Mahler - Das Lied von der Erde

  • Mahler - Das Lied von der Erde

    1937 schreibt Benjamin Britten an seinen Freund Henry Boys: „I cannot understand it – it passes over me like a tidal wave – and that matters not a lot either, because it goes on for ever, even if it is never performed again – that final chord is printed on the atmosphere.”

    Ein Jahr zuvor hatte sich Britten die Partitur von Mahlers Das Lied von der Erde beschafft und war seitdem vollkommen dafür eingenommen, wobei ihn besonders das letzte Lied (Der Abschied) faszinierte. (vgl. Cooke, Mervyn (ed.): The Cambridge Companion to Benjamin Britten. Cambride 1999. S. 339)

    Tatsächlich geht von Mahlers Lied von der Erde für viele Hörer eine Faszination aus, der man sich kaum entziehen kann. Mir geht es da nicht anders. Über die Zeit haben sich über zwanzig Aufnahmen des Werkes in meinem Regal angehäuft, kaum ein Werk Mahlers höre ich so oft, kaum eines ist mir so wichtig. Wenn ich gezwungen wäre, die Bedeutung, die dieses Werk für mich hat, ganz knapp auf den Punkt zu bringen, so müsste ich wohl sagen, dass für mich das Lied von der Erde die Möglichkeit einer direkten Begegnung mit Mahler ermöglicht, ganz so, wie es Reinhard Schulz in seiner – aus meiner Sicht ansonsten nicht durchweg überzeugenden – Werkeinführung in Renate Ulms Mahler-Buch (Gustav Mahlers Symphonien. Entstehung, Deutung, Wirkung. hg. v. Renate Ulm. München 2001) formuliert:

    Wirklich scheint uns hier Mahler als Mensch gleichsam schutzlos gegenüberzutreten. Ausdruck ist ohne ästhetische Brechung direkt in Musik gesetzt, keine sanktionierte Satz- oder Formtechnik schiebt sich behütend oder einbindend vor das Ich, das in seinen letzten Jahren immer mehr Züge einer visionären Gespaltenheit annahm.“ (Schulz 251)

    Mag man eine solche Deutung als esoterisch begreifen, man mag einwenden, dass das Werk selbstverständlich nicht ohne ästhetische Brechung auskommt (die das Werk durchziehende Chinoserie wäre zu nennen), man mag sagen, dass in Mahlers „Symphonie für eine Tenor- und eine Alt- (oder Bariton-) Stimme und Orchester durchaus eine symphonische Struktur auszumachen ist, die sich an frühere Symphonien anschließt, doch ändert das – für mich – nichts an dem Zentralen, nämlich an der mich ansprechenden krassen Menschlichkeit des Werkes und an dem von Schulz angesprochenen visionären Zug.

    Dass Mahler im Lied von der Erde die Rolle eines Visionärs einnimt, scheint für mich kaum bestreitbar zu sein, erkennbar nicht nur daran, dass sich am Ende „die Transformation unerfüllter menschlicher Sehnsucht in eine transzendete, durch die Imagnination der ewigen, lichten Ferne symbolhaft aufgeladene Seinserfahrung“ verdichtet (Revers, Peter: „Duft lyrischer Versgebilde“. Musik und Lyrik in Gustav Mahlers Das Lied von der Erde. In: Gustav Mahler: Lieder. Musik-Konzepte 136. Hg. v. Ulrich Tadday. München 2007. S. 111), sondern auch an dem Umstand, dass Mahler urprünglich alternative Titel für seine Komposition in Betracht gezogen hatte, unter anderem Die Flöte aus Jade. Meine Frage war:Wie kam Mahler auf den Titel? Da ich in der mir zur Verfügung stehenden Literatur keinen Anhaltspunkt gefunden fand, legte ich das Problem ad acta, bis ich kürzlich einmal das Bändchen Die Chinesische Flöte von Hans Bethge, der Mahler die Texte für das Lied von der Erde entnommen hatte, komplett gelesen habe. Und da steht doch zwischen Der Pavillon aus Porzellan (bei Mahler Von der Jugend) und Am Ufer (bei Mahler Von der Schönheit) ein Text, der überschrieben ist mit Der Tanz der Götter:

    Zu meiner Flöte, die aus Jade ist,
    Sang ich den Menschen tief bewegt ein Lied, -
    Die Menschen lachten, sie verstandens nicht.
    Da hob ich schmerzvoll meine Flöte, die
    Aus Jade ist, zum Himmel auf und brachte
    Mein Lied den Göttern dar. Die Götter waren
    Beglückt und huben auf erglühnden Wolken
    Nach meinem Lied zu zanzen an...

    Nun singe ich mein Lied den Menschen auch
    Zur Freude; nun verstehn sie mich auch,
    Spiel ich das Lied auf meiner Flöte, die
    Aus Jade ist...
    (Li-Tai-Po)

    Wenn sich Mahler hier nicht wiederfinden konnte, dann weiß ich auch nicht. Es wird das Bild des unverstandenen Künstlers entworfen, dessen Kunst den Menschen erst einmal nichts gilt, weil sie seine Vision nicht verstehen. Erst die Erkenntnis, dass diese Musik selbst die Götter erfreut, lässt bei den Menschen das Verständnis für die Kunst des Flötenspielers wachsen und jener kann ihnen endlich das sagen, was sie (von ihm? von der Welt? vom dunklen Leben und Tod? ) verstehen sollen. Ist es Mahler nicht ebenso ergangen? Selbst die dem Lied innewohnende fundamentale Botschaft, die Kluge im Beiheft zu Ormandys Einspielung knapp als „Tod und Leben als Grundelemente menschlicher Existenz“ umreißt, wurde nicht von allen gehört (s.u.). Warum der Komponist diesen Titel jedoch am Ende nicht wählte, muss dahin gestellt bleiben. Vielleicht befürchtete er, dass er, wenn der Bezug zu Bethges Gedicht hergestellt würde, mit Anfeindungen zu rechnen habe. Schließlich kann man ihn auch als (An)Klage lesen.

