen. Schlimmstenfalls müsste man ihr bei einer "realistischen" Inszenierung eine Auftrittstür in Thronnähe einbauen. Sie könnte sich natürlich auch von einem Söller über den Kronleuchter herunterschwingen... ;+)

    Was das "O Doge, salva l'Adorno tu" betrifft, bin ich ganz deiner Meinung. Aber gerade, weil da die Atemlosigkeit schon auskomponiert ist, hätte auch eine wirklich atemlose Sängerin wahrscheinlich Atempausen genug, um das trotzdem noch zu singen.

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Sie könnte sich natürlich auch von einem Söller über den Kronleuchter herunterschwingen...


    so wie Tarzan..? :D Hoijoijoijoihoijoijoi...

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Im Threadtitel steht ja "realistische Szene" - deshalb bin ich auch im Beispiel davon ausgegangen.

    Schon richtig, aber ich habe den Eindruck, dass Ulrica mit "realistische Szene" etwas anderes meint: Extreme physische oder psychische Beanspruchung der Sänger. Nicht umsonst nennt sie ja auch Beispiele aus der Kusej-Inszenierung von Verdis Macbeth, die nun alles andere als "realistisch" ist und sich bestimmt nicht in der Umsetzung der Regieanweisungen des Librettos erschöpft.


    Aber noch einmal zum Gedankenspiel einer "texttreuen" Umsetzung der Szene aus Simon Boccanegra:

    Unglücklich finde ich es allerdings, wenn Amelia aus der Menschenmasse, die gerade zuvor den Palast gestürmt hat, herausbricht: wieso sollte sie dort sein, wo sie dann ist?

    Amelia kommt direkt von ihrer missglückten Entführung, sie ist mit der Menschenmenge oder direkt nach ihr in den Palast hineingekommen. Insofern logisch, dass sie auch aus der Menschenmenge hervortritt.

    Zitat

    Und wieso haben die umstehenden Menschen sie nicht schon längst bemerkt?

    1. Weil sie vollständig auf das dramatische Geschehen um den Dogen und Gabriele fixiert sind. 2. Weil die meisten Amelia vermutlich nur vom Namen her kennen und somit gar nicht identifizieren können - es spricht vieles dafür, dass sie gerade zum erstenmal seit ihrer Kindheit wieder in Genua ist. Und bei Fiesco ist sie "im Verborgenen" aufgewachsen, das geht aus der vorausgehenden Szene hervor.

    Zitat

    Nein, Amelia muss ganz klar allein, am besten aus einer anderen Richtung kommen. Schlimmstenfalls müsste man ihr bei einer "realistischen" Inszenierung eine Auftrittstür in Thronnähe einbauen.

    Wie oben gesagt: Amelia muss mit oder nach der Menschenmenge in den Saal gekommen sein, also aus der gleichen Richtung. Eine Tür in Thronnähe impliziert dagegen einen Ein- bzw. Ausgang zu einem Bereich, der dem Dogen und einigen Vertrauten vorbehalten ist.


    Von mir aus kann Amelia aber auch aus dem Zuschauerraum, dem Orchestergraben oder wie Athene aus dem Kopf des Dogen kommen. :D


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Interessanter Thread, den ich hier gefunden habe. Die Gefahr bei einer Antwort besteht sicherlich auch darin, dass wir ganz schnell in eine Regietheaterdiskussion kommen. Das möchte ich eigentlich nicht und will von daher mal versuchen, das Thema in eine andere Richtung zu schieben.

    Ich erinnere mich noch daran, dass sich eine Sängerin nach einer Premiere doch ziemlich bitter darüber beklagte, dass sie in einem hautengen, knallroten Lederkostüm auftreten musste, obwohl sie schon ein paar mehr Pfunde auf den Rippen hat und sich von daher entsprechend unwohl fühlte. Die (realistische) Szene und der Regisseur verlangten das, sie aber fürchtete, dass sie in ihrer Gesangsleistung durch ihr Unbehagen eingeschränkt war. Zudem war es ihr überhaupt peinlich, sich so präsentieren zu müssen.

    Wie ist es nun (und nun hänge ich das mal ganz hoch) mit der 'Menschenwürde' von Sängern/Sängerinnen, von Schauspielern/Schauspielerinnen? Muss man eigentlich alles mitmachen? Darf ein Regisseur alles verlangen? Gibt es nicht eigentlich auch Grenzen (nicht der Regie), die nicht überschritten werden dürfen/sollten trotz Freiheit von Kunst und so? Welche Rolle spielt eigentlich noch der ausführende Künstler im Theater?

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Darf ein Regisseur alles verlangen? Gibt es nicht eigentlich auch Grenzen (nicht der Regie), die nicht überschritten werden dürfen/sollten trotz Freiheit von Kunst und so? Welche Rolle spielt eigentlich noch der ausführende Künstler im Theater?

