Mahler: Sinfonie Nr. 8 Es-Dur – Unterschätzter Höhepunkt(!?) im Schaffen eines Genies


  • ein kindlich-verfremdendes, bereits an die IV. gemahnendes Wegrücken durch Diminutiva, "Engelein", "Röschen") und durch seine halb narrative, halb die Elegie betonende musikalische Rahmung. Die daraufhin einsetzende Anfangs-Katastrophe des 5. Satzes wirkt nicht wie die Zurücknahme oder Sistierung irgendeines "JA", sondern als Kontextualisierung, Auf-den-Boden-Holen der Hoffnung, eine Erinnerung an die Welt in der sie statthat.

    Sehr interessant, schön gesagt, aber am Ende nicht überzeugend, liest sich das doch als müsse Mahler vor sich selbst gerettet werden, was mir wie eine ewig gestrige Spätfolge der deutschen Mahler-Rezeption vorkommt. Eine inhaltliche Rettung scheint mir völlig überflüssig. Mag in der Vierten das Ergebnis der Auseinandersetzung Mahlers mit den Implikationen der Wunderhornwelt erkannt werden, so gewinnt sie auf diese Weise einen dezidierten Bilanzcharakter und ist somit als vorläufiger Endpunkt einer Entwicklung zu verstehen. Es will mir allerdings nicht so scheinen, als sei diese Entwicklung, als deren Summe die Vierte verstanden werden kann, in der Zweiten schon - wie suggeriert wurde - so weit gediehen. Es mag einem die Vierte im Auge habend vielleicht so vorkommen, aber ich frage mich, ob man so das Pferd nicht zu stark von hinten aufzäumt.

    Die Diminutive, die sich bei Arnim/Brentano finden, sind in seiner Funktion im Übrigen mitnichten zwangsläufig als "verfremdend" oder gar als "Wegrücken" zu verstehen, sondern es ist völlig legitim, sie im Kontext klassich als geschickt eingesetzte Hypokoristika zu lesen, da sich der Kunsttext so "volksnah-naiv" gibt und somit seine Künstlichkeit mit sprechspachlichen Mitteln zu verschleiern sucht - zumindestens, wenn man man mit Gauger (ich glaube in "Durchsichtige Wörter", 1971) geht, der Diminutiva und besonders eben Hypokoristika als spachliche Kennzeichen der niederen Schichten ("Volk") versteht.

    Zu bedenken ist aber auch, dass dem "Urlicht" nicht nur der Kataklysmus der ersten Takte des fünften Satzes folgt, sondern dass sich dieser musikalisch und auf der Textebende also noch entwickelt. Musikalisch-thematisch bereitet sich die Apotheose sofort nach der eingänglichen Katastrophe vor (Ziffer 2, also nach knappen 26 Takten), und auch die Rahmenstrophen des nun folgenden Textes fragen nicht, hoffen nicht, sondern formulieren emphatischer Feststellungen ("Aufersteh’n, ja Aufersteh’n wirst du mein Staub, nach kurzer Ruh!" bzw. "Aufersteh’n, ja aufersteh’n wirst du, / mein Herz, in einem Nu! / Was du geschlagen, /zu Gott wird es dich tragen!"). Ein deutlicheres Ja kann es aus meiner Perspektive nicht geben.

    Dass sich dieses Ja im Laufe der Zeit wandelt, bzw. in den Hintergrund gedrängt wird, ist unbestritten.

    Und: das gehört alles in der Tat nicht hierher, sondern in den Thread zur Zweiten. Gibt es überhaupt einen? Ich muss gleich mal schauen...

    :wink: Agravain

  • Ich sehe gerade, dass es tatsächlich keinen gibt. Wer macht einen auf?

    Immer der, der fragt... :P


    Mal wieder zur Achten zurück:

    Er wirkt, wenn ich mich an meine zwei Live-Erlebnisse mit dem Werk erinnere, eminent theatralisch. Das Problem ist aber, dass das Werk andererseits durch seine metaphysischen Ambitionen und seine Oratorien-Anlage soweit weg ist vom Theater (als frechem, Heterogenität zulassendem szenischen Rummel begriffen) wie nur möglich. Auf dem (Sprech-)Theater selbst wird der "Faust"-Schluss ja nicht ganz zufällig allermeistens gestrichen, weil kaum ein Theaterpraktiker damit was anzufangen weiß. Nun kommt Mahler durch die musikalischen Hintertüren wieder rein ins Theater - aber es resultiert eine hybride Mischung, weder wirklich sakral noch wirklich weltlich-theatralisch (von gelungenen Stellen abgesehen).

    Das Hybride finde ich interessant - steht bis zu einem gewissen Grad in der Berlioz-Tradition. Das Theatralische muss man in historischer Perspektive wohl auch im Kontext der "Massenregie" der Vorkriegszeit verorten, wie sie insb. von Max Reinhardt vertreten wurde: Dieser hatte 1910 in derselben Münchner Messehalle, in der ein Jahr später Mahlers Achte uraufgeführt werden sollte, Ödipus und die Sphinx von Sophokles mit mehreren hundert Mitwirkenden inszeniert. Auch Mahler war bei der Uraufführung nicht nur Dirigent, sondern auch eine Art Regisseur - und ließ extra Alfred Roller (mit dem er die Wiener Opernreform durchgeführt hatte) kommen, um das Arrangement der musizierenden Massen visuell zu perfektionieren (referiert nach dem Artikel von Peter Revers im bei Bärenreiter erschienenen Mahler-Handbuch).

