Mahler - Das Lied von der Erde
1937 schreibt Benjamin Britten an seinen Freund Henry Boys: „I cannot understand it – it passes over me like a tidal wave – and that matters not a lot either, because it goes on for ever, even if it is never performed again – that final chord is printed on the atmosphere.”
Ein Jahr zuvor hatte sich Britten die Partitur von Mahlers Das Lied von der Erde beschafft und war seitdem vollkommen dafür eingenommen, wobei ihn besonders das letzte Lied (Der Abschied) faszinierte. (vgl. Cooke, Mervyn (ed.): The Cambridge Companion to Benjamin Britten. Cambride 1999. S. 339)
Tatsächlich geht von Mahlers Lied von der Erde für viele Hörer eine Faszination aus, der man sich kaum entziehen kann. Mir geht es da nicht anders. Über die Zeit haben sich über zwanzig Aufnahmen des Werkes in meinem Regal angehäuft, kaum ein Werk Mahlers höre ich so oft, kaum eines ist mir so wichtig. Wenn ich gezwungen wäre, die Bedeutung, die dieses Werk für mich hat, ganz knapp auf den Punkt zu bringen, so müsste ich wohl sagen, dass für mich das Lied von der Erde die Möglichkeit einer direkten Begegnung mit Mahler ermöglicht, ganz so, wie es Reinhard Schulz in seiner – aus meiner Sicht ansonsten nicht durchweg überzeugenden – Werkeinführung in Renate Ulms Mahler-Buch (Gustav Mahlers Symphonien. Entstehung, Deutung, Wirkung. hg. v. Renate Ulm. München 2001) formuliert:
„Wirklich scheint uns hier Mahler als Mensch gleichsam schutzlos gegenüberzutreten. Ausdruck ist ohne ästhetische Brechung direkt in Musik gesetzt, keine sanktionierte Satz- oder Formtechnik schiebt sich behütend oder einbindend vor das Ich, das in seinen letzten Jahren immer mehr Züge einer visionären Gespaltenheit annahm.“ (Schulz 251)
Mag man eine solche Deutung als esoterisch begreifen, man mag einwenden, dass das Werk selbstverständlich nicht ohne ästhetische Brechung auskommt (die das Werk durchziehende Chinoserie wäre zu nennen), man mag sagen, dass in Mahlers „Symphonie für eine Tenor- und eine Alt- (oder Bariton-) Stimme und Orchester durchaus eine symphonische Struktur auszumachen ist, die sich an frühere Symphonien anschließt, doch ändert das – für mich – nichts an dem Zentralen, nämlich an der mich ansprechenden krassen Menschlichkeit des Werkes und an dem von Schulz angesprochenen visionären Zug.
Dass Mahler im Lied von der Erde die Rolle eines Visionärs einnimt, scheint für mich kaum bestreitbar zu sein, erkennbar nicht nur daran, dass sich am Ende „die Transformation unerfüllter menschlicher Sehnsucht in eine transzendete, durch die Imagnination der ewigen, lichten Ferne symbolhaft aufgeladene Seinserfahrung“ verdichtet (Revers, Peter: „Duft lyrischer Versgebilde“. Musik und Lyrik in Gustav Mahlers Das Lied von der Erde. In: Gustav Mahler: Lieder. Musik-Konzepte 136. Hg. v. Ulrich Tadday. München 2007. S. 111), sondern auch an dem Umstand, dass Mahler urprünglich alternative Titel für seine Komposition in Betracht gezogen hatte, unter anderem Die Flöte aus Jade. Meine Frage war:Wie kam Mahler auf den Titel? Da ich in der mir zur Verfügung stehenden Literatur keinen Anhaltspunkt gefunden fand, legte ich das Problem ad acta, bis ich kürzlich einmal das Bändchen Die Chinesische Flöte von Hans Bethge, der Mahler die Texte für das Lied von der Erde entnommen hatte, komplett gelesen habe. Und da steht doch zwischen Der Pavillon aus Porzellan (bei Mahler Von der Jugend) und Am Ufer (bei Mahler Von der Schönheit) ein Text, der überschrieben ist mit Der Tanz der Götter:
Zu meiner Flöte, die aus Jade ist,
Sang ich den Menschen tief bewegt ein Lied, -
Die Menschen lachten, sie verstandens nicht.
Da hob ich schmerzvoll meine Flöte, die
Aus Jade ist, zum Himmel auf und brachte
Mein Lied den Göttern dar. Die Götter waren
Beglückt und huben auf erglühnden Wolken
Nach meinem Lied zu zanzen an...
Nun singe ich mein Lied den Menschen auch
Zur Freude; nun verstehn sie mich auch,
Spiel ich das Lied auf meiner Flöte, die
Aus Jade ist...