    Selbstverständlich darf der Regisseur alles verlangen. Er muss nur jemanden finden, der es realisiert. Mein Chef darf auch alles von mir verlangen. Wenn ich es kann, mache ich es. Wenn nicht, gebe ich ihm den Rat, sich auf dem Markt umzusehen (in der Hoffnung, dass er niemanden findet, der es macht). Falls er problemlos Leute findet, die Dinge können, die ich nicht kann, bin ich fehl am Platz.

    Das gilt auch für die übergewichtige Sängerin. Es wird schon einen Grund geben, dass sie dort angestellt ist. Wenn nun aber normalgewichtige Sängerinnen verfügbar sind, die genau so gut singen, dann muss die übergewichtige halt abnehmen.


    Es könnte allenfalls sein, dass der Mehrwert dieser Inszenierung nicht gegeben ist. Dass also der Regisseur Dinge verlangt, die nichts bringen. Dann hat der Regisseur ein Problem. Wie wenn mein Chef verlangen würde, dass ich meine Präsentationen auf Russisch verfasse. Wenn er aber auf Englisch besteht, es dafür sachliche Gründe gibt, ich das aber nicht kann bzw. will, habe ich das Problem. Muss mir dann eine Stelle suchen, bei der das nicht gefordert ist. Oder warten, bis der Chef abgesägt wird. Es bleibt spannend...


    Thomas

  • Selbstverständlich darf der Regisseur alles verlangen. Er muss nur jemanden finden, der es realisiert. Mein Chef darf auch alles von mir verlangen. Wenn ich es kann, mache ich es. Wenn nicht, gebe ich ihm den Rat, sich auf dem Markt umzusehen (in der Hoffnung, dass er niemanden findet, der es macht). Falls er problemlos Leute findet, die Dinge können, die ich nicht kann, bin ich fehl am Platz.

    Ich sprach hier von einer dem Ensemble angehörenden festeingestellten Sängerin. Da gibt es auch so etwas wie Arbeitsanweisungen.

    Das gilt auch für die übergewichtige Sängerin. Es wird schon einen Grund geben, dass sie dort angestellt ist. Wenn nun aber normalgewichtige Sängerinnen verfügbar sind, die genau so gut singen, dann muss die übergewichtige halt abnehmen.

    Der Grund war ihr stimmliches Vermögen, nicht ihre Figur. Und übrigens empfinde ich dein 'dann muss die Übergewichtige halt abnehmen' als ziemlich menschenverachtend. Entschuldige das harte Wort, aber Menschen sollten nicht als Verfügungsmasse betrachtet werden, weder in der kapitalistischen Wirtschaft noch und erst recht nicht im Kunstbetrieb. Vielleicht bin ich naiv, aber ich dachte immer, dass es im Theater- und Opernbetrieb auch um Gefühle geht. Und deshalb vielleicht auch um Gefühle den Akteuren gegenüber.

    Ich dachte eigentlich immer, dass Theater sich auch darüber definiert, dass es, wenigstens ein Stück, außerhalb der normalen Konventionen, auch der dem kapitalistischen Markt unterworfenen, steht. Da sind aber oftmals Regisseure, die sich der 'Speerspitze der Avantgarde' zuordnen und dann nach 'Gutherrenart' mit den Akteuren umgehen, dass mir jedenfalls schlecht wird. Ich habe da aus Hamburg, hinter den Kulissen sozusagen, einiges erfahren.

    :wink: Wolfram

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  • da geht's jetzt AUCH um Machtstrukturen...
    Und um die Arbeitsmarktsituation für Sänger.
    Ansonsten hängt's wie immer von den beteiligten Personen ab. Es gibt neben reifen Persönlichkeiten überall auch Despoten und Opfer. Da hier entsprechende Abhängigkeiten existieren, kann das auch immer wieder mal zu Missbrauch der Position führen. C'est la vie...

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Einen damatischen Schluss der Oper "Carmen" (deutsch gesungen) erlebte ich in Augsburg, als der Don José die Carmen töten sollte, aber die Carmen war zu schnell und wich ihm immer wieder aus.
    Völlig entsetzt darüber stürzte sich Don José mit dem (Weichgummi-) Messer auf Carmen, stolperte dabei über ein Werbeplakat für den Stierkampf, fiel auf Carmen, bekam eine stark blutende Platzwunde am Unterschenkel und sang dann schmerzverzerrt "Seht mich hier von Blut gerötet - ach ich hab sie getötet".

    (Der Regisseur sagte anschließend zur Carmen, sie muss sich schon töten lassen)

    Kurt

  • Das gilt auch für die übergewichtige Sängerin. Es wird schon einen Grund geben, dass sie dort angestellt ist. Wenn nun aber normalgewichtige Sängerinnen verfügbar sind, die genau so gut singen, dann muss die übergewichtige halt abnehmen.