    Ich habe wenig Probleme mit der Konzeption des Werks, mit dem Hybriden oder dem "Affirmativen". Meine Schwierigkeiten mit der Achten sind fast ausschließlich musikalischer Art: erstens nervt mich die Daueremphase in beiden Teilen gelegentlich. Zweitens kann ich das mit dem "Melodiker Mahler in Höchstform" nicht nachvollziehen. Nie scheint mir Mahler so nah am spätromantischen Mainstream gewesen zu sein wie in diesem Werk: das ewige Legato in großen Notenwerten mit melodisch wenig charakteristischen Phrasen bei manchen Solisten im zweiten Teil ... ich sage nur: Doctor Marianus ... oder die unzähligen Takte, in denen Peccatrix, Samaritana, Aegyptiaca und dann Gretchen sich vokal ausbreiten: hier wird's für mich immer sehr langstielig. Man vergleiche das mal mit der grundsätzlich gar nicht so differierenden, aber frei schwingenden und unregelmäßigen Melodiebildung der Seitenthemen im Abschied des LvdE. Und beim Blicket auf! von Doctor Marianus & Genossen mit seinen schlichten Harmoniefolgen fühle ich mich immer ein bisschen verschaukelt.

    Auch wenn's jetzt anders klingt: ich habe meinen Frieden mit der Achten gemacht und höre sie mir auch gelegentlich an. Meine Lieblingspassagen sind aber immer noch die, die es schon beim ersten Hören waren: der Beginn des Infirma-Chores und das musikalische Pendant Uns bleibt ein Erdenrest im zweiten Teil (mit der stockenden Deklamation und den verstiegenen Streichersoli), das Orchesterzwischenspiel Allegro, etwas hastig im ersten Teil (mit seinem latent aggressiven Charakter und dem schrillen Klangbild) - vor allem aber das Vorspiel zum zweiten Teil (mit den eisigen Holzbläsersoli, den geheimnisvollen Chorälen und der unglaublichen hymnischen Steigerung) und der darauffolgende Chor Waldung, sie schwankt heran - hier ist es Mahler wirklich gelungen, mit der von Pausen durchsetzten, akkordischen und zwischen Singen und Sprechen schwankenden Deklamation ein musikalisches Analogon zur befremdlichen Sprachlichkeit des vertonten Textes zu finden.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • 1) Die Theatralik

    Ich lehne mich jetzt mal aus dem Fenster: Mahler ist m. E. (fast) immer irgendwie etwas theatralisch! Die aufstehenden Bläser in der 1.? Die Fernorchester-Effekte in der 2.? Die Katastrophe im Finale der 6.? Wir reden hier nicht nur von einem genialen Komponisten, sondern auch von einem genialen Theatermacher! Mahler Theatralik vorzuwerfen ist m. E. so, als würde man dem Betreiber einer Schlachterei vorwerfen, keine vegetarische Kost anzubieten. :D

    2) Mahler und Adorno

    Ja, ja, der gute alte Teddy... :D Damit wir uns nicht falsch verstehen: der Mann war ein genial begabter Denker! (Hätte er seine Intelligenz hin und wieder mal in das Streben nach einer deutlichen Ausdrucksweise investiert und nicht in diese verschwurbelte Sprache, hätte ich auch kein Problem damit, aber lassen wir das.) Diese konkrete Einschätzung (wenn "Verdikt" hier schon als non-p-c gesehen wird :hide: ) von Mahler als schlechtem Jasager halte ich aber - sorry - für unglaublichen Quatsch. (Auch hochintelligente Menschen können hin und wieder mal Unsinn verzapfen. Schaut Euch mal Wagner an...) Oder ist etwa das Finale der 1. schlechte Musik? Oder der Schluß von Nr. 2? Oder das Finale von Nr. 3? Oder das Adagietto? Oder "Ging heut' morgen über's Feld"?

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler


  • Ich lehne mich jetzt mal aus dem Fenster: Mahler ist m. E. (fast) immer irgendwie etwas theatralisch! Die aufstehenden Bläser in der 1.? Die Fernorchester-Effekte in der 2.? Die Katastrophe im Finale der 6.? Wir reden hier nicht nur von einem genialen Komponisten, sondern auch von einem genialen Theatermacher! Mahler Theatralik vorzuwerfen ist m. E. so, als würde man dem Betreiber einer Schlachterei vorwerfen, keine vegetarische Kost anzubieten. :D


    Endlich sagts mal einer!

    Zitat

    . (Auch hochintelligente Menschen können hin und wieder mal Unsinn verzapfen. Schaut Euch mal Wagner an...)


    Interessante Zusammenstellung...

    Gruss
    Herr Maria

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht


  • Die Diminutive, die sich bei Arnim/Brentano finden, sind in seiner Funktion im Übrigen mitnichten zwangsläufig als "verfremdend" oder gar als "Wegrücken" zu verstehen, sondern es ist völlig legitim, sie im Kontext klassich als geschickt eingesetzte Hypokoristika zu lesen, da sich der Kunsttext so "volksnah-naiv" gibt und somit seine Künstlichkeit mit sprechspachlichen Mitteln zu verschleiern sucht - zumindestens, wenn man man mit Gauger (ich glaube in "Durchsichtige Wörter", 1971) geht, der Diminutiva und besonders eben Hypokoristika als spachliche Kennzeichen der niederen Schichten ("Volk") versteht.


    so würde ich das auch verstehen, und noch hinzufügen, daß es etwas kindliches hat.
    So kindlich wie die ausgedrückte Überzeugung,
    daß es schon mit dem Ganzen und dem "Ich" eine letztendlich gute Bewandnis hat.
    Dagegen wirkt das Finale fast etwas grob:
    SO konkret ausgeführt wird die Hoffnung fast vom Bild ihrer Erfüllung erschlagen...
    also philosophisch, nichts gegen die musikalische Gestaltung :juhu:

    Gruss
    herr Maria

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht


  • Endlich sagts mal einer!