    Nun jedoch noch ganz kurz zu den Facts:

    Das Lied von der Erde entstand zwischen 1908 und 1909 als Reaktion auf das Krisensommer 1907. Am 12. Juli war seine Tochter einer Scharlach-Diphterie erlegen, kurz darauf (17. Juli) wurde bei Mahler der schwere doppelseitige Herzklappenfehler diagnositziert, der sein Leben fundamental veränderte. Am 05. Oktober wurde er vom Amt des Wiener Hofoperndiektors demissioniert. Mahler zieht sich nach Toblach zurück, von wo er am 18. Juli 1908 an Bruno Walter schreibt:

    "[...] Daß ich sterben muß, habe ich schon vorher auch gewußt. – Aber ohne daß ich Ihnen hier etwas zu erklären oder zu schildern versuche, wofür es vielleicht überhaupt keine Worte gibt, will ich Ihnen nur sagen, daß ich einfach mit einem Schlage alles an Klarheit und Beruhigung verloren habe, was ich mir je errungen; und daß ich vis-à-vis de rien stand und nun am Ende eines Lebens als Anfänger wieder gehen und stehen lernen muß. [...] Und was meine ‚Arbeit’ betrifft, so ist es eben etwas Deprimierendes, da erst wieder umlernen zu müssen. Am Schreibtisch kann ich nicht arbeiten.“

    Ende August / Anfang September 1908 schreibt er (nun über die neue Komposition, die später Das Lied von der Erde heißen wird) erneut an Walter:

    „Ich war sehr fleißig (woraus Sie ersehen, daß ich mich so ziemlich ‚akklimatisiert’ habe). Ich weiß es selbst nicht zu sagen, wie das Ganze benamst werden könnte. Mir war eine schöne Zeit beschieden und ich glaube, daß es wohl das Persönlichste ist, was ich bis jetzt gemacht habe.“
    (beide zit. n. Müller, Karl-Josef: Mahler. Leben, Werke, Dokumente. Mainz 1988)

    Doch wird er dies perönlichste Werk nie hören. Mahler stirbt am 18. Mai 1911 in Wien, am 20. November des Jahres findet die Uraufführung des Liedes in München unter der Leitung von Bruno Walter statt. Die Presse reagiert unterschiedlich:

    Rudolf Louis in den Münchner Neuesten Nachrichten: „Auch bei diesem Werk habe ich den Eindruck eines sehr hochstrebenden künstlerischen Wollens, dem aber das eigentliche schöpferische Vermögen fehlt.“

    Eugen Schmitz in der Allgemeinen musikalischen Zeitung: „Alles in allem darf man ‚Das Lied von der Erde’ jedenfalls zum besten rechnen, was Mahler je geschaffen hat: [es] steht künstlerische ebenso hoch über der zuletzt bekannt gewordenen Achten Sinfonie, als es an Verschwendung der Mittel hinter ihr zurückbleibt.“
    (beide zit. n. Ulm, 261.)

    Doch das schlichteste und für mich zugleich treffendste und schönste Urteil traf Anton von Webern in einem Brief an Alban Berg:

    „Ich spiele noch oft das ‚Lied von der Erde’. Es ist unglaublich schön. Es ist nicht zu sagen.“

    Nach dieses einführenden Worten noch ein paar zu der Legion an Einspielungen. In meinem Schrank stehen – wie gesagt – um die zwanzig Aufnahmen, und ich fürchte, dass es über die Zeit auch noch mehr werden. Keine dieser Aufnahmen finde ich durch und durch misslungen, viele gelingen in Teilen, wenige finde ich in ihrer Gänze gelungen. Zwei davon möchte ich nennen, und zwar zum einen Bernsteins Aufnahme aus dem Jahre 1972 mit Christa Ludwig, René Kollo und dem Israel Philharmonic Orchestra, zum anderen aber auch Horensteins Live-Aufnahme mir Alfreda Hodgson, John Mitchinson und dem BBC Northern Symphony Orchestra, ebenfalls aus dem Jahre 1972. Scheint ein gutes Jahr gewesen zu sein.

    Nach möchte ich Euch einladen, eigene Gedanken und Thesen zu Mahlers Lied von der Erde einzubringen und favorisierte (und vielleicht auch weniger favorisierte) Einspielungen vorzustellen.

    Ich hoffe auf ein interessante Diskussion.

    Agravain

  • Danke, Agravain...

    ... für die Eröffnung dieses Threads, der hoffentlich fruchtbar sein wird wie die "liebe Erde" selbst ;-)... vorab nur ne schnelle Reaktion zum Sekundären:


    Nach dieses einführenden Worten noch ein paar zu der Legion an Einspielungen. In meinem Schrank stehen – wie gesagt – um die zwanzig Aufnahmen, und ich fürchte, dass es über die Zeit auch noch mehr werden. Keine dieser Aufnahmen finde ich durch und durch misslungen, viele gelingen in Teilen, wenige finde ich in ihrer Gänze gelungen. Zwei davon möchte ich nennen, und zwar zum einen Bernsteins Aufnahme aus dem Jahre 1972 mit Christa Ludwig, René Kollo und dem Israel Philharmonic Orchestra, zum anderen aber auch Horensteins Live-Aufnahme mir Alfreda Hodgson, John Mitchinson und dem BBC Northern Symphony Orchestra, ebenfalls aus dem Jahre 1972. Scheint ein gutes Jahr gewesen zu sein.


