Wiener Klassik in HIP - Modeerscheinung oder der Weisheit letzter Schluss?

  • Mich würde grundlegend einmal interessieren, warum bei HIP im Falle von Streichinstrumenten ein wichtiges Detail immer weggelassen wird:

    Es handelt sich um die Lagenwechsel.
    Bis in's 20Jhdt. herein war es üblich, jeden Ton anzurutschen.
    Im Falle des Cellos war Casals einer der wichtigsten , der damit aufhörte.

    Nun ist es ja wirklich interessant und wichtig, HIP-informierte Aufführungen hören zu können, aber diese Lagenwechsel werden dabei ausgespart.
    Ich kann auch verstehen, warum: Sie sind für unsere Ohren einfach potthäßlich.

    Das kann jetzt nur Telepathie gewesen sein: Genau das liegt mir schon die ganze Zeit auf der Zunge / in der Tastatur. Z.B. Joseph Joachim rutscht bei den paar Aufnahmen, die wir von ihm haben, hoch und runter, dass es nur so eine Freude ist. Die "historisch Informierten" wissen das natürlich, verschweigen es aber lieber verschämt ;+) .

    Viele Grüße,

    Christian

  • Aber die Sache mit den Lagenwechseln finde ich eigenartig und manche Diskussionen über Non-Vibrato auch, denn jeder kann hören, daß 1905 vibriert wurde.

    Z.B. Joseph Joachim rutscht bei den paar Aufnahmen, die wir von ihm haben, hoch und runter, dass es nur so eine Freude ist.

    Auch wenn so etwas um 1900 üblich gewesen sein mag: Welche Rückschlüsse ergeben sich dadurch auf die Praxis um 1800?

    Ich vermute, daß sich um 1900 schon ganz eigene Traditionen durchgesetzt haben, was z. B. die Aufführung von Beethoven-Symphonien betrifft: wenn ich es richtig weiß eine schnelle, leichte an Mendelssohn Bartholdy und eine schwerblütigere, langsamere an Wagner anknüpfende Tradition. Von Beethoven selbst hatte das sich wohl schon deutlich entfernt, oder? Und wenn Joachim rutschte und vibrierte, bedeutet das ja noch lange nicht, daß man es hundert Jahre zuvor ebenso getrieben hatte.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Zitat von »Michael Schlechtriem«
    Aber die Sache mit den Lagenwechseln finde ich eigenartig und manche Diskussionen über Non-Vibrato auch, denn jeder kann hören, daß 1905 vibriert wurde.

    Zitat von »ChKöhn«
    Z.B. Joseph Joachim rutscht bei den paar Aufnahmen, die wir von ihm haben, hoch und runter, dass es nur so eine Freude ist.

    Auch wenn so etwas um 1900 üblich gewesen sein mag: Welche Rückschlüsse ergeben sich dadurch auf die Praxis um 1800?

    Der Einwand bezog sich nicht auf die Wiener Klassik sondern z.B. auf angeblich "historisch informierte" Aufführungen bei Brahms, deshalb das Beispiel Joachim. Kennst Du eine Brahms-Aufnahme mit den historisch belegten Portamenti? Ich nicht. Jaja, ich weiß, das gehört nicht zum Thread-Thema...

    Ich vermute, daß sich um 1900 schon ganz eigene Traditionen durchgesetzt haben, was z. B. die Aufführung von Beethoven-Symphonien betrifft: wenn ich es richtig weiß eine schnelle, leichte an Mendelssohn Bartholdy und eine schwerblütigere, langsamere an Wagner anknüpfende Tradition. Von Beethoven selbst hatte das sich wohl schon deutlich entfernt, oder?

    Keine Ahnung, ich habe Beethovens Aufführungen nicht gehört. Sicherlich haben aber auch sie sich schon deutlich vom Komponisten Beethoven entfernt. Es liegt in der Natur einer jeden Aufführung notierter Musik, dass sie sich vom "Komponisten selbst" entfernt, das gilt sogar im Spezialfall, wenn der Komponist sein eigener Interpret ist.

    Viele Grüße,

    Christian

  • Keine Ahnung, ich habe Beethovens Aufführungen nicht gehört.

    Ich übrigens auch nicht. ;+) Was ich meinte: Womöglich läßt sich aus diversen Quellen erschließen, ob und wie damals beispielsweise Streichervibrato eingesetzt wurde und ob etwa Norrington heute sich darauf mit Recht beziehen kann? (Auch wenn ja: Das bedeutet m. E. nicht automatisch, daß vibratofreier Beethoven heute besser und richtiger sein muß!)