    Jetzt kämpft Ihr aber gegen Windmühlenflügel :D. Recordatorios Argumentation, auch wenn ich sie nicht unbedingt teile, war doch erheblich differenzierter. (Abgesehen davon stellt die Vertonung eines für das Theater geschriebenen Textes, wenn auch eines recht merkwürdigen, tatsächlich einen Ausnahmefall bei Mahler dar.)

    Ich fände ja statt der zum 69tenmal durchgekauten Adorno-Diskussion ein Gespräch über Konzeption und Musik (!) des Werkes interessanter.


    Viele Grüße

    Bernd

    .


  • Jetzt kämpft Ihr aber gegen Windmühlenflügel :D. Recordatorios Argumentation, auch wenn ich sie nicht unbedingt teile, war doch erheblich differenzierter. (Abgesehen davon stellt die Vertonung eines für das Theater geschriebenen Textes, wenn auch eines recht merkwürdigen, tatsächlich einen Ausnahmefall bei Mahler dar.)


    Findest Du das irgendwie abwertend mit dem Theatralischen bei Mahler?
    meine Zustimmung zu der Feststellung war so nicht gemeint..
    Aber daß es theatralisch daherkommt, von der ersten bis mindestens zur 8ten,
    finde ich auch. Wundert mich auch nicht beim Direktor einer Hofoper....

    Gruss
    Herr Maria

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Findest Du das irgendwie abwertend mit dem Theatralischen bei Mahler?
    meine Zustimmung zu der Feststellung war so nicht gemeint..

    Mir scheint, dass hier niemand "das Theatralische" bei Mahler abwertend beurteilt (allenfalls, wie Recordatorio, die Kombination mit anderen Faktoren: dem "Sakralen" etc.).

    Wenn schon, dann müsste man den Begriff des Theatralischen stärker ausdifferenzieren: In Mahlers Werken (allerdings bei weitem nicht in allen) gibt es unzweifelhaft eine Tendenz zur szenischen Belebung der Ausführenden, bis hin zu einer Art Massenchoreographie, wie sie Mahler und Roller anscheinend für die Münchner Uraufführung der Achten entworfen haben. Wenn Recordatorio aber oben Theater provisorisch als "als frechen, Heterogenität zulassenden szenischen Rummel" definiert, dann ist die Achte davon weit entfernt - hier könnte man eher die immanente Theatralik heterogener Elemente in anderen Mahler-Werken anführen.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • dass hier niemand "das Theatralische" bei Mahler abwertend beurteilt (allenfalls, wie Recordatorio, die Kombination mit anderen Faktoren: dem "Sakralen" etc.).

    Jenau. Das Theatralische bei Mahler wäre in der Tat eine eigene Erörterung wert... zunächst aber muss ich die unanständig große(den Ausdruck rein quantitativ genommen, versteht sich!) Frucht meines abendlichen Hörens der Achten hier posten; bitte verzeiht mir die wenig konzise Gedankenführung, ich bin phänomenologisch an meinem Hören drangeblieben. Zudem habe ich keine Partitur.

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    So. Ich habe mich den (in meiner Aufnahme; Rattle in Birmingham) 77 Minuten des Werkes noch einmal unterzogen. Und vorweg: sie sind mir, trotz großer, bereits vorher auf die schriftliche ‚Auswertung’ gerichteter Aufmerksamkeit und daher quasi gar nicht ‚naivem’ Interesse, sehr lang vorgekommen. Das geht mir bei sonst keiner Mahler-Sinfonie so, nicht einmal bei der von mir als sehr, sehr problematisch empfundenen II.; allenfalls bei der VI. stellt sich bei mir an schlechten Tagen ein Gefühl von Monotonie ein. Hier aber: weniger Monotonie als: zu zerfasert, redundant, „Weniger wäre mehr gewesen“. Ich denke, es liegt, v. a. in der Faustmusik, am dünnen thematischen Material. Ihm ist ja da außer dem Thema „Alles Vergängliche“, das ich für ziemlich genial halte (grade wegen seinem beinahe-ostinaten, an Sprechgesang mahnenden Vorsatz, der dann in beiden Phrasen des jeweiligen Nachsatzes nur um einen Ganztonschritt emporgehoben wird, wobei doch der Eindruck viel größeren Aufstiegs entsteht durch das Vorher-Runtergehen – ein irgendwie verblüffender, das Transzendente quasi aus der Tiefe holender Einfall, der gleichzeitig sehr einfach ist) fast gar keine wirkliche plastische Prägung eingefallen. Für die Länge und v. a. den Farbenreichtum der von Goethe evozierten Stimmungen n bisschen wenig.