    Die Bernstein-Aufnahme ist auch für mich Referenz, so durchseelt ist das Werk selten gespielt und gesungen worden. (Wieviel besser ist die Ludwig hier als 10 Jahre zuvor unter Klemperer!! Sie hat ja auch selbst gesagt sie hat das Werk erst durch Bernstein verstanden.) Die unter Horenstein kenne ich nicht, werde mal versuchen die zu erlangen. Ich selber favorisiere außerdem eine Einspielung unter Colin Davis mit Jessye Norman; mag sein dass ich ihr deshalb so verpflichtet bin weil meine erste (Live-) Begegnung mit dem Werk ca. 1991 in der Berliner Philharmonie mit ebendieser Sängerin stattfand... ein überfülltes Konzert (saß auf einer Treppe) das nach dem (Nicht-)Ende des letzten Gesangs in gefühlte zwei Minuten SCHWEIGEN des gesamten Saals überging, bevor der Applaus aufbrandete...

    Zum Werk selber möchte und werde ich mehr sagen, brauche dazu allerdings mehr Ruhe als jetzt grade vorhanden. Nur so viel: Du scheinst das Stück sehr 'psychologisch' zu nehmen, als eine Art Begegnung mit einem konkreten Menschen (Mahler). Ich finde so eine Herangehensweise immer problematisch und schwer nachvollziehbar; für mich mündet das oft in einen Biographismus der sich sofort wieder vom Werk entfernt (und es eben auf den Ausdruck einer bestimmten Psyche reduziert). Mag sein Du meinst das gar nicht so, aber es klingt doch sehr danach, was Du schreibst. Für mich hingegen liegt das Gelingen so eines Werks genau in dem Transzendieren der jeweiligen biographischen Konstellation, der es entsprang, begründet. Aber wie gesagt, to be continued.

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    Musica est exercitium metaphysices occultum nescientis se philosophari animi

  • Ich selber favorisiere außerdem eine Einspielung unter Colin Davis mit Jessye Norman

    Auch ich bin in Eile (gleich kommt Besuch und ich muss noch ein bisschen in die Küche...), darum nur schnell Folgendes: die Davis-Aufnahme finde ich besonders im Abschied großartig. Davis ist das streckenweise sehr langsam, so langsam, dass sich die Auflösung auch in der Musik ganz plastisch darstellt. Dazu später mehr. Vickers finde ich nicht zu ertragen. Dazu auch mehr

    für mich mündet das oft in einen Biographismus der sich sofort wieder vom Werk entfernt (und es eben auf den Ausdruck einer bestimmten Psyche reduziert). Mag sein Du meinst das gar nicht so, aber es klingt doch sehr danach, was Du schreibst. Für mich hingegen liegt das Gelingen so eines Werks genau in dem Transzendieren der jeweiligen biographischen Konstellation, der es entsprang, begründet. Aber wie gesagt, to be continued.

    Biographismus a là "Hier hört man, dass Mahler einen Schluck aus dem goldnen Becher getan hat. Es war im Übrigen Silvaner" ist natürlich nicht mein Ding. Ich meine allerdings schon, dass man hier der psychischen Befindlichkeit Mahlers recht nahe ist, eine Befindlichkeit, die ihn aber über sich selbst hinausgeführt hat und den Hörer darum auch darüber hinaus mitnehmen kann. Tatsächlich meint Schulz am Ende, dass es schließlich wohl so ist: "Nicht Mahler spricht, die Musik spricht durch ihn." Damit kann ich überein gehen. Aber auch hier: später mehr!

    :wink:

  • Zitat

    „Wirklich scheint uns hier Mahler als Mensch gleichsam schutzlos gegenüberzutreten. Ausdruck ist ohne ästhetische Brechung direkt in Musik gesetzt, keine sanktionierte Satz- oder Formtechnik schiebt sich behütend oder einbindend vor das Ich, das in seinen letzten Jahren immer mehr Züge einer visionären Gespaltenheit annahm.“ (Schulz 251)

    Mag man eine solche Deutung als esoterisch begreifen, man mag einwenden, dass das Werk selbstverständlich nicht ohne ästhetische Brechung auskommt (die das Werk durchziehende Chinoserie wäre zu nennen), man mag sagen, dass in Mahlers „Symphonie für eine Tenor- und eine Alt- (oder Bariton-) Stimme und Orchester durchaus eine symphonische Struktur auszumachen ist, die sich an frühere Symphonien anschließt, doch ändert das – für mich – nichts an dem Zentralen, nämlich an der mich ansprechenden krassen Menschlichkeit des Werkes und an dem von Schulz angesprochenen visionären Zug.

    ich denke mal, es gibt verschiedene Zugangsweisen zu dieser Sinfonie "Lied von der Erde", die vom Rang her - wie das gesamte Spätwerk Mahlers - seinesgleichen sucht. Interessant ist mir z.B. diese Textänderung von Mahler:

    Bethge
    Und die schönste von den Jungfraun sendet
    Lange Blicke ihm der Sorge nach.

    Mahler:
    Und die schönste von den Jungfraun sendet
    Lange Blicke ihm der Sehnsucht nach.

    Drückt diese Textänderung einen Grundzug des Lieds von Erde aus: sehnsuchtsbehafteter Rückblick, Eingedenken in die Vergangenheit, angesichts der Endlichkeit nicht bloß der eigenen Existenz, sondern die der "Erde", ohne Reservat von Metaphysik ? Diese grundlegende Erfahrung - ästhetisch artikuliert - überstiege eine rein biographische bzw. subjektive Konstellation.

    dieses biographische Detail sagt zwar nichts unmittelbar über den Wahrheitsgehalt bzw. Substanz des Lieds von der Erde aus, aber erklärt aber durchaus den Ansporn Mahlers für diese Komposition.

    Ich habe zahlreiche Mitschnitte (+ einige CDs) vom Lied von der Erde mir reingezogen. Zu meinen Favoriten zähle ich auch beide Bernstein-Aufnahmen, sowie Carlos Kleiber und eine ganze Reihe von Radiomitschnitten und auch die Kammerfassung von Schönberg/Riehn.