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Ach so, vielleicht noch ein Hinweis: es gibt eine bei Hänssler erschienene, IMO ganz bemerkenswerte Doppel-CD, auf der der Violinist Matthias Metzger und der Pianist Gerrit Zitterbart Beethovens Sonaten für Violine und Klavier op. 12, 1-3 sowie einige weitere Werke gleich zweimal eingespielt haben - und zwar einmal auf modernen Instrumenten und einmal auf historischen Instrumenten (Zitterbart spielt dabei einmal auf einem Steinway "Modell D" und einmal auf der Kopie [Walker 2001] eines Hammerflügels von Anton Walter [1795]). Das Klangbild der beiden Interpretationen ist naklar schon ziemlich different - die interpretatorische Praxis unterscheidet sich eher marginal. Gespielt wird bei beiden Interpretationen - unabhängig von den verwendeten Instrumenten - historisch informiert. Also: was man lieber mag, wird einfach Geschmacksache sein, mehr nicht ...

    Hier das Bildchen:

    Ähm, falls sich jemand dafür interessiert - die gibt's bei Jokers aktuell für EUR 9,99 ...

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Kennst Du eine Brahms-Aufnahme mit den historisch belegten Portamenti? Ich nicht.

    Gardiner versucht es ganz selten mal. Deutlich im Ohr ist mir das Portamento bei dem b-es-Intervall der ersten und zweiten Violinen in T. 370 des Finales der ersten Brahms-Sinfonie. Das gefällt mir dort sogar recht gut.


    Mahler hat enorm viele Portamenti in die Streicherstimmen reingeschrieben. Meines Erachtens hat er dies getan, weil er NUR an diesen Stellen ein Portamento haben wollte, an allen anderen Stellen nicht. Er kannte seine Orchester und damals wären Ihm Portamenti an ALLEN Stellen um die Ohren geflogen, aber dies wollte er halt nicht.

    Es gibt ziemlich viele Mahler-Interpretationen, bei denen auch die notierten Streicher-Portamenti nicht berücksichtigt oder verschämt kaschiert werden. Wirklich ausgespielt werden z.B. diejenigen im Finale der Neunten bei Michael Gielen und dem SWR-Orchester (Neuaufnahme von 2003, nicht die ältere, bei Intercord erschienene).

    Man höre sich übrigens mal das Vorspiel zum dritten Akt Parsifal in der Karajan-Einspielung (DG) an. Hier gibt's reichlich Streicher-Portamenti, was HvK damals vom Kritiker Alfred Beaujean den Vorwurf eintrug, es handele sich um einen "schmierigen Operettengag" (o.ä.).


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Ich finde die Hammerklavier-Sonate ja kein wirklich gutes Beispiel in dieser Diskussion, dafür ist sie dann doch ein bißl zu extrem. Allerdings heißt sie ja lustigerweise eben Hammerklavier-Sonate. Beethoven könnte sich dabei was gedacht haben. Oder ist das ein völlig blöder Gedanke?
    Es wird ja auch immer wieder gesagt, Beethoven hätte Klavierstücke geschrieben, die den Umfang der Klaviatur eines Fortepianos gesprengt hätten. Ist das wirklich so? (Das ist keine rethorische Frage). Beethovens Broadwood hatte eine Klaviatur von sechs Oktaven, sein Graf (das Piano seiner letzten Jahre) sogar sechs Oktaven nebst Quart. Das ist gerade mal eine halbe Oktave weniger als z.B. ein Steinway von 1882.

    .


    In den c-moll-Variationen gibt es eine Stelle, wo die Unteroktave in der linken Hand auf einmal weggelassen wird. Musikalisch macht das keinen Sinn, ich finde es plausibler, daß Beethovens Klaviatur hier am Ende war. Ich würde sehr dafür plädieren, die fehlenden Noten auf dem modernen Flügel mitzuspielen.

    Übrigens: Debussy kannte das Cembalo, konnte sich also bewußt gegen dieses Instrument entscheiden. Den Steinway-Flügel von 2009 konnte er logischerweise nicht bewußt ablehnen, da der aus seiner Sicht in der Zukunft lag und ihm unbekannt war. Ergo müssen wir spekulieren, ob er ihn gemocht hätte oder nicht.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ich hätte auch gern mehr Portamenti in der HIPpen Romantik und bitte kein non-vibrato.
    Nicht zu viel dirigentische Selbstverwirklichung, in der Klaviersolomusik aber nicht zu wenig Agogik.