    Zunächst aber der I. Teil: In der Aufnahme die ich gehört habe wirkt er in der Tat gar nicht so übermäßig laut, außer an ein paar Stellen. Die Gewalttätigkeit, der Bombast sind also für mich nicht an sich das Problem. Sondern: wozu sie da sind. Ab dem ersten Orgelakkord ist ja klar: irgendwie bin ich hier in eine Messe geraten (legt mir jetzt den Ausdruck nicht auf die Goldwaage, ich weiß, Oratorium oder schlicht Hymnus wäre korrekter). Dabei wollte ich eine Sinfonie hören. „Sinfonie“ heißt für mich in Mahlers Fall: die Welt noch einmal, in Perspektiven, und ich und andere mitten in ihr; ein Kaleidoskop des Vorhandenen; ein Roman der Gefühle. Drama. Hier passiert, das ist relativ schnell klar, kein Drama, sondern es wird eine andere Art Theaterstück aufgeführt. Eine Komödie isses nicht, dazu müsste man mehr Parodistisches heraushören. Sondern offenbar tut man ‚allen Ernstes’ so, als rufe man den Heiligen Geist an. Also eine Art Weihfestspiel. Das ist für mich als Agnostiker ein kleines Problem, weil ich gerne vorher (qua Rahmen, Rubrik, Raum) wüsste, wenn ich mich darauf einlasse mich dem christlichen Glauben auf Augenhöhe zu nähern. So setzen bei mir die bekannten Effekte ein, dass ich über Vieles in den Prätentionen der Texte lachen muss und dazu kein produktives Verhältnis finde, ja sogar oft denke, ein wirklicher Christ müsste das hier doch irgendwie als blasphemische Veranstaltung empfinden. (Habe neulich so was ähnliches, wenngleich eher umgekehrt Problematisches erlebt in Hannover, wo ein Theaterstück nach der Pause in eine Kirche verlegt wurde und als ‚Gottesdienst’ weitergeführt. Die Kontexte stimmen alle nicht mehr; das Sagbare hätte neu definiert werden müssen und wurde es nicht.)


    Nun gut, stellen wir dieses ‚inhaltliche’ Bedenken mal hintan und tun wir so, hier gehe es gar nicht wirklich um den Glauben, sondern dieser sei bloß eine Metapher (als welcher er ja auch für Agnostiker ganz gut funktioniert). Rein musikalisch höre ich Dinge, die ich in andern Messen (s. o.) auch höre, wie das typische Durcheinandergesinge der Solisten (zum ersten Mal bei „imple superna gratia“), was auch in geistlichen Werken die ich schön finde auf mich oft ein bisschen peinlich wirkt, als würden sich ein paar Hofsänger darum drängeln, es dem „Herrn“ / dem Bischof / dem Fürsten besonders recht zu machen. Während in der Oper die Ensembles bestenfalls durch Situation und Setting, manchmal auch durch die IDEE konkret motiviert sind (denken wir an die „Meistersinger“, den „Rosenkavalier“, den „Figaro“…) ist das in solchen sakralen Werken oft bloß Schaulaufen. Na ja, lieber wieder zurück zum Thema:


    Spannend find’ ich die Gegend um „infirma nostri corporis“; irgendwie klingt es hier oft, man verzeihe mir den Gemeinplatz, jüdisch, und das finde ich großartig. Es hat diese ganz bestimmte spirituelle Melancholie der jüdischen Musik. Das Geigensolo erinnert an die Eingebungen im „Mitternachtslied“ der III. Sinfonie, vorher klingt das Thema – man verzeihe mir die banale Assoziation – kurz nach demjenigen, das John Williams 85 Jahre später für „Schindlers Liste“ einfiel. Dieses Thema wird im II. Teil bei den „vollendeteren Engeln“ wieder auftauchen: „ein Erdenrest, zu tragen peinlich“… wunderbar. Irgendwie ging es bei Mahler doch immer v. a. um den Erdenrest, er täte besser, weiter darin zu wühlen als auf einmal nach dem theologisch zugerichteten Heiligen Geist zu rufen. – Das Orchesterzwischenspiel mit seinen Marschelementen könnte auch vom ‚frühen’ Mahler sein; ich höre es als das Hereinnehmen eines Objektiven, Äußerlichen --> durch diese Kontextualisierung wirkt das Wiedereinsetzen der Soli dann auf einmal wieder logisch, als ein Ergebnis einer vorgefundenen Verworrenheit, und nicht als gespreizte Sing-Show. – Stark dann das „Accende“ – deshalb, weil es mich zwar mitreißt in seinem „Durchbrechen“ (Adorno lässt grüßen), aber im Fortgang, auch durch das Hereinnehmen der Marschrhythmen, ungemein bedrohlich zu wirken beginnt. Verführung und Gefahr von jauchzenden Massen. Wenn an einer Stelle dann sogar noch der Kinderchor mit einsetzt, habe ich auf einmal die HJ oder, wem das zu konkret-banal ist, die Kultreligion aus dem „Herrn des Wüstenplaneten“ vor mir… gruslig. – Das abschließende „Gloria“ kann ich als leicht parodistisch empfinden, gerade in seinem Beschleunigen und Sich-Überschreien; der I. Teil schließt damit ab wie ein emphatisches Vorwort, und die Stille danach lässt mich gespannt weiterhorchen.


    Und wie belohnt einen der instrumentale Anfang des II. Teils! Die „heranschwankende Waldung“ hat Mahler zu einer Art geistigerer, nüchternerer Evokation dessen inspiriert, was ihm in der III. Sinfonie schon mal gelungen war. Die Bläserarbeit ist grandios; der Passus hält sich fern von jeder bloßen Illustration à la Alpensinfonie und entspricht damit dem Geist von Goethes Dichtung. Wenn das „Alles Vergängliche“-Thema einsetzt, in den Streichern und mit großem Tremolo, spüre ich auf einmal wieder das existenzielle Pathos ‚meines’ Mahler, ich weiß: es geht um das Vergängliche, die Erde. Nicht umsonst gemahnt hier Manches schon an das Zerfasern des „Abschieds“ im LvdE. Ein grandioser Satzbeginn, der einen nicht enttäuscht nach der vorangegangenen Stille und für einen Moment glauben lässt, der „Schöpfergeist“ sei tatsächlich zu Mahler hinunter gestiegen auf seine Anrufung hin.