    Bewegend ist immer wieder, wie die Wiener Philharmoniker unter Lenny (früheren Aufnahme) den instrumentalen Zwischenabschnitt vom "Abschied" gestaltet haben...

    Sehr gut und Dankeschön, das zu einem der ganz großen Kompositionen dieser Thread eröffnet wurde !!!

    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Schnell mit dem Kochlöffel in der Hand geantwortet:

    Ich denke mal, es gibt verschiedene Zugangsweisen zu dieser Sinfonie "Lied von der Erde", die vom Rang her - wie das gesamte Spätwerk Mahlers - seinesgleichen sucht.


    Aber natürlich. Ich bin gerade gespannt darauf, etwas über die Zugänge andrer zu lesen! :D

    Interessant ist mir z.B. diese Textänderung von Mahler:


    Überhaupt sind diese Veränderungen nicht nur a) einschneidend, sondern b) extrem sinnstiftend. Einen guten Überblick über die Textveränderungen gibt es HIER. Es wäre schön, wenn wir darüber im Detail sprechen könnten.

    :wink:

  • Zitat

    Es wäre schön, wenn wir darüber im Detail sprechen könnten.

    ja natürlich die Details, nach meiner Erfahrung ist das Lied von der Erde ist übervoll von diesen Details, die alle (!) ungeheuerlich wichtig sind. Und das Schwierige über das "Lied von der Erde" zu sprechen ist mir immer , das ich das Gefühl nicht los werde, dass meine Worte an diesem unvergleichlichen Meisterwerk nur abgleiten. Ich will mich aber bemühen und werde irgendwann in diesem Thread versuchen auf Details zumindestens zu verweisen..

    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Interessant ist mir z.B. diese Textänderung von Mahler:

    Bethge
    Und die schönste von den Jungfraun sendet
    Lange Blicke ihm der Sorge nach.

    Mahler:
    Und die schönste von den Jungfraun sendet
    Lange Blicke ihm der Sehnsucht nach.

    Drückt diese Textänderung einen Grundzug des Lieds von Erde aus: sehnsuchtsbehafteter Rückblick, Eingedenken in die Vergangenheit, angesichts der Endlichkeit nicht bloß der eigenen Existenz, sondern die der "Erde", ohne Reservat von Metaphysik ? Diese grundlegende Erfahrung - ästhetisch artikuliert - überstiege eine rein biographische bzw. subjektive Konstellation.


    Aber, mal ganz ketzerisch dazwischengefunkt, meine Herr'n: "Eingedenken in die Vergangenheit" etc. pp.??? Dass Mahler dem Gedicht von Bethge den neuen Titel "Von der Schönheit" gegeben hat [hat er doch? bin ich mir grad nicht 100%ig sicher...], und die von Dir, Amfortas, herausgegriffene Textänderung zeigen doch zunächst mal v. a. eines: eine stärkere Erotisierung des Gedichts. Und die Vertonung entsprechend: man denke nur an das vorangehende Hereinbrechen der "Knaben"-Welt in die des Mädchens; die Restitution des Anfangs-Bildes ist eine unvollkommene bzw. qualitativ veränderte; der Gegenstand der "Sehnsucht" ist hier handgreiflich und manifest.

    Dazu brauche ich im übrigen zunächst mal nix über Mahler, die Person, zu wissen. Die Konstellation der "irdischen Dinge" in den mittleren Abschnitten des LvdE ist auch so programmatisch und deutlich genug. Wären diese mittleren Abschnitte (v. a. Jugend & Schönheit) weniger konkret & 'das, was sie sind', so hätte die ,metaphyklose Metaphysik' der Rahmenteile kein Substrat, auf das sie sich bezöge.

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  • Liebe Capricciosi!

    Ich wiederum bin ein Anhänger der Aufnahme von Kathleen Ferrier, Julius Patzak und Bruno Walter (die Naxos-Edition ist noch um eine zweite CD mit den Kindertotenliedern bereichert und daher wohl die attraktivere Variante):

     

    Kathleen Ferriers Gesang zu loben, hieße wohl Eulen nach Athen tragen; mit Julius Patzak hat sie einen Tenor zur Seite, der gesanglich noch ganz dem "alten Stil" verhaftet ist und noch eine Aussprache hat, die einfach zum Niederknien ist. (Nostalgie - ein Deutsch mit diesem Klang gibt es heutzutage nicht mehr!) Die Wiener Philharmoniker unter Bruno Walter sind auch ganz großartig, leiden allerdings am meisten unter der 1952er-Tontechnik. Wen ein zartrauschendes Mono nicht stört, der wird wie ich von dieser Aufnahme hingerissen sein!

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Was den männlichen Part dieses Werkes angeht finde ich Fritz Wunderlich einfach umwerfend gut in der Klemperer- Aufnahme.


    ohne Frage, das ist umwerfend gut gesungen, die Leichtigkeit mit der dieser sauschwere Part bewältigt wird ist schon grandios, die aufnahme wird es wohl zu Recht noch geben, wenn wir alle längst unter der Erde sind. Ich finde aber Christa Ludwig auch sehr schön in der aufnahme ohne jetzt den Verglich mit ihrer Bernsteinaufnahme zu haben, die ja anscheinend soviel besser sein soll. Und aufnahmetechnisch ist die aufnahme immer noch fantastisch, wenngleich ich bezweifle, dass Wunderlich live vom Lautstärkeverhältnis auch nur annähernd so präsent rüber gekommen wäre. Da stellt sich bei mir übrigens die Frage, warum das Stück nicht auch live mit dezenter Mikrofonverstärkung der Sänger aufgeführt wird. Ich habe live den Tenor oft genug kaum gehört. ,aber Mikrofonverstärkung scheint so eins der letzten Tabus der Klassik zu sein (offenbar wirds an der Met trotzdem gemacht ohne das es jemand merkt)


    Kathleen Ferriers Gesang zu loben, hieße wohl Eulen nach Athen tragen; mit Julius Patzak hat sie einen Tenor zur Seite, der gesanglich noch ganz dem "alten Stil" verhaftet ist und noch eine Aussprache hat, die einfach zum Niederknien ist. (Nostalgie - ein Deutsch mit diesem Klang gibt es heutzutage nicht mehr!)