    Ob das nun "überraschend neue Hörerfahrungen" sind, ist doch völlig egal, Hauptsache, es wird mal (wieder) so gemacht, wie es die Herren Komponisten sich erwarten hätten können. Die Rezeptionsgeschichte interessiert mich persönlich in dem Zusammenhang wenig (man kann sich ja nicht für alles interessieren).

    Ein HIP-Konsument.

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Was ich meinte: Womöglich läßt sich aus diversen Quellen erschließen, ob und wie damals beispielsweise Streichervibrato eingesetzt wurde und ob etwa Norrington heute sich darauf mit Recht beziehen kann? (Auch wenn ja: Das bedeutet m. E. nicht automatisch, daß vibratofreier Beethoven heute besser und richtiger sein muß!)

    wir hatten das hier schon mal:

    https://www.capriccio-kulturforum.de/auff%C3%BChrun…ichinstrumenten

    Gut: Focus der zitierten Quellen auf dem späten 19./frühen 20.Jh.

    Die einschlägigen Traktate des 18. und frühen 19 Jhs bemängeln Dauervibrato durchweg - mit der erwähnten Ausnahme Geminiani - als Zeichen schlechten Geschmacks. Bedeutet nicht, daß nicht so gespielt wurde (sonst hätte es der Hinweise nicht bedurft), sondern allenfalls, daß es als "unfein" galt

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Dauervibrato


    Wow, toller Thread, auf den Du da verwiesen hast.
    Gibt es aber überhaupt dauervibrierende HIP-Formationen?
    Die Frage ist hier doch eher, ob man überhaupt soll.
    Das einzige, was mich wirlich nervt in Vibrato-Fragen ist ein fettes Dauervibrato, das habe ich vor ein paar Wochen live erlebt, da habe ich bemerkt, dass mir das immer noch tierisch auf den Sack geht (ein Duo von Ravel für Violine und Cello aus den 20er Jahren).

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Gibt es aber überhaupt dauervibrierende HIP-Formationen?
    Die Frage ist hier doch eher, ob man überhaupt soll.
    Das einzige, was mich wirlich nervt in Vibrato-Fragen ist ein fettes Dauervibrato, das habe ich vor ein paar Wochen live erlebt, da habe ich bemerkt, dass mir das immer noch tierisch auf den Sack geht (ein Duo von Ravel für Violine und Cello aus den 20er Jahren).

    eher nicht...oder? ;+)

    Dauervibrato stört mich auch, aber da sind die Übergänge fließend.

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • In der Diskussion Vibrato/Non-Vibrato sollte man auch nicht vergessen, dass in HIP eigentlich vor allem das Orchestervibrato bestritten wird. Das man beim solistischen Spiel hin und wieder Vibrato eingesetzt hat (aber eben nich andauernd) ist klar. Dem Ensembleklang war aber das Vibrato fremd (vor Mahler).

    LG
    Tamás
    :wink:

    "Vor dem Essen, nach dem Essen,

    Biber hören nicht vergessen!"


    Fugato

  • Lieber Tamás,

    das ist eine der Thesen, die man im Zusammenhang mit dem Vibrato häufiger liest. Ich habe es im entsprechenden Vibrato-Thread schon angestoßen, daß eine plausible Quellenangabe hierzu wünschenswert wäre. Soll heißen: woher weiß man das wirklich gesichert? Nicht, daß ich es für unwahr halte, aber man sollte auch die Gefahr nicht unterschätzen, daß sich im HIP-Bereich gewisse "urbane Legenden" als vermeintlich unumstößliche Wahrheiten verbreiten könnten.

    Davon abgesehen finde ich den Punkt von Michael sehr bedenkenswert: was ist eigentlich mit anderen Aspekten des Spielens von Streichinstrumenten wie z. B. den Lagenwechseln? Wann genau kam das Ideal des unmerklichen Lagenwechsels auf? Gibt es hier Unterschiede zwischen Soloinstrument und Orchester? Diese Fragen zu bedenken würde letztlich zu einem "historisch informierten" Klangbild beitragen, so meine ich.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Dem Ensembleklang war aber das Vibrato fremd (vor Mahler).

    Wie Symbol schon anmerkt: Hier fände auch ich eine Quellenangabe hilfreich.