    Dann aber geht’s in die Breite. Der erste Choreinsatz, pianissimo und staccato, wirkt in seiner konkreten Theatralik noch sehr gut eingebunden in das Vorige; der Chor ist Teil dieses konkreten Universums, das zeichnet ihn sehr aus gegenüber dem Ideologie-Chor des I. Teils. Aber schon der Pater profundus ermüdet. Das Herumspielen mit dem „Alles Vergängliche“-Thema in seinen Passagen reicht nicht aus, um den erotischen Pantheismus der Text-Stelle auszudrücken; der Gesang ist konventionell und ich sehne mich nach Schönberg und Co. – Die Engelchen gelingen Mahler (wie schon in der III.) natürlich hübsch, aber insgesamt kommt das Szenario nie über ein infantiles Idyll hinaus – in der III. und IV. hatte das seinen guten Platz (auch im Zusammenhang mit den kindlich-romantischen Wunderhorntexten – aber hier müsste ja irgendwo, der Idee des Dramoletts nach, eine neue Sphäre jenseits des Irdischen erreicht werden, ich meine: wirklich erreicht werden, und das gelingt der Musik gar nicht. Der Marianus bringt weder wirkliche Transzendenz noch wirkliche Leidenschaft zum Ausdruck, er partizipiert an dem Klischee „Tenorarie“ ohne daraus etwas zu entwickeln. (Da lob’ ich mir, um ein drittes Mal Richard Strauss ins Spiel zu bringen, den Gesang des Kaisers im II. Akt der „Frau ohne Schatten“…) Die von Harfen begleitete Geigenkantilene ist hübsch, Vergleichbares hat man aber im „Adagietto“ oder im Andante der VI. noch besser gehabt. Die Kindermelodien der großen Sünderinnen langweilen. Das Glockenspiel kurz vor Schluss lässt erneut an das LvdE denken, und der Einsatz des Chors mit dem Thema ist großartig, weil er Sehnsucht erzeugt bei mir als Agnostiker, nach dem Motto: „Ach ja, lass es doch wenigstens ‚ein Gleichnis’ sein!“, und in dem imperativischen „Lass“ ist soviel Dialog mit Gott wie mir möglich ist. Aber Ende gut ist noch nicht alles gut… es bleibt zu lang, und zu wenig inspiriert, auch wenn man es mal vor allem Inhalt an den verschiedenen Sprachrhythmen der Vorlage misst.


    Fazit: je ernster man den explizit ideologischen Anspruch des Werkes nimmt, umso mehr muss man enttäuscht werden. Wenn man ihn nach Kräften ignoriert, hört man eine Art schwache, breite Oper mit wunderbaren Passagen und wunderlichen Texten.

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    Musica est exercitium metaphysices occultum nescientis se philosophari animi

  • Meine Lieblingspassagen sind aber immer noch die, die es schon beim ersten Hören waren: der Beginn des Infirma-Chores und das musikalische Pendant Uns bleibt ein Erdenrest im zweiten Teil (mit der stockenden Deklamation und den verstiegenen Streichersoli), das Orchesterzwischenspiel Allegro, etwas hastig im ersten Teil (mit seinem latent aggressiven Charakter und dem schrillen Klangbild) - vor allem aber das Vorspiel zum zweiten Teil (mit den eisigen Holzbläsersoli, den geheimnisvollen Chorälen und der unglaublichen hymnischen Steigerung) und der darauffolgende Chor Waldung, sie schwankt heran


    Hallo Bernd - lese grade erst diesen Deinen früheren Beitrag - da sind wir ja gar nicht so weit voneinander weg... :) :wink:

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    Musica est exercitium metaphysices occultum nescientis se philosophari animi

  • erstmal vielen Dank an recordario für dieses wunderbare Protokoll...
    die Bemerkung über die durcheinendersingenden Solisten hat mir manches Unbehagen,
    das mich schon in Beethovenschen Soloquartett-Einschüben befiel, erhellt.

    sakrales Theater ist das Stichwort.
    wenn man an die Antike denkt, ja eigentlich nicht unbedingt ein Widerspruch.
    Nun lebt ja so eine Kunstform in gewisser Weise auch davon, daß die Inhalte des "Kultus" klar sind
    und vom Hörer geteilt werden. (zumindest nicht als bösartig oder schädlich angesehen -
    wir würden auch die genialste Invokation faschistischen Volksglaubens nicht ästhetisch goutieren können...)
    und genau da beginnt das eigentümlich schillernde sowohl in Goethes Text als auch in Mahlers Auswahl:
    Wir bleiben im Unklaren über die Botschaft!
    Das kann von Goethe durchaus so gemeint sein, der ja in religiöser Hinsicht eher polygam veranlagt war.
    Was Mahler jetzt eigentlich feiern wollte, bleibt letztendlich unausgesprochen.
    Okay, das Weibliche zieht uns hinan, und der heilige Geist ist eine Art Droge,
    das Bewußtsein sturmreif zu schießen für diese Einsicht.
    (die Mahler-als-Propheten-Verehrer können das auch als Vorahnung des Feminismus interpretieren...)
    Jedenfalls eine psychotechnisch raffinierte Kombination von Katholizismus
    und Feier der Wirkung des Weiblichen auf den ja doch mephistophelisch verseuchten Geist
    des Mannes (um den Goetheschen Kontext nicht zu vergessen).