    Ich weiss das ich mich jetzt gerade auf gefährliches Terrain begebe, aber ich kann den Hype um Ferrier nicht ganz nachvollziehen, vielleicht wenn ich sie mal live hätte hören können. ich finde das Vibrato wirklich nicht schön und für meinen Geschmack gibt es viel zu wenig Textinterpretation, aber das ist dann wohl auch "der alte Stil".

    Mein derzeitiger Favorit ist diese hier:

    Was Boulez da im Orchester ausleuchtet ist schier kaum zu glauben, auch der streicherklang ist so wienerisch, dass man wirklich ganz neue Aspekte des Stückes hört. Und es ist alles andere als kühl, was man Boulez ja gelegentlich nachsagt. Urmana und schade machen sich auch sehr gut und fügen sich eben ins Ensemble nahtlos ein.

    Gruss

    syrinx

    Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen, Wenn es nicht aus der Seele dringt Und mit urkräftigem Behagen Die Herzen aller Hörer zwingt.
    Goethe, Faust 1

  • Zitat

    Aber, mal ganz ketzerisch dazwischengefunkt, meine Herr'n: "Eingedenken in die Vergangenheit" etc. pp.??? Dass Mahler dem Gedicht von Bethge den neuen Titel "Von der Schönheit" gegeben hat [hat er doch? bin ich mir grad nicht 100%ig sicher...], und die von Dir, Amfortas, herausgegriffene Textänderung zeigen doch zunächst mal v. a. eines: eine stärkere Erotisierung des Gedichts. Und die Vertonung entsprechend: man denke nur an das vorangehende Hereinbrechen der "Knaben"-Welt in die des Mädchens; die Restitution des Anfangs-Bildes ist eine unvollkommene bzw. qualitativ veränderte; der Gegenstand der "Sehnsucht" ist hier handgreiflich und manifest.

    So ist es, und die Erotisierung, diese musikalisch hereinbrechende Unmittelbarkeit verstärkt doch - durch den Kontrast - die Wirkung der nachfolgenden Reprise auf den Hörer. In der Reprise des Liedes "Von der Schönheit" wird die hereinbrechende Knabenwelt musikalisch gebrochen. Was bleibt, ist nur noch die Erinnerung, das Eingedenken an diesem Augenblick des Lotossammelns + der Knaben, und die Verflüchtigung der Erinnerung wird vor allem das Nachspiel der Klarinetten am Ende ja noch verstärkt. Ich sehe insofern keinen Widerspruch zu deinem Dazwischengefunkt, sondern vielmehr eine Verdeutlichung dieser Zusammenhänge durch deine Hinweise...

    Zitat

    Dazu brauche ich im übrigen zunächst mal nix über Mahler, die Person, zu wissen.

    Ja , .. ist aber für mich dennoch interessant..

    Zitat

    Die Konstellation der "irdischen Dinge" in den mittleren Abschnitten des LvdE ist auch so programmatisch und deutlich genug. Wären diese mittleren Abschnitte (v. a. Jugend & Schönheit) weniger konkret & 'das, was sie sind', so hätte die ,metaphyklose Metaphysik' der Rahmenteile kein Substrat, auf das sie sich bezöge.

    Schwieriges Problem, ich hoffe mal, dass ich dich jetzt nicht missverstehe: ich denke, das was du als metaphyklose Metaphysik' beschreibst, ist ja deren Unmöglichkeit; sie schrumpft sich im "Lied von der Erde" zusammen, auf den Blick zurück in die Vergangenheit, auf Reminiszenz..

    Zitat

    Bin gerade aktiv Parsifal-geschädigt

    :troest: :troest: :troest: :troest: :troest: :troest:

    Fritz Wunderlich gefällt mir im LvE in einer Keilberth-Aufnahme; ein Mono-Live-Bootleg mit Dieskau, aus den frühen Sechzigern. Und das Orchester unter Keilberth finde ich sehr gut, wie überhaupt diese Aufnahme auch zu meinen vielen LvE-Favoriten zählt (LvE-Klempi habe ich mir noch nicht reingezogen)..

    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Nahmen wir doch die ganze Strophe:

    Goldne
    Sonne webt um die Gestalten,
    Spiegelt sie im blanken Wasser wider.

    Und die schönste von den Jungfraun sendet
    Lange Blicke ihm der Sehnsucht nach.
    Ihre stolze Haltung ist nur Verstellung.
    In dem Funkeln ihrer großen Augen,
    In dem Dunkel ihres heißen Blicks
    Schwingt klagend noch die Erregung ihres Herzens nach.

    Rote Textabschnitte sind Mahler, der Rest ist Bethge. Ich denke auch: ja, es kommt zu einer Erotisierung, aber gleichzeitig wird deutlich, dass es sich bei den hier dargestellten Szenen/Bildern - wie im Lied davor - durchweg um Spiegelungen handelt. Das heißt doch, dass das ganze Geschehen nicht wahr ist, sondern eben eine Chimäre. Schon die ersten Zeilen weisen auf diese Spiegelung hin:

    Junge Mädchen,
    pflücken Blumen
    Pflücken Lotosblumen an dem Uferrande.
    Zwischen Büschen und Blättern
    sitzen sie, .....
    Sammeln Blüten in den Schoß und rufen
    Sich einander Neckereien zu.