    Und was den Lagenwechsel angeht: Kann mir Streichlaien mal jemand erklären, wie sich das im Klang auswirkt: Woran höre ich, ob ein Geiger/Cellist usw. Lagenwechsel einsetzt? Geht's da lediglich um ein "Verschmieren" der Töne?

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Wie Symbol schon anmerkt: Hier fände auch ich eine Quellenangabe hilfreich.

    Und was den Lagenwechsel angeht: Kann mir Streichlaien mal jemand erklären, wie sich das im Klang auswirkt: Woran höre ich, ob ein Geiger/Cellist usw. Lagenwechsel einsetzt? Geht's da lediglich um ein "Verschmieren" der Töne?

    :wink:


    Lieber Gurnemanz,

    ein Lagenwechsel ist letztlich ein Ändern der Handposition am Griffbrett. So würde man als Geiger z. B. auf der a-Saite mit dem 1. Finger (= Zeigefinger der linken Hand) in der ersten Lage ein b oder h greifen, mit dem 4. Finger (= kleinen Finger der linken Hand) käme man bis zum e. In der zweiten Lage wäre dieser Bereich c bis f, in der dritten d bis g etc. Die höheren Lagen dienen einerseits dazu, höhere Töne spielen zu können (bes. auf der e-Saite), andererseits helfen sie, viele Passagen besser spielbar zu machen (also z. B. auf einer Saite statt wechselnd auf zwei), drittens können sie der Klangverbesserung dienen (vergl. z. B. Beethovens Violinkonzert, 3. Satz: das Thema soll man nur auf der g-Saite durch Lagenwechsel spielen, damit es voller klingt).

    Der Wechsel der Lagen sollte in der heutigen Geigentechnik "geräuschlos", also möglichst unmerklich erfolgen, und darauf wird man im Violinunterricht getrimmt. Michael hingegen hat etwas angemerkt, was sicherlich stimmt, aber selten vergegenwärtigt wird, nämlich daß vor ca. 100 Jahren der merkliche Lagenwechsel mit einem "Anrutschen" der Töne durchaus Mode gewesen zu sein scheint (basierend auf frühen Aufnahmen).

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Danke, lieber Symbol, eine klare, verständliche Erklärung! Wobei sich mir die Frage anschließt: Wie war das um und vor 1800: Lernten die Streicher damals, den Lagenwechsel eher unhörbar vorzunehmen oder im Gegenteil herauszustellen? Oder sowohl als auch, je nachdem, was man ausdrücken wollte? Ich könnte mir vorstellen, daß in alten Violinschulen etwas darüber zu erfahren ist. Und wichtige Rückschlüsse darauf, wie im Sinne historischer Praxis phrasiert werden kann/darf/soll (z. B. im Beethoven-Konzert), wären dann evt. möglich...

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Hallo Gurnemanz,

    Zitat

    Woran höre ich, ob ein Geiger/Cellist usw. Lagenwechsel einsetzt? Geht's da lediglich um ein "Verschmieren" der Töne?


    höre Dir doch bitte einfach mal das Klangbeispiel von 1905 auf der Seite an, welche ich in den thread kopiert habe.
    Oder gleich hier:
    "http://rs827dt.rapidshare.com/files/38873651…ei1905_64kb.mp3"

    Ansonsten:
    Ja, ich hätte gerne einmal verläßliche Quellen, nach denen ein wenigstens gewisses Vibrato in Orchestern unüblich war.

    Auch daß es einzelne Quellen gibt, welche im 18.Jhdt ein Dauervibrato als unfein darstellen, überzeugt mich nicht.

    Und "Dauervibrato" muß ja auch nicht gleich bedeuten, daß alle Töne gleich geknödelt werden.

    Jedenfalls war für Bläser wie für Streicher der Gesang immer der Maßstab, an welchem man sich orientierte.

    Wie kann es nun sein, daß Bläser und Sänger vibrieren dürfen, dies aber bei Streichern "unfein" sein soll?

    Lassen wir bitte mal die Keule mit dem großen Dauervibrato, mir ist schon klar, daß es dies früher so nicht gegeben hat.

    Aber auch ein Jaap ter Linden vibriert des öfteren. Ich habe schon ziemlich oft darauf hingewiesen, daß es auch ein kleines Fingervibrato gab und gibt, es gibt recht viele Schattierungen des Vibratos.
    Und natürlich ist es auch wichtig, gezielt ein Non Vibrato einzusetzen.
    Permanentes Non Vibrato halte ich aber für übertrieben. Grundsätzlich.