    Wo bin ich da hingeraten...
    Jedenfalls: mir gfoits

    Gruss
    Herr Maria

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • PS
    es juckt mich, eine Ambientversion der Nietzsche-Version

    "alles vergängliche
    ist nur DEIN Gleichnis
    Gott der Verfängliche
    ist Dichtererschleichnis

    Weltrad das rollende
    streift Ziel auf Ziel
    Not nennts der Grollende
    der Narr nennts Spiel"

    (aus den "liedern des Prinzen Vogelfrei", zitiert nach reclam)

    mit den Mahlerschen Akkorden zu produzieren...

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Ihm ist ja da außer dem Thema „Alles Vergängliche“.....
    fast gar keine wirkliche plastische Prägung eingefallen. Für die Länge und v. a. den Farbenreichtum der von Goethe evozierten Stimmungen n bisschen wenig.


    find ich nicht. Wenn ich mir das "Neige, neige" vergegenwärtige, nicht sehr avanciert, aber echt ausdrucksvoll.
    oder die "höchste Herrscherin cder Welt",
    das ist doch reine Melodie, befreit von aller Periodik,
    auch irgendwie folgenlos wie so viele Gestaltungen hier,
    mehr Collage als Konsequenz,
    und dennoch in der Abfolge stimmig, beseelt.
    (Wobei ich Dir rechtgeben muss, die "Kindermelodien der Sünderinnen"
    hätten nicht sein müssten, wie manches Detail, das zu lang geraten -
    aber der Sog ist da, der die Partikel hinzieht zum Schlußakkord)

    Zitat

    Der Marianus bringt weder wirkliche Transzendenz noch wirkliche Leidenschaft zum Ausdruck, er partizipiert an dem Klischee „Tenorarie“ ohne daraus etwas zu entwickeln.

    Das ist es doch gerade, was die Losgelöstheit dieser Musik bewirkt:
    Die klanglich evozierten Gefühlsgesten stehen da und entwickeln sich zu nichts,
    außer die nächste hervorzurufen.

    Zitat


    „Ach ja, lass es doch wenigstens ‚ein Gleichnis’ sein!“, und in dem imperativischen „Lass“ ist soviel Dialog mit Gott wie mir möglich ist.


    wunderbar formuliert, danke!

    Letztendlich ist doch die Vorstellung,
    "ein wirklicher Christ müsste das hier doch irgendwie als blasphemische Veranstaltung empfinden"
    keine wirklich schlimme, oder?
    so gesehen wär ja die "Symphonie der Tausend" dann ein sehr schönes Parallel- und Gegenstück zum "Sacre",
    ist doch ungefähr die Zeit?


    Gruss
    herr Maria

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Zunächst mal guten Morgen :)

    sakrales Theater ist das Stichwort.
    wenn man an die Antike denkt, ja eigentlich nicht unbedingt ein Widerspruch.


    Nee, aber was fangen wir (und Mahler ist ja eher unser Zeitgenosse als der der Griechen) denn heute ästhetisch mit dem antiken Theater an? Die Stärken liegen bei Aischylos und Sophokles im Mono- bzw. Dialog der leidenden, glaubenden, ringenden, Böses tuenden und Gutes wollenden Menschen; Dei ex machina, sofern sie auftauchen, wirken als Notlösungen und werden von uns im Theater heut oft gestrichen. Bei Euripides ist es ja eh schon so dass die Götter und das 'Schicksal' volle Kanne angegriffen, bezweifelt und beschuldigt werden. Also: das antike Theater vermittelt uns Vieles, aber gerade nicht Religion.

    Jedenfalls eine psychotechnisch raffinierte Kombination von Katholizismus
    und Feier der Wirkung des Weiblichen auf den ja doch mephistophelisch verseuchten Geist
    des Mannes (um den Goetheschen Kontext nicht zu vergessen).


    Hübsch gesagt, solange man es auf Goethe münzt. Als Gedankenexperiment nimmt man es ja bei der Lektüre des "Faust" auch hin; den Schritt, dass dann szenisch zu verkörpern, geht wohl berechtigterweise kaum jemand, denn dann müsste er, der Ausführende, dazu konkret sich verhalten (sonst wird es nämlich langweilig). Aber Mahler? Was an "Katholizismus" hat er denn wirklich hier hereingegeben? Da ist mir doch jede Bruckner-Messe 10mal aufschlussreicher. Und mit der Wirkung des Weiblichen steht's nicht viel besser. Wenn damit schiere Erotik gemeint ist, dann muss ich sagen: ich fand Mahler noch nie einen großen Erotiker (von Ausnahmestellen in den mittleren Sinfonien abgesehen), und hier schon gar nicht; wenn hingegen an die Behandlung weiblicher Stimmen gedacht ist: ich gebe für das "Urlicht", die "Schönen Trompeten" oder natürlich den "Abschied" die gesamte Faustmusik gerne her. Mir zumindest würde bei Namen wie "Mater gloriosa" mehr Glanz und Grandezza, bei "Magna peatrixx" mehr kundryhafte Zerrissenheit vorschweben etc.