    Goldne Sonne webt um die Gestalten,
    Spiegelt sie im blanken Wasser wider.
    Sonne spiegelt ihre schlanken Glieder,


    Ich denke, es ließe sich die Behauptung halten, dass Mahler im Angesicht der am Ende wartenden fundamentalen Abschiedserfahrung, auf den das Lied ja unweigerlich zusteuert, Erotik, Schönheit und Jugend als höchst zerbrechlich, irreal und eben vergänglich charakterisiert.
    Zerbrechlich, weil jede noch so kleine Bewegung die Oberfläche des Wasserspiegels verzerren und auflösen kann, irreal, weil Erotik, Schönheit und Jugend nur Momentaufnahmen im Leben eines Menschen sind, die die Realität des Endes zwar überlagern, aber nicht außer Kraft setzen können.

    :wink:

  • Ich weiss das ich mich jetzt gerade auf gefährliches Terrain begebe, aber ich kann den Hype um Ferrier nicht ganz nachvollziehen, vielleicht wenn ich sie mal live hätte hören können. ich finde das Vibrato wirklich nicht schön und für meinen Geschmack gibt es viel zu wenig Textinterpretation, aber das ist dann wohl auch "der alte Stil".

    Mein derzeitiger Favorit ist diese hier:

    Was Boulez da im Orchester ausleuchtet ist schier kaum zu glauben, auch der streicherklang ist so wienerisch, dass man wirklich ganz neue Aspekte des Stückes hört. Und es ist alles andere als kühl, was man Boulez ja gelegentlich nachsagt. Urmana und schade machen sich auch sehr gut und fügen sich eben ins Ensemble nahtlos ein.

    Gruss

    syrinx

    Ich finde es immer wieder faszinierend, wie unterschiedlich Höreindrücke sein können. Zwar gehe ich mit den Zweifeln an Kathleen Ferrier aus ähnlichen Gründen überein - sie entspricht schlicht nicht meinem Sängerideal -, aber die Boulez-Aufnahme würde ich eher zu den weniger gelungenen zählen. Sicher, das Orchester ist gut, aber Boulez' Tempi, speziell im "Abschied", liegen mir nicht, besonders wenig im "Trauermarsch", dessen Seufzermotivik hier kaum als solche verstanden/umgesetzt wird. Bei Boulez plätschert das so dahin, jegliches Gewicht ist genommen, jegliches Drama, jegliche Erschütterung im Angesicht der conditio humana weggekürzt. Man kann natürlich das Lob der Entschlackung singen, mir liegt so ein Ansatz aber (hier) nicht. Da höre ich persönlich lieber Horenstenis Zerknirschung. :D
    Wenn es einen Glanzpunkt gibt (immer meine Perspektive), dann ist es "Von der Jugend", dem die Boulez'sche Leichtigkeit bestens bekommt. Filigraner habe ich das bisher nicht gehört. Auch Michael Schades Stimme, die an sich ja recht leicht und schlank ist, passt hier gut. Für die beiden anderen Lieder, besonders für das "Trinklied" ist er mir zu dünn.
    :wink: Agravain

  • dass Mahler im Angesicht der am Ende wartenden fundamentalen Abschiedserfahrung, auf den das Lied ja unweigerlich zusteuert, Erotik, Schönheit und Jugend als höchst zerbrechlich, irreal und eben vergänglich charakterisiert.
    Zerbrechlich, weil jede noch so kleine Bewegung die Oberfläche des Wasserspiegels verzerren und auflösen kann, irreal, weil Erotik, Schönheit und Jugend nur Momentaufnahmen im Leben eines Menschen sind, die die Realität des Endes zwar überlagern, aber nicht außer Kraft setzen können.


    D'accord. Gilt natürlich mindestens genauso für "Von der Jugend" mit dem expliziten Spiegelmotiv (das musikalisch leider kein rechtes Pendant hat außer eben Moll), und "Trunkener" und "Einsamer" thematisieren Vergänglichkeit und Irrealität ja sowieso. Trotzdem ist unterscheiden sich die Mittel- von den Rahmenstücken m. E. durch ein leichteres Gewicht und eine größere 'Unmittelbarkeit'/Immanenz. Sie haben musikalisch in meinen Ohren zwar teilweise etwas Ironisches oder Zitathaftes (v. a. letzteres, sicher trägt der Exotismus hier auch dazu bei aber vielleicht gibt es noch anderes das 'fernrückt', müsste man mal analysieren), aber doch größtenteils in einem harmlosen Sinne (grade Schönheit & Jugend) wie das eben die Imitation chinesischer Tuschzeichnungen hätte - ferngerückte, aber doch reale Bilder.


    Zu Ferrier: mag das Vibrato auch nicht & finde sie auf die Länge gesehen schwer erträglich, kann mir allerdings vorstellen dass das live vielleicht anders gewirkt hätte und einfach nur als Intensität (was es subjektiv auch sicher ist) rüber gekommen wäre. Zu Wunderlichs Schöngesang: Ja, sehr schön! Keine Frage. Aber irgendwie habe ich [Achtung, Agravain!] mehr übrig für das bellende, polternde, überhaupt nicht klangschöne Lärmen des alten John Vickers, der den Suff und die Verzweiflung ohne Sentimentalität rüberbringt. Bei 'schön' singenden Tenoren wird das schnell 'jammerig', finde ich. (Passt natürlich besser bei "Von der Jugend", wie ich Syrinx [in Unkenntnis der von ihm erwähnten Aufnahme] sofort glaube.)

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  • Aber irgendwie habe ich [Achtung, Agravain!] mehr übrig für das bellende, polternde, überhaupt nicht klangschöne Lärmen des alten John Vickers, der den Suff und die Verzweiflung ohne Sentimentalität rüberbringt. Bei 'schön' singenden Tenoren wird das schnell 'jammerig', finde ich.