(Li-Tai-Po)
Wenn sich Mahler hier nicht wiederfinden konnte, dann weiß ich auch nicht. Es wird das Bild des unverstandenen Künstlers entworfen, dessen Kunst den Menschen erst einmal nichts gilt, weil sie seine Vision nicht verstehen. Erst die Erkenntnis, dass diese Musik selbst die Götter erfreut, lässt bei den Menschen das Verständnis für die Kunst des Flötenspielers wachsen und jener kann ihnen endlich das sagen, was sie (von ihm? von der Welt? vom dunklen Leben und Tod? ) verstehen sollen. Ist es Mahler nicht ebenso ergangen? Selbst die dem Lied innewohnende fundamentale Botschaft, die Kluge im Beiheft zu Ormandys Einspielung knapp als „Tod und Leben als Grundelemente menschlicher Existenz“ umreißt, wurde nicht von allen gehört (s.u.). Warum der Komponist diesen Titel jedoch am Ende nicht wählte, muss dahin gestellt bleiben. Vielleicht befürchtete er, dass er, wenn der Bezug zu Bethges Gedicht hergestellt würde, mit Anfeindungen zu rechnen habe. Schließlich kann man ihn auch als (An)Klage lesen.
Nun jedoch noch ganz kurz zu den Facts:
Das Lied von der Erde entstand zwischen 1908 und 1909 als Reaktion auf das Krisensommer 1907. Am 12. Juli war seine Tochter einer Scharlach-Diphterie erlegen, kurz darauf (17. Juli) wurde bei Mahler der schwere doppelseitige Herzklappenfehler diagnositziert, der sein Leben fundamental veränderte. Am 05. Oktober wurde er vom Amt des Wiener Hofoperndiektors demissioniert. Mahler zieht sich nach Toblach zurück, von wo er am 18. Juli 1908 an Bruno Walter schreibt:
"[...] Daß ich sterben muß, habe ich schon vorher auch gewußt. – Aber ohne daß ich Ihnen hier etwas zu erklären oder zu schildern versuche, wofür es vielleicht überhaupt keine Worte gibt, will ich Ihnen nur sagen, daß ich einfach mit einem Schlage alles an Klarheit und Beruhigung verloren habe, was ich mir je errungen; und daß ich vis-à-vis de rien stand und nun am Ende eines Lebens als Anfänger wieder gehen und stehen lernen muß. [...] Und was meine ‚Arbeit’ betrifft, so ist es eben etwas Deprimierendes, da erst wieder umlernen zu müssen. Am Schreibtisch kann ich nicht arbeiten.“
Ende August / Anfang September 1908 schreibt er (nun über die neue Komposition, die später Das Lied von der Erde heißen wird) erneut an Walter:
„Ich war sehr fleißig (woraus Sie ersehen, daß ich mich so ziemlich ‚akklimatisiert’ habe). Ich weiß es selbst nicht zu sagen, wie das Ganze benamst werden könnte. Mir war eine schöne Zeit beschieden und ich glaube, daß es wohl das Persönlichste ist, was ich bis jetzt gemacht habe.“
(beide zit. n. Müller, Karl-Josef: Mahler. Leben, Werke, Dokumente. Mainz 1988)
Doch wird er dies perönlichste Werk nie hören. Mahler stirbt am 18. Mai 1911 in Wien, am 20. November des Jahres findet die Uraufführung des Liedes in München unter der Leitung von Bruno Walter statt. Die Presse reagiert unterschiedlich:
Rudolf Louis in den Münchner Neuesten Nachrichten: „Auch bei diesem Werk habe ich den Eindruck eines sehr hochstrebenden künstlerischen Wollens, dem aber das eigentliche schöpferische Vermögen fehlt.“
Eugen Schmitz in der Allgemeinen musikalischen Zeitung: „Alles in allem darf man ‚Das Lied von der Erde’ jedenfalls zum besten rechnen, was Mahler je geschaffen hat: [es] steht künstlerische ebenso hoch über der zuletzt bekannt gewordenen Achten Sinfonie, als es an Verschwendung der Mittel hinter ihr zurückbleibt.“
(beide zit. n. Ulm, 261.)
Doch das schlichteste und für mich zugleich treffendste und schönste Urteil traf Anton von Webern in einem Brief an Alban Berg:
„Ich spiele noch oft das ‚Lied von der Erde’. Es ist unglaublich schön. Es ist nicht zu sagen.“
Nach dieses einführenden Worten noch ein paar zu der Legion an Einspielungen. In meinem Schrank stehen – wie gesagt – um die zwanzig Aufnahmen, und ich fürchte, dass es über die Zeit auch noch mehr werden. Keine dieser Aufnahmen finde ich durch und durch misslungen, viele gelingen in Teilen, wenige finde ich in ihrer Gänze gelungen. Zwei davon möchte ich nennen, und zwar zum einen Bernsteins Aufnahme aus dem Jahre 1972 mit Christa Ludwig, René Kollo und dem Israel Philharmonic Orchestra, zum anderen aber auch Horensteins Live-Aufnahme mir Alfreda Hodgson, John Mitchinson und dem BBC Northern Symphony Orchestra, ebenfalls aus dem Jahre 1972. Scheint ein gutes Jahr gewesen zu sein.
Nach möchte ich Euch einladen, eigene Gedanken und Thesen zu Mahlers Lied von der Erde einzubringen und favorisierte (und vielleicht auch weniger favorisierte) Einspielungen vorzustellen.
Ich hoffe auf ein interessante Diskussion.
Agravain