    Letztendlich ist doch die Vorstellung,
    "ein wirklicher Christ müsste das hier doch irgendwie als blasphemische Veranstaltung empfinden"
    keine wirklich schlimme, oder?
    so gesehen wär ja die "Symphonie der Tausend" dann ein sehr schönes Parallel- und Gegenstück zum "Sacre",
    ist doch ungefähr die Zeit?


    Nee, nich schlimm - aber auch nicht attraktiv. Ich finde die Vorstellung leicht peinlich, nämlich durch das Sich-Gegenseitig-Benutzen des Weihevollen und des Artifiziellen. Komischerweise habe ich solche Assoziationen beim "Sacre" gar nicht, da wird für mich der heidnische Kultus bloß dargestellt. Ich mag das "Sacre" gleichwohl noch weniger als Mahlers VIII., aber das hat andere Gründe.

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    Musica est exercitium metaphysices occultum nescientis se philosophari animi

  • Moin Moin

    Aber Mahler? Was an "Katholizismus" hat er denn wirklich hier hereingegeben? Da ist mir doch jede Bruckner-Messe 10mal aufschlussreicher. Und mit der Wirkung des Weiblichen steht's nicht viel besser. Wenn damit schiere Erotik gemeint ist, dann muss ich sagen: ich fand Mahler noch nie einen großen Erotiker (von Ausnahmestellen in den mittleren Sinfonien abgesehen), und hier schon gar nicht; wenn hingegen an die Behandlung weiblicher Stimmen gedacht ist: ich gebe für das "Urlicht", die "Schönen Trompeten" oder natürlich den "Abschied" die gesamte Faustmusik gerne her. Mir zumindest würde bei Namen wie "Mater gloriosa" mehr Glanz und Grandezza, bei "Magna peatrixx" mehr kundryhafte Zerrissenheit vorschweben etc.


    Naja, ich nenne es mal (mindestens zitierten) Katholizismus, wenn die "Sinfonie" erstmal mit einem halbstündigen
    Pfingsthymnus anfängt...
    Und daß das Weibliche letztendlich nur als Projektionsfläche dient, empfinde ich auch so:
    alle Stellen, die ich als irgendwie ausdrucksstark empfinde, sind entweder Chor- oder Männerstimmen
    vorbehalten.
    Mahler war eindeutig kein Frauenversteher, das ist mal klar,
    und die Abwesenheit erotischer Stimmungen würde ich voll Bestätigen.
    Finde auch das "Adagietto" nicht wirklich erotisch, eher unerfüllt sehnsuchtsvoll, dabei diese Sehnsucht noch feiernd:
    Das weibliche glänzt durch Abwesenheit und fernes Leuchten.
    Und das "Urlicht" ist ja eher kindlich, das ist auch keine weibliche Stimme, ausser daß es halt ein Alt singt.

    Zitat


    Nee, nich schlimm - aber auch nicht attraktiv. Ich finde die Vorstellung leicht peinlich, nämlich durch das Sich-Gegenseitig-Benutzen des Weihevollen und des Artifiziellen. Komischerweise habe ich solche Assoziationen beim "Sacre" gar nicht, da wird für mich der heidnische Kultus bloß dargestellt. Ich mag das "Sacre" gleichwohl noch weniger als Mahlers VIII., aber das hat andere Gründe.


    Ist dieses sich-gegenseitig-Benutzen nicht schon in den spätklassischen bis romantischen Messen eine Problematik?
    Fällt bei Beethoven weniger auf, auch wenn der Rückgriff auf Kirchentonarten in der "Missa Solemnis" letztendlich auch artifiziell ist.
    Nur wir nehmen ihm eher ab, daß er damit etwas sagen will.
    Oder - etwas zu sagen hat?
    Weniger theatralisch als Mahler ist doch das Benedictus letztendlich auch nicht, und doch sind die Einwände rar - warum?
    Bernstein hat ja in seinem Essay zu den 10 Symphonien sowas formuliert wie
    "Choräle, die klingen, als wäre die ganze Christenheit wahnsinnig geworden".
    Sehr schön so weit, nur, wer hört sich 90 Minuten meinetwegen prophetische Parodie an?
    Also es muss ja etwas geben, was ein Publikum da immer wieder hinlockt
    und dazu bringt, die ganze sakrale Sosse entweder der Musik wegen zu ignorieren oder
    als Bestandteil des Kunstwerkes zu geniessen.
    Meine These: es ist die Abwesenheit einer wirklichen Ideologie, eines Inhaltes,
    dessen man sich irgendwie schämen müsste als moderner aufgeklärter Hörer:
    ekstatischer Kultus ohne störende Inhalte: das perfekte postmoderne Kultwerk.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Schönes Hörprotokoll, lieber Recordatorio - und ich kann mich in der Tat dem meisten, was Du schreibst, ohne weiteres anschließen.

    Aber schon der Pater profundus ermüdet. Das Herumspielen mit dem „Alles Vergängliche“-Thema in seinen Passagen reicht nicht aus, um den erotischen Pantheismus der Text-Stelle auszudrücken; der Gesang ist konventionell und ich sehne mich nach Schönberg und Co.

    Meinst Du hier nicht den Pater ecstaticus? Der greift doch das "Alles-Vergängliche"-Thema explizit auf, liefert es allerdings nach den betörend geheimnisvollen instrumentalen Varianten des Vorspiels einer auf mich einförmig wirkenden Emphase aus (ziemlich häufig sequenziert Mahler hier auch Phrasen, wenn auch leicht variiert). Wie dem auch sei: leider ist die Stelle Ewiger Wonnebrand etc. nicht selten der Augenblick, in dem ich auf die Stoptaste der Fernbedienung drücke - so auch gestern wieder ;( .