    Ach, so schlimm finde ich nicht, dass Du ihn ganz gern hörst. :D Deine Gründe kann ich im Übrigen auch gut nachvollziehen, sind es doch die gleichen sind, die ich immer wieder anführe, wenn ich zB von der Idealbesetzung für Don Giovanni spreche. Da bevorzuge ich nämlich auch eher eine schon etwas abgehalfterten "alten Sack", wie zB Gabriel Bacquier in der fantastischen Bonynge-Einspielung, als einen geschmeidigen, wie beispielsweise Hampson unter Harnoncourt. Auch bin ich, wenn es um die besetzung von Lady Macbeth in Verdis Macbeth geht, ganz d'accord mit dem Komponisten, der sich eine Sängerin mit Mut zur klanglichen Hässlichkeit vorstellte. Und auch beim Lied kann ich diese Einstellung gut nachvollziehen, was mir aber einfach die Nägel hochklappt, ist Vickers fulminantes Scheitern bei der deutschen Artikulation. Da bin ich schlicht penibel. Wenn ein Sänger permanent Ääääärdääää singt, so ist bei mir das Maß an Leidensfähigkeit schnell voll. Das ist so, als wenn deutsche Sänger englischen Händel singen, ohne auch nur daran zu denken, dass "th" ungleich "s" ist. Hat bei mir den gleichen Effekt, nämlich: [Blockierte Grafik: http://www.smilies.4-user.de/include/Wut/smilie_wut_082.gif] Das muss halt nicht sein und gerade die Aufnahme Vickers/Norman/Davis zeigt das, denn Jessye Normans Deutsch ist ganz wunderbar.

  • Was die Änderungen der Bethge-Texte durch Mahler angeht: vielfach scheint mir die Absicht deutlich, Zusammenhänge zwischen den einzelnen Liedern herzustellen. Agravain hat ja schon auf das Spiegel-Motiv in 3+4 hingewiesen. Noch deutlicher wird es beim "Lenz": dieses Wort hat Mahler sowohl in das erste wie in das letzte Lied an zentraler Stelle eingefügt. Der Passus Das Firmament blaut ewig und die Erde wird lange fest stehen und aufblühn im Lenz wird nicht nur auf der Textebene, sondern auch musikalisch zu einer Präfiguration der letzten Strophe des Abschieds: Die liebe Erde allüberall blüht auf im Lenz [...] Allüberall und ewig blauen licht die Fernen! Ewig... ewig.... Sowohl das ewig wie auch das ungewöhnliche Verb blauen sind dem ersten Lied entnommen worden. Neben dem Insistieren auf dem "Lenz" hat Mahler auch die schon ohnehin häufig vorkommenden Naturbilder vermehrt, signifikant im Trinklied, wo die Gemächer meiner Seele zu Gärten der Seele werden.

    Das lenkt den Blick natürlich auch auf die musikalischen Zusammenhänge: Das Lied von der Erde ist eben kein Liederzyklus, sondern eine Sinfonie, als die das Werk im Untertitel ja auch explizit bezeichnet wird (die Version, dass Mahler nur aus Aberglauben vor der schicksalhaften Neunzahl das LvdE nicht in die durchnumerierte Reihenfolge seiner Sinfonien aufgenommen hat, ist wohl ausnahmsweise kein Alma-Schmock, sondern durch mehrere Zeugen belegt). Vgl. den Gebrauch der Sonatensatzform in den Rahmensätzen: im Trinklied als Synthese mit der Strophenform, im Abschied extrem gedehnt und fast zerfallend, aber mit drei Themenkomplexen trotzdem deutlich erkennbar. Die vier Binnensätze lassen sich als zwei Scherzi (3+5) und zwei langsame Sätze (2+4, letzterer mit scherzoartigem Mittelteil) interpretieren.


    Ich finde Christa Ludwig bei Karajan mitnichten besser als bei Klemperer. Ihre Stimme hat fast zehn Jahre später merklich Fett angesetzt und vibriert stärker; die in Klemperer-Aufnahme grandios als ein großer Bogen gesungene Passage Wie eine Silberbarke schwebt der Mond am blauen Himmelssee herauf gelingt bei Karajan längst nicht mehr so gut. Ich finde Wunderlich toll, und Klemperers Dirigat der Ecksätze ohnehin. Die Einspielung hat für mich nur zwei Schwächen, für die beide Klemperer verantwortlich ist: Von der Jugend ist bleiern verschleppt und entbehrt jeglichen Charmes. Und auch im Mittelteil des Liedes Von der Schönheit kommt Old Klemp nicht aus den Puschen - das sind ziemlich lahme Gäule, die da durchs Bild traben.


    Viele Grüße

    Bernd

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  • Was die Änderungen der Bethge-Texte durch Mahler angeht: vielfach scheint mir die Absicht deutlich, Zusammenhänge zwischen den einzelnen Liedern herzustellen. Agravain hat ja schon auf das Spiegel-Motiv in 3+4 hingewiesen. Noch deutlicher wird es beim "Lenz": dieses Wort hat Mahler sowohl in das erste wie in das letzte Lied an zentraler Stelle eingefügt. Der Passus Das Firmament blaut ewig und die Erde wird lange fest stehen und aufblühn im Lenz wird nicht nur auf der Textebene, sondern auch musikalisch zu einer Präfiguration der letzten Strophe des Abschieds: Die liebe Erde allüberall blüht auf im Lenz [...] Allüberall und ewig blauen licht die Fernen! Ewig... ewig.... Sowohl das ewig wie das ungewöhnliche Verb blauen hat Mahler aus dem ersten Lied erntnommen.