    Hallo! Mit diesem Satz bin ich nicht einverstanden. Ich denke, das Stimmliche sollte zählen, Äußerlichkeiten sind wirklich maximal nebensächlich, wenn nicht völlig irrelevant. Was machst Du zum Beispiel mit einem Johan Botha (meiner Meinung bis zu seinem viel zu frühen Tode der beste Tenor)? Oder was machst Du mit einer Deborah Voigt (ehemals übergewichtig, jetzt normalgewichtig, dafür stimmlich deutlich schlechter und Alkoholprobleme, wie sie selbst in ihrer Autobiographie für jedermann bekanntgemacht hat)?

    Ansonsten zum Thema: Ich finde, ein Regisseur "darf" von Sängern alles verlangen, das im Rahmen ist und sie nicht bei der Ausübung ihres Berufes (singen) behindert. Regisseure, denen das Optische wichtiger ist als die Musik, brauche ich nicht.

    Wegen der im Mai 2023 in Kraft getretenen Forenregeln beteilige ich mich in diesem Forum nicht mehr (sondern schreibe unter demselben Pseudonym in einem anderen Forum), bin aber hier per PN weiterhin erreichbar.

  • Kapitalistisch? Hakt's jetzt völlig aus?

    In jedem System gibt es Leute die bestimmen und Leute die ausführen. Irgendjemand legt fest, was zu tun ist und wie das auszuführen ist. Das kann sogar ein demokratisch gewähltes Gremium sein. Am Ende werden eben die Leute beschäftigt, welche die gestellten Aufgaben erfüllen.

    Das gilt im Übrigen für jeden Beruf. Und in jeder Epoche der Menschheitsgeschichte.

    Und Anforderungen ändern sich im Laufe der Zeit. Das gilt für alle Branchen.


    Thomas

  • Äußerlichkeiten sind wirklich maximal nebensächlich, wenn nicht völlig irrelevant.

    Diese Meinung sei dir unbenommen, sie tut aber nichts zur Sache. Wenn du bestimmen willst, was irrelevant ist oder nicht, musst du dir einen entsprechenden Job suchen. Oder sonst irgendwie Einfluss nehmen. Aber das geht nur mit handfesten Argumenten. Also mit Vertrag.

    Du kannst z.B. ein Haus bauen, von deinem Geld. Dann legst du fest, wie das gemacht wird. Ob das sinnvoll ist oder nicht, tut nichts zur Sache. Du kannst dich beraten lassen oder auch nicht: Du entscheidest.

    In der Oper entscheidet nun mal der Regisseur. Natürlich in Absprache mit den Leuten, die ihn eingestellt haben. Aber Sänger entscheiden nicht, Sänger singen. Bzw. gestalten ihre Rolle. Nach Maßgabe des Regisseurs. So wie ich meine Arbeit gestalte. Nach Maßgabe meines Chefs. Wenn das Ergebnis Mist ist, wird man das erst mal dem Chef ankreiden. Der kann dann sagen, ich bin unfähig oder renitent. Aber früher oder später wird zeigen, wer der Unfähige ist. Ob er oder ich, das hängt vom Einzelfall ab.


    Thomas

  • Kapitalistisch? Hakt's jetzt völlig aus?

    Häng dich bitte nicht an einem Wort auf. Theater/Oper/Kunst ist für mich etwas oder sollte doch etwas sein, was per se außerhalb der Normen, also außerhalb eines kapitalistischen System (und das beherrscht uns nun einmal) steht. Da sollten Ausführende nicht den Marktgesetzen unterworfen sein. Wenigstens da nicht.

    Aber wenn man auf die Gegebenheiten eines Künstlers nicht mehr Rücksicht nimmt, nur weil sie oder er den gängigen Schönheitsidealen nicht entspricht, wenn man in diesem Fall Sängerinnen im wahrsten Sinne des Wortes in etwas hineinzwingt, um die eigene Idee besser 'verkaufen' zu können, dann sind das für mich schon Auswirkungen/Einwirkungen des kapitalistischen Systems auf Kunst. Vielleicht ist das naiv, aber ich wünsche mir ein Theatersystem als Gegenentwurf und v.a. als ein Ort, in dem der Mensch in seiner Vielfältigkeit im Mittelpunkt steht und nicht der Mensch als eine verfügbare Masse, die man jederzeit benutzen kann.

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

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  • Da sollten Ausführende nicht den Marktgesetzen unterworfen sein. Wenigstens da nicht.

    Ich verstehe immer noch nicht, was das mit Marktgesetzen zu tun hat. Nimm einen x-beliebigen Künstler. Der hat eine Idee. Und sucht Leute, z.B. Handwerker, welche diese Idee realisieren. Da kommen nun mal genau die zum Zuge, die es können.

    Du kannst höchstens sagen, die Idee des Künstlers ist schwachsinnig. Aber mit welchem Recht? Du musst das Werk ja nicht ansehen oder gar kaufen. Du bist da völlig außen vor. Da ist nur Sache zwischen Künstler und Ausführenden. Falls der Künstler einen Auftraggeber hat, spricht der auch noch mit.

    Das war schon bei den alten Römern so. Auch bei den Kommunisten.


    Thomas

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