    Als Alternative denke ich da weniger an Schönberg & Co als an Mahler selbst: so unähnlich ist das Trinklied vom Jammer der Erde aus dem LvdE in Gestus und Tonfall nicht - aber die musikalische Gestaltung viel konzentrierter, weniger mäandernd, im entscheidenden Augenblick (...hinausgellt in den süßen Duft des Lebens) an die Grenzen des Gesangs stoßend.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Meinst Du hier nicht den Pater ecstaticus? Der greift doch das "Alles-Vergängliche"-Thema explizit auf, liefert es allerdings nach den betörend geheimnisvollen instrumentalen Varianten des Vorspiels einer auf mich einförmig wirkenden Emphase aus (ziemlich häufig sequenziert Mahler hier auch Phrasen, wenn auch leicht variiert). Wie dem auch sei: leider ist die Stelle Ewiger Wonnebrand etc. nicht selten der Augenblick, in dem ich auf die Stoptaste der Fernbedienung drücke - so auch gestern wieder


    Kann ich zwar argumentatitv nachvollziehen, aber mit dem Ecstaticus geht es mir noch besser. Es ist wahrscheinlich (a) dass ich nem Bariton leichter folge als nem Bass, und (b) v. a. der Text, der mir in seiner ekstatischen Martyriums-Aspiration einfach an sich näher geht als der folgende des Profundus, der mir als Variation des Vorspiels nach tieferer Exegese zu verlangen scheint als Mahler sie leistet. Der Ton des Ecstaticus hingegen reicht mir als 'Zeichen' für die Dauer der (ja auch viel kürzeren) Stelle aus. Du hast recht, es hat bereits was vom "Trinklied" (außerdem erinnert es mich noch an irgendwas anderes, nicht von Mahler, worauf ich im Moment nicht komme).

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    Musica est exercitium metaphysices occultum nescientis se philosophari animi

  • Ist dieses sich-gegenseitig-Benutzen nicht schon in den spätklassischen bis romantischen Messen eine Problematik?

    Ich denke, ja. Aber ich bin zu wenig 'dicke' mit sakraler Musik, als dass ich hier wirklich was beisteuern könnte. Die Missa solemnis harrt seit Monaten (seit es hier den entsprechendeThread gibt) meines Wiederhörens, und ich kann mich nicht dazu durchringen, weil das Werk mich früher zwar abstrakt beeindruckt, aber nie 'erreicht' hat... wenn ich mich vorwagen dürfte, würde ich sagen dass Schubert und Bruckner in ihren Messen wirklich überzeugend religiös waren... aber das wäre wahrlich ein anderer Thread.

    Also es muss ja etwas geben, was ein Publikum da immer wieder hinlockt
    und dazu bringt, die ganze sakrale Sosse entweder der Musik wegen zu ignorieren oder
    als Bestandteil des Kunstwerkes zu geniessen.
    Meine These: es ist die Abwesenheit einer wirklichen Ideologie, eines Inhaltes,
    dessen man sich irgendwie schämen müsste als moderner aufgeklärter Hörer:
    ekstatischer Kultus ohne störende Inhalte: das perfekte postmoderne Kultwerk.

    Ich würde spekulieren: die Leute gehen (a) wegen des Komponistennamens (der "Marke Mahler"), (b) wegen des Spektakelcharakters ("Sinfonie der Tausend") und (c) wegen der feierlich-'erhabenen' Inhalte hin (Goethe), übrigens aus ähnlichen Gründen wie, denke ich, viele zu Neujahr in Beethoven IX gehen. Ansonsten gibt es sicher diesen postmodernen Einschlag, den Du benennst... vielleicht ähnlich wie beim Parsifal. Das wäre alles mal was für ne richtig ernsthafte Rezeptionsforschung!

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    Musica est exercitium metaphysices occultum nescientis se philosophari animi

  • Ansonsten gibt es sicher diesen postmodernen Einschlag, den Du benennst...

    Aufgrund der Diskussion hier und insbesondere der These vom "postmodernen Werk", das in Mahlers 8. vorliegen soll, hab ich die Symphonie (die von mir einzig ungeliebte Mahler-Symphonie - ich bin somit ziemlich unoriginell) heute auch mal wieder gehört (in der Abravanel-Interpretation, weil die einigermaßen kurz ist).

    Also, bei aller Liebe, "postmodern" ist an diesem Werk gar nichts - da tönt doch dem Hörer über ca. 75 Minuten der gepanzerte Wille zu sinnhafter Botschaft entgegen. Da ist nix gebrochen, unterminiert oder gar dekonstruiert wird hier nicht das Fitzelchen einer Textphrase (allenfalls unfreiwillig ironisiert durch ins Karikaturhafte übersteigerte Emphase). Nichts ist hier als bloßes, leichtes und versatzstückhaft zu verwendendes "Material" dem Komponisten zuhanden; alles ist durchpulst von bleischwer-optimistischer Ernsthaftigkeit.

    Mehr "gewollten" Bedeutungsüberschuss gibt es IMO in keinem anderen Mahlerschen Werk; zumindest wird der Bedeutungsüberschuss dem Rezipienten in keinem anderen Werk Mahlers so offensichtlich um die Ohren gehauen, wie hier. Vielleicht ist die 8. ja auch das am wenigsten postmoderne Werk Mahlers...

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

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