    Schön, dass du diesen Aspekt ansprichst, der in der leicht zu beschaffenden Sekundärliteratur (Revers, Mosik-Konzepte etc.) kaum erwähnt wird. Schreibt Danuse etwas dazu? Dabei scheint es mir ebenfalls sehr wichtig, dass Mahler sich um einen Rahmen bemüht. Der zyklische Charakter der Naturerneuerung und die ebenso immer wieder neue individuelle Bewusstwerdung der individuellen Vergänglichkeit werden so unterstrichen. Nachdem das Individuum sich in das Schicksal ergeben hat und vergeht, beginnt quasi ein neues Trinklied der Erde, gesungen von den Nachgeborenen, die wieder um vergehen werden usw. Das ist ganz so wie Britten es sagt: "[...]it goes on for ever, [...]." Das Lied selbst wird so ewig.

    Ich finde Christa Ludwig bei Karajan mitnichten besser als bei Klemperer. Ihre Stimme hat fast zehn Jahre später merklich Fett angesetzt und vibriert stärker; die in Klemperer-Aufnahme grandios als ein großer Bogen gesungene Passage Wie eine Silberbarke schwebt der Mond am blauen Himmelssee herauf gelingt bei Karajan längst nicht mehr so gut.

    Ich glaube, es wurde nicht von der Karajan-Aufnahme (1973/74), sondern von der Bernstein-Aufnahme aus dem Jahre 1972 gesprochen, die IMO von der Ludwig um ein vielfaches durchdrungener gesungen wird, als bei Klemperer. Bei Karajan bleibt sie in der Tat hinter beiden vorherigen zurück.

    Die Einspielung hat für mich nur zwei Schwächen, für die beide Klemperer verantwortlich ist: Von der Jugend ist bleiern verschleppt und entbehrt jeglichen Charmes. Und auch im Mittelteil des Liedes Von der Schönheit kommt Old Klemp nicht aus den Puschen - das sind ziemlich lahme Gäule, die da durchs Bild traben.

    Absolut. Die Klemperer-Aufnahme, die im Übrigen nicht in einem Rutsch entstand, hat mich in dieser Hinsicht enttäuscht. Sie gehört für mich zu den nur in Teilen gelungenen Einspielungen.

    :wink:

  • Schön, dass du diesen Aspekt ansprichst, der in der leicht zu beschaffenden Sekundärliteratur (Revers, Musik-Konzepte etc.) kaum erwähnt wird. Schreibt Danuse etwas dazu?

    Weiß ich nicht - ich hab zwar irgendwann mal in den Danuser reingelesen, kann mich aber nicht so recht erinnern. Das gleiche gilt für Floros.


    Ich glaube, es wurde nicht von der Karajan-Aufnahme (1973/74), sondern von der Bernstein-Aufnahme aus dem Jahre 1972 gesprochen

    :hide: In der Tat :schaem:. Diese Bernstein-Aufnahme kenne ich leider nicht.


    Die Klemperer-Aufnahme, die im Übrigen nicht in einem Rutsch entstand, hat mich in dieser Hinsicht enttäuscht. Sie gehört für mich zu den nur in Teilen gelungenen Einspielungen.

    Aber schon in den entscheidenden Teilen gelungen. Immer noch mein Lieblings-Trinklied und vor allem mein Lieblings-Abschied (diese Oboe! Ich weiß, andere schätzen den penetranten Oboenklang der früheren englischen Orchester nicht so...).


    Viele Grüße

    Bernd

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  • Ich weiß nicht, ob es von Bedeutung ist, daß Mahler sein "Lied" im wunderschönen Toblach (in seinem Komponierhäuschen) geschaffen hat, wo man sich der Erde in der Tat nahe fühlen kann, und dies auf ca. 1.250 M.M., ohne hier schleichende Pubblicity machen zu wollen. Link: "http://de.wikipedia.org/wiki/Toblach"
    lg robert

  • Ich finde Christa Ludwig bei Karajan mitnichten besser als bei Klemperer. Ihre Stimme hat fast zehn Jahre später merklich Fett angesetzt und vibriert stärker; die in Klemperer-Aufnahme grandios als ein großer Bogen gesungene Passage Wie eine Silberbarke schwebt der Mond am blauen Himmelssee herauf gelingt bei Karajan längst nicht mehr so gut.

    Auch wenn schon geklärt ist, dass wir von der Bernstein-Aufnahme gesprochen haben: die Wahrnehmung der 'fetteren' Stimme gilt natürlich auch für diese. Ich finde sie aber kein Argument pro oder contra Interpretation. Der "Abschied" ist ja kein catwalk. Zu der von Dir herangezogenen Stelle: ich finde, bei Klemperer hat die 'Schlankheit' der Linie den Charakter von Objektivität für sich; das Bild wird evoziert, nix weiter. Dass die Ludwig dann allerdings am Ende der Phrase "...see de-er Nacht" nochmal nachdrückt, als sei dies eine besonders schmerzliche Stelle, zeigt irgendwie pars pro toto ihr Manko an Intelligenz in dieser Aufnahme. Bei Karajan gibt es an der Stelle eine Überkompensation der (ich würde sängerisch sagen:) Angst vor dem Bogen durch Ausdruck, die auch nicht wirklich 100% gelingt; hält man Bernstein daneben, ist es perfekt: warm (viel wärmer als bei Klemperer!!), sehnsuchtsvoll, mehr gesanglich als sängerisch, falls diese Wortspielerei trägt.

    Das Knockout-Kriterium für die Präferenz der späteren Christa Ludwig sind für mich aber, den "Abschied" betreffend, ganz andere Stellen; bei den Kantilenen insbesondere "Ich sehne mich, o Freund, an deiner Seite" usw., und auch das folgende "... auf Wegen die von weichem Grase schwellen" etc.

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    Musica est exercitium metaphysices occultum nescientis se philosophari animi

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