    Zitat

    Wie war das um und vor 1800: Lernten die Streicher damals, den Lagenwechsel eher unhörbar vorzunehmen oder im Gegenteil herauszustellen?


    Das wird wohl ziemlich schwierig werden, da es keine Aufnahmen aus dieser Zeit gibt.

    Ich finde es erstaunlich, in welchem Maße im ausgehenden 19.Jhdt hörbar rumgerutscht wurde, das erschließt sich nämlich auch nicht aus den damaligen Geigenschulen, das hört man nur auf diesen sehr alten Aufnahmen. Es muß da ja eine Tradition geben.....Außerdem: Jede Zeit hat Ihren eigenen Sound, die Menschen sprechen anders, die Sprache ändert sich, die Hörgewonheiten ändern sich.
    In unsere Zeit scheinen Teile einer vergangenen Klangästhetik hervorragend hineinzupassen.

    Aber ob dies alle Teile aus einer älteren Zeit sind, das wage ich zu bezweifeln und ich bezweifle auch, ob dies wirklich gewünscht ist.
    Jaulende Lagenwechsel sind immer noch unerwünscht, also kann's nicht so 100% echt sein....zum Glück.

    Im Prinzip finde ich das alles sehr interessant und wichtig, nur habe ich keinen Bock auf gewisse Interpreten, welche diesem auch noch einen moralinsauren gedrechselten Überbau verpassen wollen.

    So etwas geht zu weit, finde ich.


    :wink:

  • Jede Zeit hat Ihren eigenen Sound, die Menschen sprechen anders, die Sprache ändert sich, die Hörgewonheiten ändern sich.

    Leuchtet ein. Danke, lieber Michael! Die "Tramerei" des Hans Kronold habe ich eben gehört: Für meine Ohren grausame Katzenmusik. (Und das war damals so üblich??) Schreibt ein Hörer 2010.

    Nun gut, wir wissen auch nicht, wie um 1800 Schiller auf der Bühne deklamiert wurde. Wirklich schade.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Zitat

    (Und das war damals so üblich??) Schreibt ein Hörer 2010.


    Das war ein grundsolider normaler Cellist der damaligen Zeit.
    Pablo Casals hat damals eingeschlagen wie eine Bombe, wenn man Herrn Kronold hört, dann kann man sich auch denken, warum dies so war.
    Im Gegensatz zu einigen Kollegen bin ich nicht der Meinung, daß der Standard im Cellospiel des 19.Jhdt. besonders groß war.

    Virtuosen vor Casals wie David Popper und viele andere haben Sachen geschrieben, welche spieltechnisch die Grenzen des Cellos ausloteten.
    Zeitgenössischen Kritiken u.a. von Hansslick nach muß sich das wie Katzenmusik angehört haben, Versuche halt, auf dem Cello Dinge zu machen, die bis dahin der Geige vorbehalten waren.

    Heutzutage spielen diese Etuden 12-14 jährige ziemlich perfekt. So haben sich die Zeiten geändert.

    Es gab jedenfalls gute Gründe, warum Cellostars wie Hugo Becker, Julius Klengel, Piatti u.a. plötzlich verblassten, als der junge Casals mit seinem "neuen" moderneren und schnörkelloserem Spiel die Bühne Ende des 19Jhdt. betrat.

    Und Casals ist in vielen seiner Aufnahmen für viele immer noch ein sehr großer Maßstab, DER Cellist schlechthin.
    Und natürlich hat er vibriert........

    Und dann kam E. Feuermann Anfang der 20er Jahre, der im Prinzip bis heute technisch perfekteste Cellist mit völlig schnörkelloser, atemberaubender Technik.

    lg,
    Michael

  • Zu der Vibrato-Thematik habe ich hier noch einen recht interessanten Artikel gefunden, der Norrington (den ich übrigens durchaus schätze) nicht gerade (historisch) unfehlbar aussehen läßt:

    "http://www.theamericanscholar.org/vibrato-wars/"

    Ansonsten hätte ich die Bitte an die Moderation, die Vibrato-bezogenen Beiträge, die nicht unmittelbar mit der Ausgangsfrage des Threads zu tun haben, evtl. in den Vibrato-Thread zu verschieben. Vielen Dank für Eure Mühe!

    LG :wink:

    [Erledigt. Allerdings habe ich nicht verschoben, sondern kopiert, da Vibrato auch hier ein nicht ganz unwichtiges Thema ist.
    :wink:
    Gurnemanz]

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!